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Jennifer Sonntag im Interview für die Sächsische Zeitung Von Christina Wittich im Dez. 2017
Jennifer Sonntag sitzt bereits im Hallenser Café nt. Das Café liegt im Zentrum der Stadt, der Weihnachtsmarkt lockt Besucher. Das Café hatte die Moderatorin ausgesucht, weil es ruhig sei. Ein Summen und Rauschen durchdringt den Raum, Gesprächsfetzen, der Milchschäumer an der Kaffeebar zischt. Jennifer Sonntag hat Probleme, sich zu konzentrieren. Die 38-Jährige ist blind. Für die mdr-Sendung "Selbstbestimmt" befragt sie Prominente. Ihr Partner begleitet sie an diesem Tag. Vor Beginn des Interviews lässt sie sich fotografieren. Jennifer Sonntag ist unsicher. Sie kann nicht entscheiden, welches der Bilder ihren Vorstellungen von sich selbst entspricht. Ihr Partner hilft bei der Abnahme und Entscheidung.
Das Foto sieht aus, als würden Sie auf einen Freier warten, das können wir nicht nehmen.
Naja, es gibt überall Schnittpunkte. Warum soll ein Mensch mit Behinderung nicht auch Erotik leben? Wir haben da einige Projekte gemacht zu diesen Themen. Selbstbestimmung von Frauen mit Behinderung und sexualpädagogische Konzepte haben mich immer schon interessiert.
Erst seitdem Sie selbst erblindet sind oder haben Sie sich da bereits vorher engagiert?
Seit ich selbst erblindet bin. Ich hab mich früher zwar auch gefragt, was für blinde Frauen schön ist oder was blinde Frauen erotisch finden, aber da war ich fast noch ein Teenie. Das war eher eine Neugierde. Ich hab mich gefragt, was kann denn da schön sein, wenn man es gar nicht sieht.
Was finden blinde Frauen erotisch?
Ich habe für ein Buch darüber mehr als 20 Frauen gefragt. Es kommt darauf an, ob jemand geburtsblind ist. Dann sind es eher Verhaltensweisen von Menschen, Stimme, Sprache, Worte, Einstellungen, die die Frauen schön und erotisch finden. Da ist es nicht in erster Linie interessant, was jemand für Kleidung trägt oder wie er sich gebärdet. Unwichtig ist es jedoch nicht. Weil ich mal gesehen habe, kann ich die optischen Attribute weniger gut ausklammern. Ich würde nie einen Menschen betrachten können, ohne mich dafür zu interessieren, wie er aussieht. Da bin ich vom Sehen "versaut".
Wie kann man denn vom Sehen versaut sein?
Ich kann mein Beuteschema nicht vergessen. Ich weiß immer noch, worauf ich früher stand und ich habe immer noch Bilder im Kopf von vielen Dingen oder Männern, die ich mal gesehen habe. Die verblassen auch nicht. Deswegen kann ich mich nicht voll auf die Blindheit einlassen, weil ich immer auch die Optik brauche. Das Sehen hat mich so geprägt, dass es mich versaut hat fürs Blindsein.
In Ihren Interviews lassen Sie die Menschen sich selbst beschreiben. Wie nehmen Sie die Optik wahr? Wie im Film oft dargestellt - tasten Sie die Menschen ab?
Das machen blinde Menschen selten. Ich bin blockiert, wenn jemand mir das anbietet. Nicht einmal in meinem ganz engen Familienkreis mache ich das. Nur bei meinem Partner. Ich mache mir eher ein Bild, indem ich meine Vertrauten frage. Wenn ich fünf Leute frage, habe ich fünf verschiedene Eindrücke und kann mir daraus ein Bild basteln.
Sie haben vor etwa 20 Jahren Ihr Augenlicht verloren. Wodurch?
Durch Retinopathia pigmentosa, eine Erbkrankheit. Meine Augen sind intakt, nur die Netzhaut funktioniert nicht mehr. Man muss sich das wie eine Art Tunnelblick vorstellen, der sich immer mehr verengt. Irgendwann hab ich dann nur noch ein Stück Mund oder ein Stück Auge gesehen. Ich musste ein Gesicht am Ende Stück für Stück abscannen, um mir dann ein ganzes Bild zu bauen.
Die Krankheit hat begonnen bei Ihnen zu einem Zeitpunkt, wo das Leben gerade beginnt: Schule vorbei, Studium, Auszug zu Hause. Wie war das für Sie oder auch für Ihre Familie?
Niemand wusste im Vorfeld, dass ich das bekommen würde, deswegen konnte das auch niemand verhindern. Mitten im Erstellen meiner Diplomarbeit habe ich noch einmal einen richtigen Schub erlitten, bin erblindet. Da passte es gar nicht, aber eigentlich passt es nie. Es gibt nie den perfekten Zeitpunkt, um zu erblinden.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich war für alle stark: für meine Familie, für mich selbst. Es konnte keiner richtig zusammenbrechen, weil ich das Studium schaffen wollte. Ich habe Sozialpädagogik studiert und wollte in die Drogenarbeit gehen. Ich wollte Streetwork mit Drogenkids machen. Das passte dann nicht mehr. Wenn ich meine eigenen Klienten nicht mehr sehe und über meine Junkies stolpere - ich hätte die Leute nicht betreuen können. Ich konnte im Studium noch einmal umschwenken, schon in Richtung Reha-Pädagogik. Es war für mich nie eine Option, zusammenzubrechen.
Sie sehen gar nichts mehr, keine Schatten oder noch ein bisschen Licht?
Ich hab so ein Geflacker vor Augen, das nennt man auch Phantomsehen. Das haben viele spät Erblindete. Das Gehirn kann nicht damit umgehen, dass keine Bilder mehr ankommen und gaukelt sich selbst Bilder vor. Das blitzt und blinkt und dann sehe ich Bilder, einen Baum oder ein Auto. Ich muss dann aufpassen, dass ich dem nicht ausweiche, weil das nur Phantome sind. Außerdem habe ich einen Tinnitus. Darum bin ich in Kulissen wie hier im Café schneller kaputt.
Die Krankheit verlief schleichend. Wie haben Sie sich darauf eingestellt, dass Sie erblinden würden?
Irgendwann funktionierten bestimmte Dinge nicht mehr. Ich konnte nicht mehr lesen, ich sah mich nicht mehr im Spiegel. Ich habe mit riesen-dicken Filzstiften geschrieben oder versucht, mich noch in einem großen Standspiegel zu sehen, bis das auch nicht mehr ging. Im Nachhinein ist mir erst aufgefallen, dass der Spiegel eines Tages im Keller verschwand. Also muss ich ja irgendwann gemerkt haben, mit allem Licht der Welt hilft das auch nichts mehr. Aber es kam nie der Punkt, wo ich gedacht habe, Mist, jetzt geht das auch nicht mehr. Ich hab immer weiter gemacht.
Welche Lösungen haben Sie noch gefunden?
Ich habe angefangen, Bücher zu schreiben darüber, was Blindheit und Erblindung bedeutet. Ich habe mit blinden Menschen gearbeitet und konnte sie oft an dem Punkt abholen, an dem sie gerade durchmachten, was ich bereits hinter mir hatte. Es hat ihnen Kraft gegeben, weil sie gemerkt haben, dass sie nicht allein sind.
Sie sind Ihre Krankheit mit dem Kopf angegangen.
Das ist nicht immer gut, weil sich Körper und Seele merken, was sie durchmachen. Irgendwann braucht ein Mensch eine Phase, wo er einen Bruch erleben und über das, was ihm geschieht, weinen darf. Zu viel Kopf ist auf Dauer nicht zu halten. Ich merke jetzt, dass ich Momente brauche, in denen die Seele zu Wort kommen darf.
Wie hat sich Ihr Alltag verändert während Sie Ihr Augenlicht verloren haben?
Weil ich so viel mit Sehenden zusammen bin, habe ich das sehende Leben mit gelebt. Eine richtige Blindenkultur habe ich nicht entwickelt. Wichtig ist für mich der sprechende Computer, weil ich damit einen Zugang zur Welt habe, zum Internet. Ich nutze ein Diktiergerät als Gedächtnis und Notizzettel. Wichtig war, dass ich den Stock annehme. Das ging am Anfang gar nicht. Da bin ich lieber über Tische und Bänke gegangen, als mit so einem Stock rumzulaufen. Ich habe mir eine Kleiderordnung im Schrank ausgedacht.
Wie sieht die aus?
Vieles hängt, damit ich alles ertasten kann. Erst die Kleider, dann die Röcke, dann die Kostüme. Ich würde nichts finden, wenn sich ein Sehender überlegen würde, ich sortier das mal um. Wenn ich ein bestimmtes Kleid in Schwarz und in Rot habe, dann bekommt das Rote eben einen Knoten im Gürtel, sonst verwechsle ich das.
Wer kauft mit Ihnen ein? Ihr Partner?
Wir sind ein gut eingespieltes Team, weil er einen Blick hat für Dinge, die ich mir nie kaufen würde. Er weiß aber ziemlich genau, was mir gefällt und kann eine Auswahl treffen. Wir sind gern in Städten und schauen uns Dinge an.
Sie schauen sich Dinge an?
Er führt mich irgendwo hin und lässt meine Hände das dann von oben bis unten abtasten. Wir sind auch schon angeranzt worden, dass wir doch bitte irgendwelche Deko nicht anfassen sollen. Ich fasse aber gern Schaufensterpuppen an, weil ich so Kombinationen begreife.
Sie wirken wie jemand, der sich hingezogen fühlt zur Wave-Gothic-Szene. War das schon immer so?
Früher war ich Punk. Für Ästhetik habe ich mich erst interessiert, als ich gar nicht mehr sehen konnte, was zusammen passt. Ich habe begonnen, mehr zu besprechen, zu erfragen und zu hinterfragen.
Wie machen Sie sich dann Ihr eigenes ästhetisches Bild?
Ich taste und höre. Über Gerüche nehme ich sehr viel wahr. Ich bin Duftsammlerin und wenn Menschen oder Situationen irgendwie riechen, dann speichere ich das ab.
Vor kurzem haben Sie die Sängerin Lucy van Org ("Weil ich ein Mädchen bin") interviewt. Wonach roch die?
Lucy riecht mystisch. Sie riecht gut, nach Met und Mittelaltermarkt, weil sie das ja auch so sehr liebt. Dann hat sie diese tollen, langen Haare. Es gibt auch Leute, die riechen für mich nicht gut, obwohl ich die optisch früher sehr spannend fand. In die war ich schwer verliebt und dann habe ich sie getroffen und gerochen und musste feststellen, dass ich denjenigen nasenmäßig gar nicht so gut ertragen würde.
In Ihren Interviews betonen Sie Sinnlichkeit und Emotionalität. Bringt das die Blindheit mit sich, dass sich der Fokus verschiebt oder ist das Ihre Sichtweise?
Manchmal erzählen Leute von ihren eigenen familiären Problemen, wenn sie einem blinden Menschen begegnen. Ich denke dann, bloß weil ich blind bin, heißt das doch nicht, dass ich ein offenes Tor bin für alle Problemfälle. Blinde Menschen empfinden das oft als Belastung. Der Effekt entsteht manchmal: Da ist jemand behindert und darum bestimmt offen für alle anderen sozialen Probleme, die es so gibt auf der Welt. Unabhängig von der Blindheit war ich aber immer schon ein tiefer Taucher. Ich philosophiere gern mit den Leuten. Ich bin ja nicht ohne Grund Sozialpädagogin. Ich bin aber kein besserer Mensch oder verständnisvoller, nur weil ich blind bin. Dazu fällt mir ein Spruch von Fanny van Dannen ein: "Auch lesbische schwarze Behinderte können ätzend sein."
In ihren Büchern sprechen Sie viel von "innerer Beleuchtung" und von "unsichtbaren Spiegeln" - was meinen diese Sprachbilder?
Ich will erblindeten Menschen Mut machen, dass sie die Lichtschalter im Kopf anmachen können. Da gibt es keine Grenzen sondern viele Räume, die ich betreten kann. Jeder schafft sich so seine inneren Welten, unabhängig von Fremdbestimmung. Wie ich Dinge sehe oder wahrnehme, liegt an mir. Für mich ist Sehen eine Frage der inneren Beleuchtung. Die Spiegel wiederum sind entstanden aus dem Schmerz, den viele meiner erblindeten Rehabilitanden erlebt haben: Sie sehen sich nicht mehr und verlieren so ihre Identität. Wir haben viel daran gearbeitet, sich ein inneres Spiegelbild zu erschaffen. Wer bin ich? Wie wirke ich? Was macht mich aus? Was will ich nicht mehr? Wen brauche ich? Wen brauche ich nicht? Da sind innere Spiegel. Die Fragen kann mir mein äußeres Spiegelbild nicht beantworten. Viele Menschen schauen nur in ihre äußeren Spiegel und wissen nicht, wie sie klingen, welche Einstellungen sie haben, weswegen sie wie handeln oder was sie in der Welt bewirken.
Heißt das, Blinde haben ein tieferes Innenleben?
Wir sind gezwungen, uns mehr mit unseren Innenräumen zu beschäftigen. Das kann ein Vorteil sein, weil wir uns bestimmte Fragen stellen, die sich ein Sehender nicht stellen muss. Da verändern Dinge sich gravierend. Es stellen sich krasse Lebensfragen und Perspektiven ändern sich.
Wie sind Sie zum Fernsehen gekommen?
Das ist eine total unspannende Geschichte. In der Einrichtung, in der ich als Sozialpädagogin gearbeitet habe, hatte ich mein Büro. Das Kamerateam wollte ursprünglich blinde Menschen für eine Langzeitdokumentation begleiten. Dann haben sie aber Gefallen an mir gefunden und mir ein Konzept vorgeschlagen: Ich sollte Prominente treffen und aus Sicht einer Blinden befragen.
Sie schreiben außerdem Bücher. Woran arbeiten Sie gerade?
Gerade habe ich ein Buch zum Verlag gegeben: "Der Geschmack von Lippenrot", ein Stilratgeber für blinde Frauen. Es geht um Schminktechniken, darum, herauszufinden, was für ein Typ ich bin, wenn ich mich selbst gar nicht sehe. Es geht aber auch darum, wie ich mich selbst stärken kann, mich selbst behaupten, um nicht in die Opferrolle zu geraten. Als Frau mit Behinderung bin ich ja schnell in diesem Klischee drin.
Wecken Sie denn so häufig den Beschützerinstinkt bei anderen?
Ich habe eher das Problem, dass ich nicht ausdrücken kann, wenn ich Hilfe brauche. Das führt dann eher zur Überforderung. Mein Buch soll aber auch sehende Frauen ansprechen, weil jeder seine blinden Flecken und Konflikte hat.
Was nervt Sie am meisten an Sehenden?
Mich nervt, wenn Menschen mit Behinderung ausgeschlossen werden, wenn sie nicht dabei sein dürfen, weil das System das einfach nicht zulässt, dass wir mitleben und mitmachen dürfen. Ich bin Tinitus-Patientin und ich wurde in verschiedenen Tinitus-Zentren nicht aufgenommen, weil sie kein Therapieprogramm hatten, das zugeschnitten war auf blinde Menschen. Als Inklusionsbotschafterin bin ich oft mit Dingen konfrontiert, bei denen ich merke, dass man Menschen mit Behinderung gar nicht erst reinlässt.
Auf welchen Gebieten?
In der medizinischen Versorgung sind viele Arten von Therapien einfach für Augenmenschen gemacht. Oft werden Hilfsmittel nicht bewilligt, weil jemand sagt, das ist nicht unbedingt nötig. Während des Studiums hat man mir gesagt, ich sei der Lautsprache mächtig und nicht auf Schriftsprache angewiesen. Deswegen habe ich keine Punktschriftmaschine bewilligt bekommen. Ich sollte mir praktisch merken, was ich in den Vorlesungen höre. Solche Geschichten erzählen mir Studenten heute noch. Auf meinen Sprachlaptop habe ich vier Monate lang gewartet. Das klingt erstmal nicht viel, aber ich konnte in den vier Monaten nichts machen. Ich bin journalistisch tätig, habe nebenbei noch ein Literaturstudium absolviert, musste Vorträge vorbereiten und die Behörde hat sich einfach nicht gemeldet. Wenn ich dann angerufen habe, haben sie mir gesagt: Notieren Sie sich mal diese oder jene Nummer. Und ich hab gesagt: Ich kann mir im Moment nichts notieren. Ich kann nichts lesen, nichts schreiben, ich hab keine Hilfsmittel. Das sind Alltagshürden, bei denen ich merke, wie abhängig ich von sowas bin. Wenn ich es habe, komme ich mir total frei vor. Wenn ich es dann aber nicht habe, hängt ganz viel an so einem blöden sprechenden Laptop.
Wünschen Sie sich Ihr Augenlicht zurück?
Ja, weil ich einmal sehen konnte. Vielen mit angeborener Behinderung geht das aber nicht zwangsläufig auch so.
Was würden Sie sich wünschen in einer idealen Welt?
Es wäre schön, wenn dieses Gefühl verschwinden würde, Mensch zweiter Klasse zu sein. Wenn ich wüsste, es entsteht nicht dieser komische Beigeschmack, wenn ich den Satz sage: Ich bin blind, ist das ein Problem? Mit Behinderung befasst man sich nicht so gern. Behinderung hat viel mit der Idee von Vergänglichkeit zu tun, hat viel mit Aufwand zu tun, denkt man. Dabei interessieren mich die Potenziale, die jeder Mensch mitbringt. Die meisten Behinderungen sind erworben. Die Menschen denken immer, es geht uns nichts an, aber es sind nur vier Prozent aller Behinderungen angeboren. Der Rest ist im Lauf des Lebens entstanden. Die kann niemand verhindern, weil niemand weiß, wen es - durch Unfälle, durch Erkrankungen - einmal treffen wird.
Wie hat sich Ihre Einstellung zum Leben verändert, seit Sie blind sind?
Ich plane nicht mehr. So viele Lebenseinschnitte und Wegänderungen sind bei mir im Lauf des Lebens eingetreten, dass ich Menschen nicht mehr verstehe, die sich so festochsen an ihrem Kleinklein. Ich habe so viele Menschen scheitern sehen an ihren Plänen. Sobald sich daran eine Schraube verstellt, funktioniert das alles gar nicht mehr. Man muss nicht jeden Tag naiv ins Leben taumeln, aber feste Pläne zu machen halte ich für unsinnig.
Das Interview führte Christina Wittich
Zurück zum Seitenanfang PresseREHACARE Magazin 19.08.2015
"Lebensgeschichten mit Laufmaschen" mag sie besonders. Und Sid Vicious ist heute kein Poster mehr an ihrer Wand, war aber vielleicht mal eine Sprosse auf ihrer Erkenntnisleiter. Als Autorin und Zeichnerin hat Jennifer Sonntag solche und noch viel mehr Bilder im Kopf, die ihr auch mal helfen, wenn sie nervös ist. Ein paar davon teilt sie mit uns auf REHACARE.de!
Name: Jennifer Sonntag Alter: 36 Wohnort: Halle an der Saale Beruf: Diplom Sozialpädagogin, Autorin, Moderatorin Behinderung: Erblindet an Retinitis Pigmentosa (RP), fachspezifische Buchveröffentlichungen "Verführung zu einem Blind Date" und "Hinter Aphrodites Augen", Moderation des Promitalks "SonntagsFragen" der Sendung "Selbstbestimmt! - Leben mit Behinderung" des MDR-Fernsehens
Wann haben Sie das letzte Mal herzhaft gelacht und worüber?
Jennifer Sonntag: Gestern über mich selbst, weil ich in der Eile die Bodylotion mit der Haarwäsche verwechselt habe. Hektik und Blindheit sind nicht die optimalen Partner…
Was wollten Sie schon immer einmal machen und warum haben Sie sich bisher nicht getraut?
Jennifer Sonntag: Ehrlich gesagt, sind das eher so kleine romantische Träume, alles was nichts mit Öffentlichkeitsarbeit und Rampenlicht zu tun hat. Früher habe ich immer gedacht, in meinem Leben fühlt sich irgendwas besonders spannend an, wenn man modelt, Bücher schreibt, im Fernsehen auftaucht oder vor vielen Menschen spricht. Aber das sind für mich persönlich nicht die Vehikel zum Glück.
Für mich als Blinde ist es schon manchmal eher ein völlig verrücktes Wagnis, mir ganz normale Dinge zu wünschen und mich zu trauen, denn sie werden immer zu etwas Abgefahrenem, da man ja stets kreative Lösungen finden muss, gibt es doch genug Barrieren. Und einfachste Dinge fühlen sich schon manchmal wie ein ziemlich extravagantes Hobby an. Sportliche Herausforderungen eben. Ich möchte zum Beispiel gerne einen eigenen, so richtig verwunschenen Hexenkräutergarten haben, mit windschiefem Häuschen und allem was ich brauche, um meine "dunklen Leidenschaften" zu leben. Als Blinde einen Garten zu unterhalten, ist jedoch nicht einfach. Da ist es in meinem Fall vergleichsweise leichter, Bücher zu schreiben oder Prominente zu interviewen. Noch so eine überwältigende Sache ist für mich das Radfahren, weil ich es eben nicht selbstständig kann. Deshalb sind die Ausflüge mit meinem sehenden Partner und unserem Paralleltandem für mich ein ganz neues Stück Lebensqualität und Vertrauen Lernen – das kann ich nämlich als Kontrollfreak nicht sehr gut.
Außerdem setzen wir aktuell und hoffentlich auch zukünftig gemeinsam mit anderen Künstlern die erotischen Texte aus unserem Buch "Liebe mit Laufmaschen" in sinnliche Kohlezeichnungen um und das ist auch nicht das unkomplizierteste Hobby für eine Blinde. An Zeichenutensilien habe ich mich seit meiner Erblindung nicht mehr herangetraut, da ich dadurch zu schmerzlich an den Sehverlust erinnert wurde. Nun versuche ich das Thema "lustvoll" anzugehen und mit verschiedenen Techniken zu experimentieren.
Welcher Mensch hat Sie bisher am meisten beeinflusst? Und warum?
Jennifer Sonntag: Da ich mich ja ständig entwickle, sind das immer andere Menschen. Musik hat für mich immer eine große Rolle gespielt und die damit verbundenen Helden. Von der Punk- zur Gothic-Szene bin ich da über so Einiges gestolpert. Gut, dass ich mittlerweile aus Sid Vicious rausgewachsen bin. Personen, die ich zu einer bestimmten Zeit angehimmelt habe, weil sie für diese Lebensphase genau die richtige Antwort auf meine Fragen waren, konnten sicher ein entscheidendes Trittbrett auf meiner Erkenntnisleiter sein, hängen aber heute nicht mehr als Poster an meiner Wand.
Oft sind es Menschen, die Bücher geschrieben haben, oder über die Bücher geschrieben worden, welche mich inspirieren oder beeinflussen. Meist Frauen, die unkonventionell sind oder waren, vielleicht auch immer ein bisschen abgründig, symbolisch gesprochen, mit Laufmaschen in den Lebensgeschichten, weil mich das Perfekte nie reizte. Beeinflussung ist dabei aber auch immer ein aktiver Prozess, da ich selber ja die Menschen auswähle, die ich für meine "inneren Lichtschalter" relevant finde. Im künstlerischen Bereich sind es zum Beispiel Brigitte Reimann, Anais Nin und Frida Kahlo, die in mir Spuren hinterlassen haben. Im wahren Leben halte ich Ausschau nach Menschen, die irgendwie schräg, irgendwie anders sind und Bedeutendes zu sagen haben. Familiär betrachtet waren es meine Eltern und meine Oma, die mein Verständnis von Geborgenheit, Vertrauen und Zuverlässigkeit stark prägten.
Ein Mensch, den ich kommunikativ, kreativ und emotional sehr schätze, ist mein Partner. Auch wenn leidenschaftliche Beziehungen bekanntlich auch nicht selten Leiden schaffen. Aber ich finde nichts unbeeindruckender als langweilige Menschen, deshalb ist das wohl der Preis, den man zahlen muss.
Sie haben die Chance Bundesbehindertenbeauftragte/r zu werden. Was wäre Ihre erste Amtshandlung?
Jennifer Sonntag: Eine Weinverkostung in der Unsicht-Bar, mit behinderten Menschen aller Couleur, um ungehemmt und ganz unpolitisch mit ihnen über das zu reden, was sie wirklich wollen.
Nein, ganz im Ernst, da würden sehr anspruchsvolle Aufgaben auf mich warten und ich bräuchte erstmal einen Überblick und eine ordentliche Einarbeitung. Und dann wäre ich schon mitten drin in der Recherche und Detailarbeit, weil ich Oberflächenpolitik unbedingt vermeiden wollen würde. Das kann viel Geld kosten und sehr sinnlos sein. Vermutlich würden mir die Ohren sausen, weil mir meine Sprachausgabe zunächst eine riesige Agenda vorlesen müsste und ich mir viel zu viel vornehmen würde. Vielleicht sollte die erste Amtshandlung also auch das Aufbrühen eines Beruhigungstees sein? Ich habe großen Respekt vor diesem Job! Verena, du machst das super!
Ihr Leben wird verfilmt: Wer würde Sie verkörpern und warum gerade diese Person?
Jennifer Sonntag: Ich mag Echtheit und keine filmischen Überhöhungen. Auch wenn ich ein echt kamerascheues Wesen bin, würde ich meinen Hintern da glaub ich selbst herhalten, es sei denn, Mark Benecke stellt sich zur Verfügung…
Ich wäre gern einmal …
Jennifer Sonntag: Wenn es darum geht, eine bestimmte Person sein zu wollen, dann bin ich oft schon total zufrieden damit, ich selbst zu sein. Und das soll jetzt auf keinen Fall eingebildet, sondern eher selbstkritisch klingen. So viele Menschen träumen sich in den Körper oder den Kopf eines anderen, und haben noch nicht einmal ihren eigenen verstanden. Das ist so ein wenig wie mit dem Wunsch, fremde Planeten bevölkern zu wollen, und wir haben noch nicht einmal unseren eigenen im Griff. Ich bin dafür, dass wir uns schätzen, hegen und pflegen und auch unsere vermeintlichen Unzulänglichkeiten liebevoll annehmen, sonst gehen wir wirklich am Leben vorbei.
Wir haben ja das große Glück, und das habe ich als Blinde gelernt, dass wir vor unserem inneren Spiegel alles sein können. Das muss ja nicht gleich bedeuten, dass wir einen Realitätsverlust erleiden und ernsthaft daran glauben, wir seien ein Anderer. Imaginationstechniken sollen ja in der Psychologie ganz bewusst solche inneren Bilder hervorrufen, damit wir uns in bestimmten Situationen sicherer fühlen. Es bleibt mein kleines Geheimnis, wer ich im Inneren bin, wenn ich vor Vorträgen sehr aufgeregt bin, sonst nimmt mich keiner mehr ernst. Oft würde es mir helfen, in die Rolle von jemandem zu schlüpfen, der über sich selbst und die Welt lachen kann, das müsste einer ohne Grübelschleifen sein, vielleicht Spongebob Schwammkopf. Aber dieses innere Bild ist dann doch etwas zu unsexy für meinen Geschmack.
Auf welche Fragen wünschen Sie sich eine Antwort?
Jennifer Sonntag: Was kann ich gegen Dummheit und Ungerechtigkeit tun? Warum wissen wir so viel und doch so wenig? Warum schauen wir nicht öfter in den inneren Spiegel? Warum übernehmen wir so wenig Verantwortung für unsere Bildung? Warum sind wir so ignorant? Warum ist es so schwer, das Schöne zu genießen und das Schlechte beim Kragen zu packen? Warum all die Steine auf dem Weg und wohin führt der überhaupt? Warum tut das alles manchmal so wahnsinnig gut und manchmal so wahnsinnig weh?
Was ich noch sagen wollte ...
Jennifer Sonntag: Unbedingt mal auf (www.blindverstehen.de) und (www.Liebe-mit-Laufmaschen.de) vorbeischauen! Wir "sehen" uns!
Zurück zum Seitenanfang PresseMitteldeutsche Zeitung 03.05.2015
HALLE (SAALE). Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch veröffentlichen ihre Texte in dem Band "Liebe mit Laufmaschen". Die sinnlich-skurrilen Kurzgeschichten sind in den letzten Jahren entstanden.
Wie macht sie das bloß? Seit Jahren gehört sie zu den halleschen Buch-Autoren mit der höchsten Veröffentlichungsfrequenz. Und das, obwohl ihr das Schreiben von allen hiesigen Literaten - rein technisch gesehen - doch am allerschwersten fallen müsste. Aber ihr Handicap - sie ist blind - hindert Jennifer Sonntag keineswegs daran, wunderbare, sinnliche und wie man so sagt gewagte Texte zu schreiben. Und sie dann in von ihr selbst erfundenen "Dunkellesungen" eindrucksvoll zu präsentieren. Und darüber hinaus auch in einem eigenen TV-Format als Talkerin oder besser Interviewerin aufzutreten und damit im mitteldeutschen Raum etwas für Kultur einerseits und anderseits auch etwas für die immer bessere Integration von Menschen mit Handicap zu tun.
Die 36-jährige Autorin hat mit ihren Büchern wie "Verführung zu einem Blind Date" und der von ihr initiierten und betreuten Anthologie "Hinter Aphrodites Augen" von sich reden gemacht - als Autorin, die auch (aber weitem nicht nur) ihre subjektiven Erfahrungen mit dem Blind-Sein beschreibt und Leser dafür sensibilisiert.
Und auch ihr neues Buch hat wieder einen ähnlich zugkräftigen Titel. "Liebe mit Laufmaschen" heißt es - und erscheint gerade (mit CD) in dem Berliner Verlag "Edition Periplaneta". Jennifer Sonntag hat darin als eine (Originalton) "begeisterte Erotik-Schreibende" etliche ihrer sinnlich-skurrilen Kurzgeschichten der letzten Jahre gesammelt - und lässt sie nun in "Autoren-Duetten" auf ganz ähnlich gelagerte Texte von Dirk Rotzsch, ihrem Mit-Autor, treffen. (mz)
Jennifer Sonntag, Dirk Rotzsch, "Liebe mit Laufmaschen", Edition Periplaneta - kostet 13,90 Euro.
Zurück zum Seitenanfang PresseLeipziger Volkszeitung 29. Mai 2015
Von Mathias Wöbking
Es gibt da diesen Satz in einer der Kurzgeschichten, Dirk Rotzsch hat ihn aufgeschrieben: "Wir leben zwar unter demselben Himmel, aber wir haben nicht den gleichen Horizont, der wird bestimmt durch die Bildschirmdiagonale." Es ist ein kluger und trauriger Satz über Menschen, die ihr Leben vor dem Fernsehgerät verschwenden.
Lässt man den Teil mit der Diagonalen weg, beschreibt der Satz aber auch ziemlich genau das außergewöhnliche "Literatur- und Kunstprojekt", dem er entstammt. Er drückt dann auf einmal aus, dass sich unterschiedliche Horizonte äußerst ereichernd auswirken können. Rotzsch hat den Geschichtenband "Liebe mit Laufmaschen", zu dem eine CD und eine barrierefreie Internetseite gehören, zusammen mit Jennifer Sonntag konzipiert und verwirklicht. Die heute 35-Jährige hat mit 20 aufgrund einer Augenkrankheit ihre Sehkraft verloren – und ihren damaligen Horizont.
Mittlerweile schafft sie es in ihren "SonntagsFragen", einer monatlichen MDR-Fernsehsendung, dass auch die Prominenten, die sie interviewt, ihre Horizonte gelegentlich ein wenig verschieben. Über einen eingeschworenen Fankreis verfügt die Sozialpädagogin aus Halle darüber hinaus dank ihrer erotischen Erzählungen nicht zuletzt in Leipzig. Dass sich Sonntag in der Gothic-Szene heimisch fühlt, schadet dabei nicht in der Stadt, die nicht nur zu Pfingsten dunkel schimmert.
Auch Rotzsch, 45 und Küchenleiter in Halle, genießt als einstiger Keyboarder der Leipziger Bands Lament und Raum41 (nicht nur) in der Düster-Nische einen hervorragenden Ruf. Dass er darüber hinaus Prosa schreiben kann, zeigte er 2006 mit seiner Novelle "Michel – Eine Generation frisst ihre Kinder". Die erotischen Geschichten, der er zum Gemeinschaftsprojekt "Liebe mit Laufmaschen" beiträgt, entfalten nun eine leicht zynische Schwermut. Eine Witwe entsorgt ihre selbstgedrehten Pornos, damit niemand die Filmchen findet, nachdem sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Ein Einsamer will seine Todessehnsucht stillen, indem er sich absichtlich mit dem HI-Virus ansteckt. Ein Callboy blickt mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu – und dann doch unerwarteter Begierde – auf seine Kundinnen.
Es ist eher die Last mit der Lust, die Rotzsch interessiert, Sonntags Texte hingegen atmen eine spitzzüngige Frivolität. Packend und im besten Sinne schamlos erzählt sie beispielsweise von einer frustrierten Ehefrau auf Freiersfüßen oder einer Biedermeier-Oma mit einer abgründigen Vorliebe für Hintern. Sie schlüpft ins Gehirn einer Lehrerin, die sich auf Sex mit dem Mann ihrer Rektorin einlässt, und wird Zeugin einer ausschweifenden, bizarren Backstage-Party eines abgehalfterten Rockstars.
Auch die Titelgeschichte stammt aus ihrer Feder, und es leuchtet ein, warum die Erzählung eine Sonderstellung erhält. Eine Laufmasche im Nylon bricht die perfektion durch einen Makel, der gleichsam Begehren weckt. Sonntag spielt in dem Text mit ihrem realen Dasein als MDRModeratorin. Die Vermutung, sie berichte von ihrem Berufsalltag, scheint zunächst naheliegend. Bis klar wird, dass ihr die Redaktion als Interviewgast diesmal die personifizierte Liebe vorsetzt. Ihre Liebe, um genau zu sein, eine verruchte Version ihrer selbst. "Sie sah mich an, als wäre ich die Frage auf all ihre Antworten."
Als Gesamtkunstwerk ist die "Liebe mit Laufmaschen", was auch Sonntags sonntäglicher Arbeitgeber sein will: trimedial. Die beigelegte Hörbuch-CD enthält immerhin sieben der gut 20 Kurzgeschichten des Bandes. Einen tatsächlich neuen Horizont eröffnet darüber hinaus die "Blind-Galerie" auf der Internetseite des Projekts. Mit Kreide, Kohle und Fasermalern haben Sonntag und Rotzsch die inneren Bilder, die die Geschichten in ihnen hervorrufen, gemeinsam auf Papier gebracht. Detaillierte – und sinnliche – Beschreibungen sollen die Zeichnungen auch für Blinde erlebbar machen.
Zurück zum Seitenanfang PresseVon SUSANNE KRETSCHMANN
Sehen und gesehen werden. Bis zu 90 Prozent unserer Wahrnehmung funktioniert visuell. Deswegen heißt es zu Recht: Kleider machen Leute.
Doch welchen Zugang haben blinde Menschen zu der bunten Fashion-Welt? BILD sprach mit der blinden Buchautorin und Moderatorin Jennifer Sonntag (34, "SonntagsFragen", MDR) über Mode und Ausstrahlung.
Bei Sonntag setzte die Erblindung im Alter von 20 Jahren aufgrund einer Augenkrankheit ein. Eine schwere Zeit: "Man verliert sein Spiegelbild und damit auch sein Selbstbild". Heute greift sie noch auf Erinnerungen von der Zeit vor ihrem Sehverlust zurück, orientiert sich daran, wie sie sich selbst im Spiegel sah und wie sie auf Fotos wirkte.
Doch das Fotoprinzip funktioniert nur bedingt, denn es handelt sich um Bilder aus der Vergangenheit – und um Kleidungsstücke, die längst passe sind ...
Ihre Outfits lässt sie sich von anderen beschreiben
An ihrem extravaganten Stil hat sich durch die Erblindung nichts verändert. "Ich lege Wert auf Kontrolle und Selbstbestimmtheit und es gibt Bereiche, in denen lasse ich mich ungern beraten", sagt sie. Doch im Bereich Mode ist das unumgänglich.
Mit Bekleidung ist sich Jennifer Sonntag relativ sicher. "Aber natürlich muss ich mir die Augen der Sehenden leihen, um die passende Mode für mich zu finden, sonst würde meine Vorstellung Fantasie bleiben", gibt sie zu.
Ihre Berater sind Vertrauenspersonen, denen sie ihre Outfits vorführt. Aber: "Was Männer als betont weiblich beschreiben, würde die beste Freundin vielleicht schon nicht mehr empfehlen." Um sich ein eigenes Urteil bilden zu können, braucht sie deshalb verschiedene Beschreibungen.
Sie selbst kann nicht sehen – ist aber absolut sehenswert! Jennifer Sonntag ist es wichtig, ihren eigenen Stil zu entwickeln
Die Augen der Sehenden sind auch dann wichtig, wenn es darum geht, den Stil anderer zu beschreiben, der für Jennifer Sonntag zur Inspirationsquelle werden kann. "Ich muss Dinge besprechen, denn mit Worten entstehen bei mir Bilder", sagt sie.
Heute ist Sonntag von Personen wie Burlesque-Tänzerin Dita Von Teese (41) und Schauspielerin Marlene Dietrich († 90) fasziniert. "Aber als ich noch sehen konnte, habe ich mich für Marlene Dietrich zum Beispiel gar nicht interessiert. Zu dieser Zeit war ich Punkerin."
Jennifer Sonntag informiert sich im Internet über Mode und verfolgt Trendsendungen im Radio und Fernsehen.
Auf diese Weise ist sie auf "Die Zwillingsnadeln" gestoßen. Das Label ist bekannt für seine extravaganten Hutkreationen. Ihren Hut gab sie bei Designerin Claudia Köcher telefonisch in Auftrag.
"Mein erster Eindruck war, dass sich Frau Sonntag ihre Mode sehr bewusst aussucht", sagte die Designerin BILD. "Also habe ich ihr die Materialien sehr genau beschrieben. Wie sich die Stoffe anfühlen, wie sie fallen und welche Eigenschaften sie haben."
Bei ihren Hüten handle es sich um Luxusprodukte, jeder Kunde wird gleich gut behandelt. Die Anfertigung für Jennifer Sonntag war trotzdem eine Herausforderung: "Ich wollte, dass alles perfekt ist, also habe ich immer wieder die Augen zu gemacht und den Hut akribisch abgefühlt, ob es irgendwo Unebenheiten gibt, die sie stören könnten."
Der große Unterschied zu ihren Arbeiten für sehende Frauen? "Als Sehender übersieht man vielleicht etwas. Eine blinde Frau ertastet sich ihr Bild", sagt Claudia Köcher. "Das ist eine völlig andere Herangehensweise."
Von Extravaganz war die Rede in einer Trendsendung, die über die Kreationen von Claudia Köcher berichtete. Das hat Jennifer Sonntag neugierig gemacht.
Stilistisch orientiert sich Jennifer Sonntag gern an der Mode der 50er-Jahre, lässt sich aber auch von der Gothic-Szene beeinflussen. Ihre Outfits sind betont weiblich, elegant und vor allem betont schwarz.
Trotzdem steht die Praktikabilität an erster Stelle. "An filigranen Details oder mit empfindlichen Stoffen wie Spitze könnte ich irgendwo hängen bleiben", erklärt die blinde Frau.
"Auch auf die Schuhsohle muss Verlass sein, denn sie liefert die Information über den Untergrund. Das funktioniert mit hohen Schuhen nicht." Ohne die nötige Bodenhaftung könnte Sonntag zum Beispiel eine Stufe nicht richtig deuten und käme ins Straucheln. Deshalb gehen High Heels bei ihr nur im Sitzen.
Praktisch und vor allem ordentlich geht es in ihren zwei Kleiderschränken zu. "Ein Stapel erschließt sich nicht. Was hängt, hat Gestalt." Kombinationen, die zusammenpassen, hängen deshalb auf einem Bügel.
Auf der Stange gibt es eine klare Ordnung: Links hängen die Kleider, in der Mitte die Röcke (erst kurz, dann lang) und rechts die Oberteile, unten drunter die Korsagen. Für Schmuck und Accessoires gibt es ein Fächersystem.
Jennifer Sonntags tägliches Styling unterscheidet sich nicht von dem sehender Frauen. Möchte sie kühl wirken, greift sie zum Kostüm und zu glatten Materialien, ist ihr nach rockig, wird die Lederjacke übergeworfen.
Ihre Mitmenschen nimmt Jennifer Sonntag über Materialien, Duft und Stimme wahr. Mode tritt da etwas in den Hintergrund, diese muss sie sich beschreiben lassen oder ertasten.
Sonntag: "Ausstrahlung hat für mich in erster Linie mit Intelligenz und Sozialkompetenz zu tun."
Sonntag führt ein Leben ohne Spiegelbild. Wie geht sie mit persönlichen Veränderungen um?
Sonntag: "Es ist schwer, sich aus sich selbst heraus zu erfinden", sagt sie. Ihre Lösung? "Man muss an sich glauben, an seine Haltung und an seine Ausstrahlung."
Zurück zum Seitenanfang PressePeriplaneta - Verlag und Mediengruppe April 2015
Interview mit Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch.
2006 erschien in einem kleinen Verlag in Leipzig die atemberaubende, autobiografische Geschichte "Märchenland im Müll” von Constanze S., die 2009 auch als Hörbuch im Periplaneta Verlag aufgenommen und veröffentlicht wurde. Hinter dem Pseudonym Constanze S. verbarg sich damals Jennifer Sonntag, die in diesem Buch auch ihre schleichende Erblindung aufarbeitete.
Mittlerweile ist Jennifer Sonntag diplomierte Sozialpädagogin und Moderatorin beim MDR. Dort interviewt sie in ihrer Sendung "SonntagsFragen" regelmäßig prominente Gäste. Bei uns sitzt sie heute zusammen mit Dirk Rotzsch auf dem Sofa und zur Abwechslung stellen wir die Fragen. Anlass ist ihr gemeinsamer Kurzgeschichtenband "Liebe mit Laufmaschen".
Auch wenn es bereits spezielle Strumpfhosen für Männer gibt, gehe ich davon aus, dass eher Jennifer dieses Problem kennt: Laufmaschen. Was ist dein bestes Mittel dagegen?
Jennifer Sonntag: Sie laufen und Geschichten erzählen lassen … Aber diesen schöpferischen Ansatz lässt mein Berufsalltag leider nicht zu und ich habe immer eine Packung Ersatzstrümpfe dabei. Außerdem habe ich einen Strumpfhosenanbieter entdeckt, der den absoluten Laufmaschen-Stop verspricht. Was mein bestes Mittel zum Erzeugen von Laufmaschen ist – da hätte ich mehr zu erzählen …
Jetzt bin ich natürlich neugierig.
Jennifer Sonntag: Was Laufmaschen erzeugt? Das Leben mit all seinen Reibungspunkten, ein Spaziergang durch die Dornenhecke und natürlich erotische Begegnungen, wobei diese drei Dinge im übertragenen Sinne eng miteinander verbunden sind. Meine leidenschaftlichsten Liebhaber in dieser Hinsicht sind allerdings eher Rockkonzerte gewesen. Dort habe ich mir stets die heftigsten Laufmaschen gezogen.
Was genau symbolisiert die Laufmasche für dich?
Jennifer Sonntag: Sie ist ein inspirierender Fehler. Der unerwartete Riss macht mit seiner Metaphorik eine Person oder Situation erst erzählenswert. Ich interessiere mich schon immer für die Laufmaschen in den Lebensgeschichten der Menschen, die Widerhaken, an denen sie sich ziehen, und die erotischen Fäden, die sich daraus entspinnen.
Wie definiert ihr Erotik?
Dirk Rotzsch: Erotik ist alles, was man nicht sieht.
Jennifer Sonntag: Wenn man davon ausgeht, dann ist alles um mich Erotik. Das ist natürlich nur ein Spaß, aber manchmal ist da was dran. Durch das Nichtsehen lasse ich mich sehr stark auf Fantasie und Sinnlichkeit ein, da die echten Bilder fehlen. Erotisch sind für mich unsichtbare Schwingungen, das kann der Umgang mit Stimme und Sprache sein, ein Hauch, eine Betonung, aber auch Intelligenz, ein reizvolles Agieren, ein Geruch, eine Berührung, ein Geschmack, Herzenswärme, Taktgefühl.
Wie wichtig war Sigmund Freud für die Sensibilisierung des Themas Sexualität?
Dirk Rotzsch: Ich denke, er hat seinen Teil dazu beigetragen, die Folgen der Christianisierung und somit den Einfluss der Kirche auf die Sexualmoral zu verringern. Ganz ist das nicht gelungen, wenn man bedenkt, was heute als verwegen angesehen wird.
Jennifer Sonntag: Na, den Penisneid lasse ich mir nicht gefallen. Freuds Auswirkungen auf die damalige Kunst- und Literaturszene öffnen mir noch heute unzählige Türen und ich habe den Eindruck, mit der frühen erotischen Literatur verwandter zu sein als mit heutigen Erotik-Bestsellern. Momentan bin ich sehr inspiriert von den stark psychoanalytisch geprägten erotischen Texten und den Tagebüchern der Anaïs Nin.
Der derzeitige Erotik-Besteller ist die Trilogie "Shades of Grey”. Inwiefern haben speziell diese Bücher den Markt für erotische Literatur geprägt?
Jennifer Sonntag: Ich habe ihm versprochen, keine Shades of Grey-Fragen zu beantworten. Ich kann hier leider keine Ausnahme machen. Mir sind die Hände gebunden …
Dirk Rotzsch: In allererster Linie hat es den allgemeinen Erotik-Markt geprägt, denn zum Beispiel gab es bei Rossmann auf einmal After-Spanking Creme zu kaufen. Aber eigentlich haben die Bücher ein Schlaglicht auf das Sexleben der Gesellschaft geworfen: Wenn das schon verrucht ist, wie sieht dann das durchschnittliche Sexleben der Deutschen aus? Da erhält das Wort Beischlaf eine ganz neue, eher ernüchternde Bedeutung.
Die Gesellschaft scheint immer offener im Umgang mit Sexualität und Erotik zu werden. Trotzdem werden Bilder oder auch Buchcover von Webseiten entfernt, auf denen beispielsweise Brustwarzen zu sehen sind. Wie erklärt ihr euch diese Zensur in den Medien?
Jennifer Sonntag: Mich darf man das nicht fragen. Das ist so ein Phänomen der sichtbaren Welt. Ich erlebe Worte, Texte, Literatur oft so intensiv erotisch und niemand stößt sich daran. Die gleichen Worte in Bilder gefasst, lösen einen Skandal aus. Manchmal erlebe ich es auch umgekehrt. Ein Bild oder eine erotische Darstellung in einer Ausstellung wird von allen Besuchern ganz selbstverständlich betrachtet. Bitte ich aber um eine Bildbeschreibung, geniert man sich, dann sind die Worte die Grenzüberschreitung.
Dirk Rotzsch: Ich denke, wir haben es hier mit verschiedenen Phänomenen zu tun. Sex als Marktinstrument: ja und unbeschränkt. Daneben gibt es aber die Hyperkorrekten, für die ein Telegraphenmast ein Phallussymbol darstellt. Die Zensur im deutschen Buchmarkt hat aber auch viel mit der Bigotterie der Amerikaner zu tun, die ja den deutschen Markt beeinflussen. Lieber ein Opfer durch das Fadenkreuz einer Schusswaffe auf dem Cover als eine weibliche Brust.
Vielen Dank für das Interview.
Infos zum Buch:
Periplaneta veröffentlicht "Liebe mit Laufmaschen" von Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch. Das Werk enthält 23 lustige, aber auch mitunter tragische Geschichten, die von erotischen Begegnungen, Abenteuern auf SM-Partys, erotisierenden Künstlerinnen und natürlich von der Liebe erzählen. "Liebe mit Laufmaschen" soll als Literatur- und Kunstprojekt verstanden werden und zwischen Sehen und Nicht-Sehen, aber auch zwischen Wahrnehmung und Wahrheit vermitteln. Auf der Webseite des Projekts präsentieren die beiden Autoren Zeichnungen, die sie eigens für die Texte zusammen entworfen und umgesetzt haben. Diese werden nicht nur visuell, sondern auch barrierefrei mit Hilfe stimmungsvoll-sinnlicher Wortmalerei präsentiert.
http://www.LiebeMitLaufmaschen.de
Das Buch erscheint als hochwertige Klappenbroschur mit CD in der Edition Periplaneta. Die CD enthält neben 7 eingesprochenen Geschichten auch eine barrierefreie Textversion des kompletten Buch-Inhaltes. Zudem ist das Werk als E-Book-Download für Kindle, iPad und Co. erhältlich. http://www.periplaneta.com
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• Wie war Ihr schulischer/beruflicher Werdegang (in Kürze)?
Nach dem Abitur studierte ich an der Fachhochschule Merseburg Sozialpädagogik und stieg dann übergangslos nach der Regelstudienzeit ins Berufsleben am BFW Halle ein.
• Was wollten Sie früher einmal werden?
Sozialpädagogisch wollte ich ursprünglich genau dort hinsehen, wo die meisten Menschen lieber wegschauen. Mein berufliches Ziel war Streetwork, Drogensozialarbeit, die Obdachlosenszene. Behinderungsbedingt schien es jedoch sinnvoller, den Schwerpunkt zu wechseln. Wenn ich ganz weit zurückblicke, muss ich gestehen, dass ich als kleines Mädchen fasziniert vor dem Fernseher saß und mir vorstellte, auch mal von da drin zu den Leuten da draußen zu sprechen. Später war das nicht mehr mein Wunsch, aber es wurde abstruserweise zur Realität.
Warum sind Sie Sozialpädagogin geworden?
Ich sah mich schon immer als Grenzgängerin, als Hinterfragende, als jemand, der seinen Verstand benutzen und sich dabei die Finger schmutzig machen will. Mich interessierten symbolisch gesprochen die "Laufmaschen" in den Lebensläufen der Menschen. Es waren die "anders Normalen", die mich zu den relevantesten Erkenntnissen in meinem Leben führten. Außerdem verstand ich meinen Berufswunsch auch als politisches Statement. Ich wollte aufrütteln, verändern, verbessern. Und ich glaubte an die Hilfe zur Selbsthilfe.
Stand Ihre Behinderung Ihnen bei der Berufswahl im Weg? D. h. haben Sie Ihre Behinderung je als solche empfunden?
Bei der Berufswahl selbst nicht, da ich innerhalb meines Studiums den Schwerpunkt wechselte und mich auf die Rehabilitationspädagogik konzentrierte. Das kam meiner zunehmenden Erblindung, die ich noch gar nicht verarbeitet hatte, sehr entgegen. Ich setzte mich nun mit behinderungsspezifischen Themen auseinander und orientierte mich beruflich auch in diese Richtung. Das war anfangs sehr schmerzhaft, da ich zwar für Menschen mit Handicap arbeiten wollte, aber mich nicht als dazugehörig annehmen konnte. Ich wollte nicht die Blinde sein, auch wenn ich meine blinden Rehabilitanden als menschlich rundum bereichernd empfand.
• Welche Hürden mussten Sie überwinden, um dort anzukommen, wo Sie heute sind? Welche Steine wurden Ihnen in den Weg gelegt?
Die größte Herausforderung war wohl der Erblindungsprozess, der mir abverlangte, wie eine Sehende zu funktionieren, obwohl meine Umwelt zunehmend unsichtbarer wurde. Da ich aber gesetzlich noch nicht als blind eingestuft werden konnte, standen mir die notwendigen Hilfsmittel nicht zu. Bereits während des Studiums konnte ich kein einziges Buch mehr lesen, hielt meine unkenntlich gewordenen Aufzeichnungen auf dem Kopf, setzte mich versehentlich in die falschen Vorlesungen und bekam wegen der permanenten Überanstrengung meiner Augen heftige Migräneanfälle. Während meines Praktikums in der Altenpflege versuchte ich beim Füttern, Waschen und Windeln der Bewohner überwiegend mit meinem Tastsinn zu agieren und es fiel mir schwer, mit meinem geringen Sehvermögen Medikamente, Gebisse und Kleidung richtig zuzuordnen. Lebensbedrohliche Veränderungen an den zu Pflegenden zu erkennen forderte all meine Antennen. Dabei war ich in meinem Vorgehen, ich habe das wirklich mit Herzblut gemacht, manchmal engagierter und einfühlsamer als meine normalsehenden Gleichgestellten, die mir damals gern die ein oder andere unangenehme Aufgabe zusätzlich überließen. Ich war natürlich auch immer bemüht, es dann doppelt so gut zu machen. Der Sonderpädagoge hat’s uns sehschwachen "Brillenkindern" schon in jungen Jahren eingetrichtert: "Ihr müsst besser sein als die anderen!" Als ich dann in meinen Beruf einstieg, lernte ich meine Umgebung aufwändig auswendig und viele meiner Kollegen blieben mir ein optisches Rätsel. Ich musste mir häufig mühsam zusammenkonstruieren, mit wem ich gerade auf dem Flur eine wichtige Absprache über geplante Veranstaltungen getroffen hatte und sämtlichen für mich unlesbaren Schriftverkehr später kompliziert in meinem privaten Umfeld durcharbeiten, da die zahlreichen Botschaften einfach nicht mehr zu entziffern waren. Es war ein Teufelskreis. Ich wirkte sehend und man behandelte mich sehend, auch wenn ich immer wieder meine Grenzen zu signalisieren versuchte. Mit dem Blindenstock stellte sich zunehmend Erleichterung ein, auch wenn er mich zunächst stigmatisierte und endgültig zur Behinderten erklärte. Der "Abstieg" in die Blindheit war gleichermaßen ein Aufstieg in eine neue, selbstbestimmte Identität. Ich saß nun nicht mehr zwischen den Stühlen, irgendwo zwischen Sehen und Nichtsehen. Ich hatte nun endlich wieder ein Bein in der Welt, konnte einen blindenspezifischen Computer beantragen, mobil sein, mich selbstbewusst positionieren. Und in meinem Hinterkopf konnte ich die unzähligen Vertuschungs- und Verdrängungsprogramme schließen, die so viel Speicherplatz beansprucht hatten.
Wie kam es dazu, dass Sie Moderatorin beim MDR geworden sind?
Der MDR plante damals eine Doku über blinde Menschen am BFW Halle und wurde in mein Büro geschickt. Ich war ursprünglich gar nicht das Thema, sollten nur vermitteln, aber wir fanden spontan Gefallen aneinander und machten ein paar Probeaufnahmen für ein Portrait. Das entstand dann auch und wenig später manifestierte sich die Idee, ein Interview-Fenster auf den Weg zu bringen, in welchem eine blinde Moderatorin auf einen Prominenten Gesprächspartner trifft. Es folgte ein Casting mit mir in der MDR-Mediacity in Leipzig, wo wir ja auch heute noch meine SonntagsFragen produzieren.
• Wie reagieren Menschen, die Sie nicht kennen, auf Sie?
Früher hat man mir meine Behinderung oft nicht geglaubt und hielt mich für arrogant, weil ich nicht grüßte. Heute werde ich als Blinde wahrgenommen und die Missverständnisse haben sich verändert. Ich habe einen weiteren inneren Blick entwickelt und kann verschiedene Menschentypen erkennen und auch einordnen. Manche Menschen nehmen mich und meine Arbeit sehr ernst, respektieren mich als kultivierte und gebildete Frau, die einem Beruf nachgeht, eigenes Geld verdient, einen sehenden Partner hat und sich traut, extravagant zu leben. Andere glauben, ich kann nicht einen einzigen Buchstaben schreiben, mich nicht allein anziehen und würde niemals einen Mann abbekommen. Dass Blinde arbeiten und wie sie das tun ist auch nicht jedem spontan klar und das ist auch nicht schlimm für mich. Gehört ja auch zu meiner Arbeit, Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Es hat auch Leute gegeben, die mir nicht glaubten, dass ich Seminare halte, Bücher schreibe und eine Fernsehsendung moderiere. Ich spürte sofort, dass sie mich irgendwie für eine arme Irre hielten.
Wie schwer ist es für Sie, sich in Ihrem Beruf zu beweisen? Wie verschaffen Sie sich Respekt?
Ich biete am BFW Halle Führungen und Seminare für Teilnehmer verschiedenster Altersgruppen und Bildungsniveaus an. Dabei ist erfahrungsbedingt Sozialkompetenz oft keine Frage des Alters oder der Bildung. Ich werde immer wieder von Neuem überrascht und ausgerechnet von Menschen extrem respektvoll behandelt, von denen ich es überhaupt nicht erwartet hätte und umgekehrt. Wenn ich in meinen Veranstaltungen mit Normalsichtigen interagiere ist es eine Grundvoraussetzung, dass ich als Blinde nicht bloßgestellt oder hintergangen werde. Ich habe schon Vorträge vor Ärzten gehalten, die sich alles andere als respektvoll verhielten, vor meinen Augen herumwedelten um zu prüfen, ob ich wirklich blind bin, permanent an ihren Handys spielten und in meinen abgedunkelten Erfahrungsräumen mit Licht schummelten. Im Gegensatz dazu arbeitete ich mit kriminellen Jugendlichen und Schulverweigerern, denen es vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen trieb und die mir Fragen stellten, die ich von Philosophiestudenten eher erwartet hätte. Wichtig ist mir eine strikte Ordnung, klare Absprachen, Visuelles muss verbalisiert werden. Das Material, was ich vorbereitet habe, muss genau dort liegen bleiben, wo ich es vermute. Die von mir festgelegte Sitzfolge im Raum hilft mir dabei, einen Überblick zu wahren und gezielt mit Menschen in Kontakt zu treten. Meine Teilnehmer werden darauf hingewiesen, mir keine Taschen oder Stühle in den Weg zu stellen und benutzte Gegenstände an den vereinbarten Platz zu legen. Blindes Vertrauen habe ich im wahrsten Wortsinn zu meiner engsten Kollegin aufgebaut. Unser gemeinsames Arbeiten funktioniert wie ein gut einstudierter Tanz. Für mein souveränes Auftreten ist ein sehendes Augenpaar an meiner Seite oft unentbehrlich.
• Wie sieht Ihr beruflicher Alltag aus? Welche Aufgaben haben Sie?
• Beim BFW: Mein berufliches Zuhause am BFW Halle ist die "Sensorische Welt". Mit Hilfe vollkommen abgedunkelter Erfahrungskulissen können sich unsere sehenden Besucher in die Wahrnehmungswelt blinder Menschen und die damit verknüpften Grenzen und Möglichkeiten einfühlen. Ein weiterer wesentlicher Inhalt ist die Simulation von Fehlsichtigkeiten und Sehbehinderungen mittels manipulierender Licht- und Sichteffekte. Normalsichtige Gäste erhalten somit einen lebenspraktischen Eindruck von Seheinschränkungen und deren Auswirkungen. Zu unseren Gästen gehören u. a. Schulklassen, Studenten, Angehörige von Betroffenen, potentielle Arbeitgeber und Kosten- und Entscheidungsträger.
In meinen Imagekursen arbeite ich direkt mit blinden und hochgradig sehbehinderten Rehabilitanden. Ziel ist es, ein inneres Spiegelbild zu erarbeiten, welches Selbstsicherheit und ein souveränes Auftreten, insbesondere im Hinblick auf die berufliche Rehabilitation, unterstützt.
Das entwickeln von Seminar- und Projektmaterialien, die fachkundige Betreuung Ratsuchender und die kleinen und großen Bausteine der Rehabilitations- und Öffentlichkeitsarbeit lassen meinen Arbeitsalltag zusätzlich zu einem bunten Potpourri werden.
Beim MDR: Für den MDR moderiere ich einmal monatlich die "SonntagsFragen". Ich treffe blind auf einen prominenten Interviewgast und erspüre ihn mit Worten. Meine Arbeit beginnt mit einer umfangreichen Recherche zum Prominenten und dem Zusammenstellen des Fragenkataloges. Die mit der Redaktion besprochenen Fragen übertrage ich dann in Braille auf meine Moderationskarten. Schließlich kreiere ich noch ein passendes Outfit aus meinem Kleiderschrank. Spannende optische Akzente für ein visuelles Medium zu setzen ist für mich als blinde Frau keine zu unterschätzende Herausforderung. Gedreht wird in Leipzig im MDR-Hochhaus. Während der Maske findet meist das Vorgespräch mit meinem Interviewgast statt und dann beginnt die Arbeit vor der Kamera.
Was mögen Sie an Ihrem Beruf?
• Beim BFW: Mit den unterschiedlichsten Menschenbildern konfrontiert zu sein und Bildung vermitteln zu dürfen.
Beim MDR: Prominente dazu zu motivieren, gewohnte Denkräume zu verlassen.
Welche Ihrer Stärken/Fähigkeiten können Sie in Ihrem Beruf besonders gut ausspielen?
• Beim BFW: Meine sozialpädagogische Ausbildung, meine Kreativität und Redegewandtheit.
• Beim MDR: Mein Einfühlungsvermögen, meine Extravaganz, meine Lust auf Kommunikation
• Was möchten Sie beruflich noch erreichen?
Ich darf täglich Menschen begegnen, die auf ihre Weise besonders, eben "anders normal" sind und ich empfinde dies immer wieder als Bereicherung und Herausforderung. Außerdem rutschen, sobald ich ein spannendes Projekt abgeschlossen habe, sogleich drei neue nach. Routine und Langeweile können nicht aufkommen. Wenn ich nicht gerade einem Promi gegenüber sitze, engagiere ich mich vielleicht für blindenspezifische Modenschauen, Bildbeschreibungs-Services oder Schminkkurse. Meine Begegnungen bestimmen meine Wege und dabei zählt jeder Impuls.
• Was raten Sie Menschen mit Behinderung für Ihren Weg zum "Traumjob"?
Zunächst sollte man lernen, sich selbst wichtig und ernst zu nehmen, sonst tut es auch kein anderer. Und dann gibt es wieder Situationen, in denen sollte man sich nicht zu ernst nehmen und behinderungsbedingte Rückschläge nicht überbewerten. Ein Mensch, der seine Potentiale und Grenzen offen beim Namen nennt wirkt souveräner, als ein befangener, der seine Schwächen dauerhaft vertuschen muss und all seine Kraft in Anpassungsstrategien investiert. Generell halte ich nicht viel von Patentrezepten und würde immer im Einzelfall entscheiden, welche Schritte für einen behinderten Menschen sinnvoll sind.
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Von DETLEF FÄRBER
HALLE/MZ - Bislang war sie nur ein Geheimtipp - zumindest im Fernsehen. Denn ihre Beiträge in der Sendung "Selbstbestimmt" wurden von den dritten TV-Programmen zu Zeiten ausgestrahlt, die selbst hartgesottenen Bewohnern des Landes der Frühaufsteher höchste Morgenfitness abverlangten. Doch das ist nun vorbei, denn der Hallenserin Jennifer Sonntag ist im Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) in mehr als einer Hinsicht ein Durchbruch gelungen: Ein fester Sendeplatz zu einer "christlichen Zeit", die auch noch bestens zum Titel ihrer Interview-Reihe "Selbstbestimmt - DieSonntagsfragen" passt. Einmal monatlich nimmt Jennifer Sonntag Prominente auf ihre ganz eigene Weise ins Verhör. Auf eine Art, die zumindest teilweise abweicht von dem, was es mit Promis sonst zu reden gibt. So passiert es diesen allgemein bewunderten und oft nicht uneitlen Zeitgenossen bei der Hallenserin immer wieder, dass sie aufgefordert werden, sich selbst zu beschreiben - rein optisch: "Wie sehen Sie aus?" Die Frage hat einen guten Grund, denn Jennifer Sonntag kann ihre Gesprächspartner selbst nicht sehen: Sie ist seit ihrer Jugend blind.
Was sie auf diese Einstiegsfrage zu hören bekommt, klinge - sagt sie - manchmal etwas hilflos oder auch lustig. Aber nur einmal sei die Reaktion so ausgefallen, wie sie nicht besser hätte sein können. Ausgerechnet Alice Schwarzer nahm ihre Hand und ließ Jennifer Sonntag ihr Gesicht ertasten. Auch im weiteren Verlauf der Interviews geht es weniger um große Erfolge, neue Filme oder Songs der Promis. Eher mal darum, wie sie mit Handicaps und Krisen umgehen und es vielleicht geschafft haben, dann auf neue Weise in die Spur zu kommen.
Gäste wie Sven Hannawald und Matthias Steiner hätten sie da zuletzt sehr beeindruckt, sagt Jennifer Sonntag. Auch Gustl Mollath, jenen Mann, der sieben Jahre zu Unrecht in der Psychiatrie festgehalten wurde, hat sie interviewt. Jennifer Sonntag, die Autorin mehrerer Bücher und im Hauptberuf Sozialpädagogin ist, hat keine Angst vor komplizierten oder auch mal heiklen Themen. Dagegen dürfte für sie einer ihrer Gesprächspartner des kommenden Sonntags eher eine Erholung sein: Wladimir Kaminer, der deutsch-russische Autor und begnadete Plauderer, hat in seiner halleschen Kollegin nämlich fast schon einen Fan. Doch so sehr sich Jennifer Sonntag auch jeweils auf ihre berühmten Gäste freut - so hat sie auf das Thema Ruhm doch eine ganz eigene Sicht. "Wirklich rühmenswert", sagt sie , "sind alle die Leute, die mit einem Handicap täglich ihren Alltag bestehen".
"Selbstbestimmt" kommt am Sonntag, 9:45 Uhr, im MDR-Fernsehen.
Halle, 10.03.2013
Von Jeanine Trenkler
Im Kunstforum wird eine ungewöhnliche Schau vorbereitet. Es geht um Blinde und Sehbehinderte und das Thema Schönheit. (Halle/MZ)
Wie ist das, ohne Spiegelbild zu leben? Wenn kein Kontrollblick möglich ist. Dazu wird im Kunstforum gerade eine etwas andere Art von Ausstellung vorbereitet. "Schönheit der Blinden" heißt sie und zeigt Bilder einer Modenschau von Blinden für Blinde.
Initiatorin und Teilnehmerin am Projekt ist Jennifer Sonntag. Die Hallenserin verlor selbst vor einigen Jahren ihr Augenlicht. Dennoch ist und bleibt Schönheit für sie ein Thema, das bei ihr alle Facetten des Empfindens wie das Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken in Anspruch nimmt. Nicht-Blinden geht es ja manchmal ähnlich: Denn stellt man sich als Sehender vor, etwas zu genießen - sei es Schokolade oder Sonnenstrahlen - schließt man auch die Augen. "Augenbenutzer", wie Jennifer Sonntag sie nennt, bekommen dann eine ganz andere "Sichtweise". Jennifer Sonntag will, dass sich ihre Mitmenschen "aus festgefahrenen Denkmustern" lösen und sich für das Leben sensibilisieren.
"Schönheit kann man nicht nur sehen"
Die Ausstellung, die am 19. März beginnt, geht auf die Suche nach dem inneren Spiegelbild. Die Botschaft lautet: "Schönheit kann man nicht nur sehen." Mitinitiatorin Sonntag arbeitet übrigens inzwischen als Sozialpädagogin in der Berufsbildung. Sie sieht ihr Schicksal auch als Chance, die sie zu erstaunlich vielen Aktivitäten nutzt. So moderiert sie sogar eine eigene Fernseh-Sendung namens "Sonntags Fragen". "Ich möchte Gesprächspartner anregen, gewohnte Denkmuster zu verlassen und eine andere Wahrnehmungsebene zu betreten", sagt sie. Seit 2008 empfängt sie prominente Gäste und versucht, hinter deren Fassade zu blicken. Womöglich gelingt ihr das einfacher als "Sehenden". Jennifer schreibt sogar Bücher: "Hinter Aphrodites Augen" heißt eines davon. Darin wird das Schönheitsempfinden blinder Frauen dargestellt, sowohl von Frauen, die von Geburt an blind sind, als auch von denen, die erst im Laufe ihres Lebens erblindet sind. "Die neue Schau wird zeigen, wie Blinde die Welt erleben", sagt sie.
Die Ausstellung beginnt am 19. März im Kunstforum, Bernburger Straße 8.
Sie hatte ganz normal gelebt – bis zu dem Tag, an dem sie erfuhr, dass sie vollständig erblinden wird. Eine junge Frau, die ihre Zukunft ganz neu denken musste, die Angst hatte, nicht mehr sie selbst sein zu können, ihre Fraulichkeit zu verlieren. Denn wie sollte sie blind noch attraktiv sein? Dass ihre Weiblichkeit durch die Erblindung nicht leidet, das hat sie frauTV erzählt.
"Die Krankheit heißt Retinopathia pigmentosa, RP abgekürzt, eine Netzhauterkrankung führt zum Tunnelblick, zur Nachtblindheit. Man hat das Gefühl, irgendjemand hat den Kontrast rausgedreht, mein Tunnel hat sich immer mehr verengt."
Jennifer Sonntag fragte sich aber niemals, ob sie mal einen Mann findet. Sie persönlich findet es wahnsinnig schlimm, so zu denken und betreut blinde Frauen, die sehr unter solchen Vorurteilen leiden, weil die Gesellschaft immer diese Fragen stellte. Sie will bewusst machen, dass blinde Frauen sinnliche, intelligente, inspirierende und beruflich engagierte Partnerinnen sein können.
Weil sie nicht wollte, dass andere anschauen, was sie bald nicht mehr sehen kann, hat sie damals alle Fotos bis auf eines vernichtet. Sie war eine junge Frau, als sie die Diagnose bekam, dass sie erblinden wird. Inzwischen sind etwa 10 Jahre vergangen. Jennifer Sonntag hat als Punkerin gelebt und ein Sozialpädagogik-Studium beendet. Das Wissen um ihre Krankheit hat sie zum Beruf gemacht. Sie erklärt Sehbehinderten und interessierten Sehenden, welche Hilfsmittel unverzichtbar werden, wenn das Augenlicht weg ist.
Jennifer Sonntag ist eine junge Frau, die das Leben liebt und genießt. Liebe, Lust und Leidenschaft sind ihr ganz wichtig im Leben. Als sie die Diagnose RP bekam, brach für sie eine Welt zusammen. "Ich wollte das nicht wahr haben, wollte raus und da bin ich in die Punkszene, noch mal alles mitnehmen was geht und alles auskosten, so lange ich noch sehen kann. Ich brauchte das Extreme, um mich so lange wie möglich selbst zu spüren." Das machte sie, und ihr Augenlicht wurde immer weniger.
Inzwischen hilft die Sozialpädagogin Menschen mit Sehbehinderung. "Wie finde ich meine Person wieder? Wie finde ich mich im Leben zurecht? Kann ich mir noch Kleider kaufen? Wie lebe oder finde ich meine Ästhetik, wenn ich blind bin? Das waren damals meine Fragen und auf die habe ich meine persönliche Antwort gefunden. Und das vermittle ich jetzt anderen. Zeige ihnen, wie sie sich zurechtfinden können."
Jennifer Sonntag versteht sich als Mittlerin zwischen Sehenden und Blinden, weil sie früher sehen konnte kann sie aus der sehenden in die blinde Welt übersetzen. Sie bringt ihren Kursteilnehmern bei, wie sie sich richtig kleiden und schminken, entwickelt mit den Betroffenen ein Spiegelbild, damit sie wieder ein Gefühl für ihr Äußeres bekommen.
"Meine Kosmetikerin hat mir einmal erzählt, dass andere Kundinnen, die mich gesehen hatten, ihr die Frage stellten, warum ich denn zur Kosmetik ginge, wenn ich doch das Resultat nicht sehen würde. Diese Frage schockierte mich. Demnach müsste jede sehende Frau aufhören sich zu pflegen, wenn sie einmal erblinden würde. Auf diese Weise müssten sich alle Menschen gehen lassen, die ein Problem mit den Augen haben. Blindheit kann jeden treffen. Sie fragt nicht nach, ob jemand Wert auf Schminke legt, ob jemand stylisch ist oder nicht, ob jemand aus beruflichen Gründen gut aussehen muss oder nicht, ob er sich gern zurechtmacht oder nicht, ob er ein Aschenputtel oder ein Superstar ist."
Schön sein und sich schön fühlen – das will sie.
Mit ihrer Arbeit will sie Kommunikationsbarrieren, Vorurteile und Berührungsängste zwischen Sehenden und Nichtsehenden abbauen. Ihre Tipps versteht sie als Ideen - nicht als der Weisheit letzter Schluss: "Ich erlebe immer wieder, dass die Leute erstaunt darüber sind, dass ich weiß, welche Farbe mein Nagellack, mein Pullover oder meine Parfümflasche haben. Wenn ich mir bewusst etwas Farbiges anschaffe, frage ich gezielt nach den optischen Eigenschaften des entsprechenden Gegenstandes. Habe ich vor meiner Blindheit keinen neongrünen Nagellack bevorzugt, werde ich es auch hinterher nicht tun und eher nach dem brombeerfarbenen verlangen."
Die Farben sind das eine, Mitmenschen das andere, denn die wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. "Einige Männer haben es sich zur Gewohnheit gemacht, über meine sehende Begleitperson an mich heranzutreten. Sie nehmen dann erst mal das Gespräch mit jenem Dritten auf, um sich mit ihm über mich zu unterhalten, während ich daneben sitze."
Heute sieht sie anders, nicht mehr mit den Augen.
In solchen Momenten leidet ihr Selbstbewusstsein, sie fühlt sich isoliert. "Es gibt immer wieder Momente der Trauer, aber ich versuche das Beste daraus zu machen. Meine Arbeit und meine Leidenschaften geben mir dabei Kraft." Über Liebe, Lust und Leidenschaft hat sie Gespräche mit blinden Frauen geführt und veröffentlicht. Denn auch das gehört für sie dazu, um "Blindsein" zu verstehen. "Mich hat als Sehende schon interessiert, was blinde Menschen schön finden, was blinde Menschen anziehend finden, weil natürlich zwischen sehen und nicht sehen ganz viele feine Antennen existieren, die ja Ästhetik und Erotik und Anziehung ausmachen, und ich fand es ganz spannend, als sich die Blindheit vollzogen hatte, das Thema konkret anzugehen, und hab’ auch viele blinde Frauen gewinnen können, die den Mut hatten, sich zu öffnen auf eine ganz bestimmte Weise."
Die Retinopathia pigmentosa (Retinitis pigmentosa, RP) ist eine Netzhauterkrankung. Sie führt über Nachtblindheit zum Tunnelblick und irgendwann zur absoluten Blindheit. Es ist eine erbliche Erkrankung, von der es verschiedene Formen gibt. Eine ursächliche Behandlung der Retinopathia pigmentosa ist nicht möglich. Ursprünglich wurde die Erkrankung als Retinitis pigmentosa bezeichnet. Korrekterweise spricht man eigentlich von Retinopathia pigmentosa, da es sich nicht um eine Entzündung ("-itis"), sondern um eine Krankheit mit anderem Mechanismus ("-pathia") handelt. Dennoch hat sich die Bezeichnung Retinitis pigmentosa allgemein durchgesetzt.
WDR Fernsehen Information frauTV - Sendung vom 09. Februar 2012
Plötzlich blind
Sie hat die Bilder im Kopf, die von ihr gemacht werden.
Sie übersetzt für andere aus der sehenden in die blinde Welt
Ziel: Barrieren und Vorurteile abbauen
Liebe, Lust und Leidenschaft
Retinopathia pigmentosa (RP)
Reflexionen zur Homepage "blindverstehen"
Martin Nauhaus im Januar 2012
Stellen wir uns einen jungen Menschen vor, gesegnet mit vielen Gaben, mit Talenten, mit dem, was wir landläufig "Schönheit" nennen, mit körperlicher und geistiger Unversehrtheit, mit Würde, Anstand, Selbstbewusstsein und Liebesfähigkeit bei gleichzeitigem Geliebtwerden. Dieser junge Mensch wächst in die Welt hinein, und er wächst mit der ihn umgebenden Welt. Alles scheint gut.
Jeder Mensch hat irgendwelche Verlustängste. Wenn man seine Eltern liebt, möchte man sie nicht verlieren. Wenn man erwachsen ist und einen geliebten Menschen gefunden hat, so möchte man diesen nicht verlieren. Und: wenn man sich seiner selbst bewusst geworden sein sollte, so will man auch sich selbst nicht verlieren, weder körperlich noch geistig-seelisch. Menschen haben Angst davor, etwas zu verlieren, das sie als wertvoll erkannt haben. Diese Angst kann, soweit sie sich nicht ins Krankhafte, in eine Phobie, hineinsteigert, durchaus gut sein, denn sie hilft, das Erkannte zu bewahren und möglichst zu fördern.
Was aber passiert, wenn völlig unvermittelt und unverdient etwas Wertvolles genommen wird? Was ist, wenn der Mensch etwas verliert, das er, neben anderem, sehr liebt?
Der Gesichtssinn beeinflusst unser Leben sehr stark, er ist vielleicht unser wichtigster Sinn – wir sind vor allem visuell gesteuerte Wesen. Und wenn nun dieser wichtige Sinn erst gedämpft und schließlich ganz abgeschaltet wird, dann kommt erst die Angst und dann die Verzweiflung und natürlich die Frage, die (noch) nicht beantwortet werden kann: Warum, warum ich?
Der Mensch liegt auf dem Block unter der Guillotine, er erwartet, dass das scharfe Messer gleich seinen Kopf vom Rumpf trennen und damit sein körperliches Leben beenden wird. Angst vor diesem gewaltsamen Akt lässt ihn zittern, oder auch ganz still werden. Und dann passiert etwas, womit nicht zu rechnen war: das Fallbeil fällt, es tut das, wofür es geschaffen wurde, aber es tut seinen Dienst nicht, wie es erwartet worden war, sondern sein Fall endet, bevor die Halswirbel durchschlagen sind, nur die Haut wird geritzt. Und jetzt, was nun? Das Erwartete ist nicht eingetreten, und doch gab es eine Verletzung.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten: entweder man bittet den Henker darum, das Fallbeil noch einmal hochzuziehen, damit er sein Werk zu Ende bringen kann, oder man sieht das Geschehene als Gottesurteil: es sollte noch nicht sein. Beide Möglichkeiten bieten Chancen: die erste die der Befreiung auf kurzzeitig schmerzhafte, aber verhältnismäßig einfache Art, die zweite die einer Neugestaltung.
Der nunmehr Erblindete wird sich bewusst, dass, wenn er sich auf die Neugestaltung einlässt, eine im wahrsten Sinne unübersehbare Aufgabe vor ihm steht. Er weiß noch nicht, was genau ihm blüht, aber er ahnt, dass es schlimm und schwer werden kann. Nun bedarf es einer enormen Kraftanstrengung, und das in jeder Sekunde neu. Es ist einem Sehenden kaum zu vermitteln, mit welchen Schwierigkeiten ein Blinder umzugehen hat, wenn er sich nicht aufgeben und trotz seiner starken Einschränkung ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes Leben leben will.
Was also tun? Die Chance der Neugestaltung bedeutet vor allem Umgestaltung. Vieles muss nicht neu, aber ganz anders gelernt werden.
Jennifer Sonntag beschreibt in ihren Texten ausführlich, eindrücklich, plastisch und sehr überzeugend, wie sie es schafft, den Verlust des Sehens zumindest teilweise auszugleichen. Sie verhehlt dabei aber nicht, welch’ enorme Anstrengung das für sie bedeutet hat und jeden Tag aufs Neue bedeutet. Überall lauern unsichtbare Fallstricke, überall im Meer des Alltags sind Riffe und verborgene Eisberge, auf die man jederzeit auflaufen kann. Und dann ist da noch der Unverstand einiger Zeitgenossen, die von Jennifer Sonntag mit Sätzen wie zum Beispiel "Geht doch, stell’ dich nicht so an!" zitiert werden. Welche Anstrengungen ihr das neue, andere Leben wieder und wieder abverlangt, kann sich ein nicht Betroffener kaum ausmalen, aber Sonntag gelingt es, ihm durch ihre haargenauen Beschreibungen zumindest eine ungefähre Vorstellung zu verschaffen. "Sensibilisierung" ist hier das Zauberwort. Wichtig zu erwähnen ist wohl, dass eine solche Verständlichmachung und Empfindsamkeit durchaus nicht nur im Umgang mit Blinden oder anderweitig eingeschränkten Menschen gelebt werden sollte, sondern grundsätzlich mit jedem Ding und mit jedem Lebewesen, das uns begegnet. Das ist vielleicht, neben den vielen Einblicken in das Leben einer Blinden und eines besonderen Menschen, das Wichtigste, was Sonntag uns allen mitzuteilen hat, und dafür sollten wir dankbar sein und daraus lernen. Vielleicht ist das eine mögliche Antwort auf die Frage "Warum? Warum ich?".
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Das schönste Kompliment eines Lesungsbesuchers vorangestellt: "Ich bin seit heute früh auf den Beinen und dann noch abends eine Lesung - aber ich hatte richtig Spaß!" Gemeint war die erste Literaturveranstaltung zur Anthologie "Zigaretten danach", zusammengestellt und textlich angereichert von Jennifer Sonntag. Lustbetont und sinnlich - Sonntags erotische Textminiaturen brachten am 10. Mai die Mojo Musikbar in Halle zum Überquellen!
Was kann schon passieren an einem Dienstagabend und dann noch Literatur? - Jeder der das dachte, wurde auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt - im wahrsten Sinne des Wortes. Denn wer nicht großzügig vorreserviert hatte, oder einen der geschwind herbei geholten Stühle ergattern konnte, dem blieb nur das Parkett als Unterlage für seine vier Buchstaben.
Nach der Anmoderation des spiritus rectors der Veranstaltung Ronald Gruner - seines Zeichens Vorsitzender des Förderkreises der Schriftsteller in Sachsen-Anhalt und Halles ehemaliger Stadtschreiber - entspann sich eine prickelnde Melange aus Lesung und unterhaltsamer Interaktion. Als Vorleser hatte Jennifer Sonntag ihren Co-Autor Dirot im Gepäck. Die vorgestellten Texte bewegten sich, wie auf dem DAISY-Buch "Zigaretten danach" versprochen, zwischen Weichzeichner und Hardcore, ohne dabei profan zu sein. Die Ausgewogenheit zwischen Direktheit in der Sache und Geschliffenheit der Sprache vermochte es, selbst skurrile Sujets zu behandeln, ohne dass der Humor auf der Strecke blieb.
Geschäftsfrauen in amüsierter Runde, Senioren mit Spaß am Frivolen, Musiker und Studenten - sie alle honorierten die gelungene kurzweilige Veranstaltung mit Applaus. Und die Herausgeberin verkündete in mondäner Zurückhaltung, dass sie ja eigentlich keine Lesungen mehr anbieten wollte. Daraus wird wohl vorerst nichts. Da die Lesung so gut ankam, buchte der Schaugarten Halle sie für den voraussichtlich 21. September gleich noch mal und das Planetarium Merseburg stellt das Hörbuch am 8. Oktober in einer einzigartigen Audioshow vor. Und sogar zum diesjährigen Wave-Gothic-Treffen wurde am 11. Juni in der Villa Leipzig innerhalb der PaperOne-Verlagslesung die symbolische Zigarette danach angezündet.
"Zigaretten danach"
Herausgeberin: Jennifer Sonntag.
27 Beiträge von 18 Autorinnen und Autoren. "Die Zigarette danach" kann als Sinnbild für all das verstanden werden, was sich in diesen Episoden und Skurrilitäten für jeden auf irgendeine Weise wiederfindet: Die erotische Begegnung.
Sprecher-Team. 1 CD-DAISY (2:25 h), 9,95 €, BNV 6681
Veranstaltungstermin
"Sa, 08.10.11, 19:00 im Planetarium Merseburg, Teichstraße 2, 06217 Merseburg: "Lust und Frust unterm Himmel" - Skurril-erotische Hörstücke "Zigaretten danach" von und mit Jennifer Sonntag und einem Autorenensemble,
Planetarium: Mechthild Meinike, Reservierung erwünscht,
Eintritt: 8,00 € Abendkasse, 6,00 € bei Voranmeldung.
Planetarium-Event
Mechthild Meinike
Telefon/Fax: 0345 4786809
Mobil: 0175 2887264
E-Mail: me.meinike@gmx.de
Neuerscheinung Die blinde Schriftstellerin Jennifer Sonntag legt das Hörbuch "Zigaretten danach" mit Texten von 18 Autoren vor.
Von Claudia Crodel
HALLE/MZ - "Darf ich als bekennende Nichtraucherin eigentlich über die, Zigarette danach sinnieren?" Diese Frage stellte sich die Autorin Jennifer Sonntag und lieferte gleich die Antwort: "Ja, ich darf, denn ich bin von der Symbolik fasziniert." Die junge, blinde Frau hat jetzt ein Hörbuch vorgelegt: Es trägt den Titel "Zigarette danach". Pünktlich zur Leipziger Buchmesse ist es beim Verlag der Deutschen Zentralbücherei für Blinde erschienen.
Die 31-jährige Jennifer Sonntag hatte vor einigen Jahren durch eine Krankheit ihr Augenlicht verloren. Damals studierte sie noch an der Merseburger Hochschule. Jetzt arbeitet sie als Sozialpädagogin in Halle. Nebenbei verfasst sie Romane. In ihren beiden bisherigen Büchern "Märchenland im Müll", das sie unter einem Pseudonym herausbrachte, und "Blind Date" widmete sie sich konkret dem Thema Blindheit.
"Erotik ist ein Thema, mit dem man die Leute packen kann." Jennifer Sonntag, Autorin und Herausgeberin
Dabei war es der jungen Frau wichtig, möglichst unkonventionell mit der schwierigen Thematik umzugehen. Sie hat dabei stark autobiografisch geschrieben, die Erfahrung ihrer eigenen Erblindung sei beim Schreiben immer präsent gewesen. "Ich will Brücken schlagen zwischen der Welt der Blinden und der, der Sehenden. Ich wollte sensibilisieren, über Missstände aufklären. Aber ich steckte immer in der Rolle der Mediatorin fest." Das wollte sie mit dem neuen Hörbuch ändern.
Doch einfach nur ein erotisches literarisches Werk zu schaffen, war Jennifer Sonntag zu wenig. "Mir kam es wie bei meinen vorherigen Büchern auf den etwas anderen Blickwinkel an", sagt sie. "Vor meinem inneren Auge sah ich einen Zigarettenstummel mit einem Hauch von Lippenstift am Filterrand und überlegte, was diese eine, Zigarette danach so zu erzählen hätte." Dieses Im-Nachhinein sollte der Aufhänger sein. Sonntag interessierte sich für Textentwürfe, Gedankenspiele, Bilder, die sich nach erotischen Begegnungen entwickelten.
Eigene Texte entstanden. Doch das reichte Sonntag nicht. Sie startete einen Aufruf, ganz bewusst an nicht blinde Autoren, denn sie wollte ein Werk schaffen, das Blinde und Sehende zusammenbringt. Erstaunt war sie, dass sich 17 begeisterte Schriftsteller bei ihr meldeten. "Erotik ist ein Thema, mit dem man die Leute immer packen kann. Aber da gibt es auch viele Klischees, und gerade die wollte ich nicht."
Entstanden seien jedenfalls Texte mit einem breiten Assoziationsspektrum und in ganz unterschiedlichen literarischen Handschriften. "Für jeden ist das Symbol der, Zigarette danach ja mit anderen Stimmungen und Erinnerungen behaftet", meint Jennifer Sonntag. In den 27 Textbeiträgen geht es romantisch verklärt, regelrecht verrucht, makaber, hinterhältig-doppeldeutig, obsessiv oder literarisch sinnbildlich zu. Alles in allem ist das Hörbuch auf jeden Fall ein Plädoyer für ein lustbetontes Leben. Gesprochen wurden die Texte für die Hör-CD von einem Sprecherteam des Verlages.
Das Hörbuch kostet 9,95 Euro und kann unter www.dzb.de bestellt werden.
Nur für das Foto zum Hörbuch Zigaretten danach präsentiert sich die erklärte Nichtraucherin Jennifer Sonntag ausnahmsweise mal rauchend. FOTO: ELKE BUSCHING
Zurück zum Seitenanfang PresseBei der zweiten Neuerscheinung aus der DZB anlässlich der Buchmesse handelt es sich um ein ganz besonderes DAISY-Hörbuch mit dem Titel: "Zigaretten danach".
Initiiert, betreut, zusammengetragen und herausgegeben wurden die auf der CD enthaltene Sammlung aus insgesamt 27 Beiträgen von 18 Autorinnen und Autoren durch die blinde Autorin, Moderatorin und Sozialpädagogin Jennifer Sonntag. Nachfolgend schildert Ihnen die Herausgeberin ihre Intentionen:
Haben Sie Feuer? Jennifer Sonntag: Darf ich als "leidenschaftliche" Nichtraucherin eigentlich über die "Zigarette danach" sinnieren? Ja, ich darf, denn ich bin von ihrer Symbolik fasziniert.
Einfach nur ein erotisches Hörbuch zu schaffen schien mir zu eindimensional. Mir kam es auch bei diesem Projekt, wie bei all meinen Büchern, auf den etwas anderen "Blickwinkel" an. Und dann sah ich vor meinem inneren Auge einen Zigarettenstummel mit einem Hauch von Lippenstift am Filterrand und überlegte, was diese eine "Zigarette danach" so zu erzählen hätte und wie viele davon, wo, wann und von wem sie wohl geraucht würden.
Auch wenn es nicht immer darum gehen kann, einen erotischen Akt zu vollziehen, erleben wir doch hin und wieder besondere Momente, die uns im Nachhinein zu prickelnden Gedankenspielen verleiten. Und genau dieses "im Nachhinein" sollte mein Aufhänger werden. Ich interessierte mich für Textentwürfe, die sich nach erotischen Begegnungen entwickelten. Dabei durfte "die Zigarette danach" als Metapher stehen, durfte aber auch ganz gegenständlich gemeint sein.
Ich startete eine Ausschreibung und war erstaunt, auf welch vielfältige Weise sich 17 begeisterte Autoren mit mir gemeinsam diesem Thema näherten. Es entstand ein reizvoller Querschnitt, den ich gern erhalten wollte, da ich glaubte, dass das Assoziationsspektrum der Hörerschaft ebenso breit sein würde, wie das meiner Autoren. Auf dem Hörbuch mischen sich nun verruchte mit romantisch-verklärten, makabere mit hinterhältig-doppeldeutigen und obsessive mit literarisch-sinnbildlichen Textbeiträgen. In meinen letzten beiden Büchern habe ich mich konkret dem Blindheitsthema gewidmet und auch wenn es mir wichtig war, dabei möglichst unkonventionell zu sein, bin ich ja doch auf die Behinderung festgelegt. Als von Blindheit betroffene Sozialpädagogin bin ich immer auch in halbdienstlicher Mission unterwegs und das schließt ein freies schriftstellerisches Agieren aus. Hinzu kommt, dass ich in den letzten Jahren auch immer stark autobiografisch gefärbt geschrieben habe, da für meine Öffentlichkeitsarbeit rund um die Schwerpunkte Erblindung und Blindheitsverarbeitung meine Authentizität sehr wichtig war. Mein Grund zu schreiben war stets, Brücken zu schlagen zwischen den Welten. Ich wollte sensibilisieren, über Missstände aufklären, zusammenführen, auch schon in meinem Erstlingswerk, in welchem ich über die Straßenpunk- und Heroinszene meiner Heimatstadt schrieb. Aber ich steckte eben auch immer in der Rolle der Mediatorin fest. Das wollte ich diesmal anders machen.
Mit "Zigaretten danach" möchte ich kein "Lehrbuch" liefern, ich möchte höchstens dazu motivieren - so viel Missionarsfreude muss dann doch sein - ein lustbetontes Leben zu führen, was auch immer das für jeden einzelnen bedeuten mag. Ich danke der DZB von ganzem Herzen für die engagierte Realisierung des Projekts und wünsche uns allen, ob Raucher oder nicht, viel Lust auf die "Zigaretten danach".
"Zigaretten danach" - herausgegeben von Jennifer Sonntag.
Texte: Michael Bammes, Donata, Sven-André Dreyer, "Elfenkotze", Claudia Feger, Hauke von Grimm, Lord Schadt, Roland Quant, J. Yeti Rohrberg, Tristan Rosenkranz, H.C. Roth, Dirk "Dirot" Rotzsch, Karl Rudolf, Sonja Ruf, Thomas Sabottka, Michael Schweßinger, Jennifer Sonntag, Volly Tanner.
1 CD-DAISY, Sprecher-Team, Spieldauer: 2:25 h, Preis: 9,95 EUR, BNV 6881
Zurück zum Seitenanfang PresseIm Verlag der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) erscheint pünktlich zur Leipziger Buchmesse das DAISY-Hörbuch »Zigaretten danach«. Das erotische Hörbuch, herausgegeben von Jennifer Sonntag, bietet 27 Beiträge von 18 Autorinnen und Autoren.
»Die Zigarette danach« kann als Sinnbild für all das verstanden werden, was sich in diesen Episoden und Skurrilitäten für jeden auf irgendeine Weise wiederfindet: Die erotische Begegnung. Folgen Sie Jennifer Sonntag auf eine literarische Expedition in den zwischenmenschlichen Dschungel der Begierden. Lassen Sie sich überraschen von fiktiven und ausgelebten Fantasien, von persönlichen Abrechnungen und intimen Erinnerungen mit unverhofften Wendungen und überraschendem Ausgang!
Jennifer Sonntag ist eine vielseitig interessierte und interessante Frau, deren Lebensweg nicht ganz konventionell ist. Die studierte Diplom-Sozialpädagogin arbeitet am Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte in Halle/Saale. In der Sendung »selbstbestimmt!« führt sie im MDR-Fernsehen Interviews mit prominenten Studiogästen wie Ranga Yogeshwar, Alfred Biolek oder Stefan Kretzschmar - aus der Sicht einer jungen blinden Frau.
In ihren Büchern reibt sie sich gern an Themen mit Ecken und Kanten. Auf diese Weise versucht sie Menschen aufzuklären und die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Jennifer Sonntag war in ihrer Jugend Punk, ist beeinflusst von der Gothic-Szene und möchte sich nicht an Spießigkeiten und Klischees festklammern. Vielmehr geht es ihr darum, die Dinge lebensbejahend, lustbetont und sinnlich anzugehen – so auch bei Ihrem neuesten Buch »Zigaretten danach« für das sie 18 Autorinnen und Autoren wie Claudia Feger, Sonja Ruf oder Volly Tanner gewinnen konnte.
Besuchen Sie unseren Stand auf der Leipziger Buchmesse, auf der neben einem Überblick zum vielseitigen Verlagssortiment auch das Buch »Zigaretten danach« angeboten wird. Die DZB Leipzig finden Sie in Halle 3 am Stand B307.
»Zigaretten danach« - herausgegeben von Jennifer Sonntag.
Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig
Texte: Michael Bammes, Donata, Sven-André Dreyer, Elfenkotze, Claudia Feger, Hauke von Grimm, Lord Schadt, Roland Quant, J. Yeti Rohrberg, Tristan Rosenkranz, H.C. Roth, Dirk "Dirot" Rotzsch, Karl Rudolf, Sonja Ruf, Thomas Sabottka, Michael Schweßinger, Jennifer Sonntag, Volly Tanner.
1 CD DAISY | Sprecherteam | BNV 6881 | 2:25 h| 9,95 Euro
Kontakt DZB Leipzig
Katja Lucke | Referentin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Telefon 0341 711 3-2 39 | E-Mail presse@dzb.dewww.dzb.de
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VON DETLEF FÄRBER, 23.02.2010
HALLE/MZ. Ein Zauberspiegel, der sprechen kann - ja das wäre ihr Traum. Er müsste gar nicht dauernd Süßholz raspeln, wie der von Schneewittchens böser Stiefmutter. Aber wenigstens mal sagen, ob der Lippenstift passt und die Frisur sitzt. Oder dann Laut geben, wenn irgendwo doch mal irgendwas verrutscht ist.
Freilich kann man das auch ohne Zauberspiegel lösen. Wie, das hat die blinde hallesche Autorin Jennifer Sonntag in ihrem ersten Buch "Verführung zu einem Blind Date" eindrucksvoll beschrieben. Jetzt hat sie das Thema neu aufgerollt und vertieft - mit der von ihr initiierten und betreuten Anthologie "Hinter Aphrodites Augen", in der neben ihr selbst auch 21 andere blinde Frauen aus halb Europa zu Wort kommen. Demnächst zur Buchmesse soll das Ergebnis vorgestellt werden.
Das Thema Schönheit in allen Facetten des Empfindens - zwischen Selbstzweifel und Erotik bis hin zur weiblichen Eitelkeit - und mit allen praktischen Problemen wird darin ausführlich erörtert. Doch vor allem auch die Frage, wie das Schönsein denn funktionieren kann, wenn man selber nichts davon sieht - wenn einem kein Kontrollblick möglich ist. Der nämlich klärt nicht nur, ob man heute schön ist, sondern - viel wichtiger noch - ob es der andere auch bemerkt hat. Und was daraus folgen kann.
Jennifer Sonntag geht das Problem auch diesmal wieder sehr offensiv an. Die 31-jährige hallesche Sozialpädagogin, die im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte arbeitet, begreift ihr Schicksal zugleich als Chance - und wirbt bei anderen dafür, es damit ebenso zu halten. Gleich eingangs stellt sie der sehenden Welt eine wunderbar ketzerische Frage, ob nämlich Blindheit "angesichts des multimedialen Blendwerks" nicht sogar "einen tiefgründigeren und wahrhaftigeren Zugang zur eigenen Schönheit zulässt"?
Die Frage lässt Jennifer Sonntag nicht unnötig lange im Raum herumstehen. Es gehe den Leuten doch "viel Sinnlichkeit verloren", wenn sie ihre Umwelt oder ihr Gegenüber "immer nur optisch einscannen", sagt die Autorin, die in ihrer Interviewreihe "Sonntagsfragen" im Fernsehen schon bei einer ganzen Reihe von Prominenten sozusagen hinter die Fassade geblickt hat.
"Blindheit darf auch Spaß machen", sagt, schreibt, ja predigt Jennifer Sonntag. Sie meint damit auch Genussfähigkeit. Die steigern "Augenbenutzer" – wie sie uns nennt - ja bekanntlich meist erst dadurch, dass sie die Augen mal schließen. Was dann mit der Wahrnehmung passiert, darauf verstehen sich Blinde offenbar virtuos. Es muss wohl so etwas sein wie ein interkultureller Dialog zwischen den Sinnen. Schönheit werde dann anders erfahren - erlauscht, erspürt, erlebt.
Freilich dürfe das alles nicht als Ausrede dafür herhalten, dass man sich den weiblichen Frondienst erspart: den am Schminktisch, vor dem Kleiderschrank oder gar der aufreibenden Fahndungsarbeit quer durch den Textilhandel oder alle erreichbaren Häuser des Damenschuhvertriebs. In dieser Hinsicht nimmt Jennifer Sonntag sich und ihre Geschlechtsgenossinnen auch mal streng in die Pflicht. Allerdings auch nicht, ohne damit ein Projekt zu verbinden. Mode ohne hingucken - was für ein Thema! Aber mehr will Jennifer Sonntag darüber noch nicht verraten.
"Hinter Aphrodites Augen" von Jennifer Sonntag (Hrsg.) wird im Verlag "Paperone" erscheinen und 9,95 Euro kosten. Die Buchpremiere findet am 19. März, 20 Uhr, in der Deutschen Zentralbücherei Leipzig statt.
Zurück zum Seitenanfang PresseRezension
Hinter Aphrodites Augen. Vom Schönheitsempfinden blinder Frauen
Jennifer Sonntag (Hrsg.):
Als ich noch sehend war und blinden Frauen begegnete, fragte ich mich oft, wie wohl "hinter" ihren Augen die Schönheit aussehen möge. Ich entwickelte eine große Angst vor meiner bevorstehenden Erblindung, da Schönheit für mich ausschließlich optisch wahrnehmbar schien. Schließlich gelang es mir zunehmend, meine Blindheit und mein Frausein miteinander zu vereinbaren.
Im Rahmen meiner sozialpädagogischen Beratungstätigkeit am Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte in Halle wurde mir bewusst, dass sich auch andere erblindende Frauen mit dem Verlust ihres Augenlichts um ihre Definition von Schönheit beraubt fühlten. Oft hängt die eigene Tagesform davon ab, ob Frau sich im Spiegel gefällt. Gefällt sie sich gut, geht sie selbstbewusst und im Einklang mit sich und der Welt auf ihre Mitmenschen zu. Sitzen der Rock oder die Bluse, der Lidstrich oder die Frisur nicht perfekt, wird sie unsicher und gebärdet sich auch so. Der Spiegel dient der Korrektur optischer Unzulänglichkeiten und gleicht dass innere und äußere Selbstbild aufeinander ab. Aber was ist eine Frau ohne ihr Spiegelbild? Keine Frau mehr?
Abgesehen davon, dass Frau befürchtet, durch ihr Handicap die eigene Weiblichkeit zu verlieren, wird sie auch von ihrer Umwelt plötzlich als Neutrum wahrgenommen. Ein Behinderten-WC ist schließlich "unisex", da gibt es kein männlich und weiblich mehr, oder? Frau fürchtet nun, auf ihre Blindheit reduziert zu werden. Die Leute reden nicht mehr über "die Temperamentvolle", "die Gutaussehende" oder "die Erfolgreiche", sondern über "die Blinde".
Blind geborene Frauen erleben diesen Identitätswandel nicht, da sie nicht zwischen den Welten switchten. Nun lässt sich darüber streiten, ob das ein Vor- oder Nachteil ist. Auch wenn sich die kognitiven Voraussetzungen beider Personengruppen unterscheiden, sind sie in ihrer unterschiedlichen Färbung doch gleichermaßen ernst zu nehmen. Eine spät erblindete Frau ist sich sehr bewusst darüber, was sie verloren hat. Eine geburtsblinde Frau hingegen, kann nicht auf optische Erinnerungen zurückgreifen und empfindet dies nicht selten als Manko. Ich begleitete zahlreiche Körpersprachekurse für blinde und erblindete Betroffene sozialpädagogisch und thematisierte mit den Teilnehmerinnen die Bedeutung nonverbaler Botschaften in der sehenden Welt. Die eigene Haltung, die Gangart, der Gesichtsausdruck, die Kleidung, die Figur, die Frisur, die Art sich zu schminken und die daraus resultierende Ausstrahlung bestimmen dabei die Außenwirkung einer jeden Frau. Im vorliegenden Buch haben sich sowohl geburtsblinde als auch spät erblindete Frauen ihrem ganz persönlichen Schönheitsempfinden gestellt. Einige unter ihnen fanden durch die intensive emotionale Auseinandersetzung mit ihrem Textbeitrag erstmals einen Zugang zu ihren verdrängten Ängsten und Bedürfnissen. Ich bin sehr dankbar für diese offene Auseinandersetzung. Insgesamt 21 blinde Frauen zwischen 20 und 66 Jahren aus ganz Deutschland, aus der Schweiz, aus Österreich, aus Dänemark, aus Norwegen und aus England fanden den Mut zu ihrer eigenen und einzigartigen Weiblichkeit. Wobei sich hier die Frage stellt, ob Blindheit, angesichts der sensorisch verrohten Gesellschaft, nicht sogar einen tiefgründigeren und wahrhaftigeren Zugang zur eigenen Schönheit zulässt. Nicht zuletzt besteht der Auftrag dieses Buches darin, dem Leser genau diese Kontroverse bewusst zu machen.
Dirot (Co-Autor):
Die Darstellung von Ästhetik zielt auf die Macht der Bilder, wir alle sind Sklaven des allgegenwärtigen visuellen Blendwerks. Längst sind optische Fassaden in dieser Welt wichtiger als das Fundament, ganze Lebensinhalte werden darüber definiert. Ganze Karrieren gründen sich auf Aussehen, ganze Industrien verkaufen die Illusion von ewiger Schönheit. Müßig sich vorzustellen: Was wäre wenn? Was, wenn man zum Wanderer im Nebel wird, sich und andere nicht mehr sehen kann?
Für die Protagonistinnen dieses Buches ist dies keine rhetorische Frage, kein Selbsterfahrungstrip auf Zeit, sondern eine erzwungene Neuorientierung für ein Leben in Version 2.0. Frau bekommt in diesem Buch vielfältige Antworten auf die Frage, wie die Balance gelingt, auf der einen Seite die Vorzüge des Sehens nicht mehr zu genießen, andererseits sich aber in einer Welt zu behaupten, die von Visualität geprägt, ja fast schon terrorisiert wird. Klinkt man sich als Nichtsehender optisch aus? Wird man zum zynischen Verweigerer? Mit Nichten! Blinde Frauen sind auch "Fashionvictims", wollen gefallen und finden Gefallen an schönen Menschen. Nur die Reihenfolge der Wahrnehmung des Gegenübers ist eine andere. Besonders viel Charme hat die Vorstellung, dass in einer Welt, in der Niveau wichtiger ist als Nivea, Botox–Beautys ganz "schön" alt aussehen. Das Buch ist kein Statement der Verweigerung, sondern der Emanzipation:
"He seht her, wir sind nicht die betongrauen Mäuse – wir sind schön!" Ganz klar wird dem Leser, dass es keine Welt der Blinden gibt, sondern dass wir alle in der selben Welt leben. Und die Autorinnen lassen sich nicht an den Rand drängen, vielmehr laden sie Sehende dazu ein, der visuellen Sicht auf die Umwelt neue Fassetten hinzu zufügen. Ein Buch, das Betroffenen Mut macht, das Licht am Ende des Tunnels wenn schon nicht zu sehen, dann aber wohl hören, fühlen, riechen und schmecken zu können. Und dieses Buch birgt überraschende Einsichten für die, die durch optische Illusionen den Blick für das Schöne verloren haben. Vielleicht regt es auch an, den eigenen Schönheitsbegriff kritisch zu hinterfragen. Denn: "Die Sehenden sind taub in den Augen der Blinden"(Tom Manegold).
Claudia Feger (Fotografin, Co-Autorin):
Weiblichkeit und Schönheit, beide Attribute wurden in der Antike der Göttin Aphrodite zugeschrieben. Sie war die Gewinnerin des Wettstreits um den goldenen Apfel, welcher "der Schönsten" zustand. Doch durch ihr Äußeres allein gewann sie nicht.
Alle drei Göttinnen, Hera, Athene und Aphrodite, versuchten den Halbgott Paris, der die Wahl treffen sollte, mit wertvollen Geschenken zu bestechen. Aphrodite konnte das Urteil für sich entscheiden. Die Liebe setzte sich gegen die Weltherrschaft und die Weisheit durch. Was bleibt von diesem Mythos im 21. Jahrhundert?
Täglich wird in unserer multimedialen Gesellschaft die Vorstellung vermittelt: Nur wer jung und schön ist, kann auch erfolgreich sein. Der Wahn nach körperlichem Perfektionismus verlangt nach makellosen Menschenfassaden. Hier zeichnet sich eines der Probleme ab, mit denen gehandicapte Menschen zu kämpfen haben. Blinde Frauen werden oft in erster Linie als Neutren wahrgenommen. Das Stigma schaltet der Schönheit das Licht aus.
Im vorliegenden Buch wird spürbar, dass blinde Frauen sehr bewusst ihre ganz persönliche Definition von Weiblichkeit und Erotik leben und dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit einen sehr sinnlichen Umgang mit dem Schönheitsbegriff ermöglicht. Hier verdient jede von ihnen einen goldenen Apfel.
ISBN 978-3-941 134-51-5
10 von 10 Punkten
Autor: CF Tara
Zurück zum Seitenanfang PresseBuchtipp
Verführung zu einem Blind Date
Sie können – noch – sehen? Sie hatten schon einmal den Gedanken, dass Sie sich umbringen würden, wenn Sie das Pech hätten, eines Tages zu erblinden? Sie haben schon einmal einen Blinden dabei beobachtet, wie er mit einem weißen Stock seines Weges geht, sind ihm vielleicht einige Meter gefolgt und haben sich gewundert, wie er das so macht? Sie wollten sogar schon einmal einem Blinden über die Straße helfen, wussten aber nicht, wie Sie ihn hätten ansprechen sollen? Sie haben schon einmal über einen Blindenwitz gelacht, ohne sich zu schämen? Sie können sich nicht vorstellen, dass auch Blinde am Aussehen des anderen Geschlechts, ebenso wie an ihrem eigenen Aussehen, Interesse haben? Nun, in Jennifer Sonntags Buch Verführung zu einem Blind Date geht es um diese Fragen und noch viel mehr.
Wie sieht der Alltag eines blinden Menschen aus? Wie findet er sich zurecht? Wie denkt er? Was fühlt er? Ärgert er sich über die gleichen Dinge wie ein Sehender? Lacht er über die gleichen Witze? Wie führt ein Blinder seinen Haushalt? Auf all diese Fragen weiß Jennifer Sonntag eine Antwort. Wohl noch nie wohnte der Darstellung persönlicher Ordnungssysteme ein solcher Zauber inne, wurden Gewürzregale so poetisch beschrieben. Durch einen sehr intimen, persönlichen Schreibstil gelingt es ihr, den Leser an die Hand zu nehmen, ihn ohne anzustoßen durch einen in Dunkelheit gehüllten Alltag zu führen und ihm ein wenig das "Sehen" ohne Augenlicht näherzubringen. So erfährt der Leser alles über die kleinen und großen Freuden und Leiden, die die Bewältigung des Alltags für blinde Menschen so mit sich bringen kann.
Styling ohne Spiegelbild, Shopping ohne Schaufenster, Orientierung und Mobilität im öffentlichen Raum – eine bloße Aufzählung der behandelten Themen wird dem Charakter des Buches nicht gerecht. Es ist ein Sachbuch, und doch ist es mehr als das. Es vermittelt "ein Gefühl für die Sache", so dass man als Sehender eine ungefähre Vorstellung bekommt, was es heißen könnte, seinen Alltag ohne Augenlicht zu bewältigen, nicht nur technisch, sondern vor allem auch emotional.
Jennifer Sonntag ist nicht im Auftrag des Herrn unterwegs, aber sie hat eine "Mission", uns Sehenden ein Gefühl und eine Vorstellung davon zu vermitteln, was es konkret heißt, blind zu sein und das ein ganzes liebes Leben lang. Ihr geht es dabei nicht nur darum, zu beschreiben, wie man als Blinder von A nach B kommt oder wie man im Restaurant sein Essen bestellt. Ihr geht es um die vielen kleinen Teufelchen, die in jedem noch so schönen Augenblick stecken, und wie diese höllischen Biester ganz schön an der Psyche nagen können. Oft handelt es sich um Situationen, über die sich ein Sehender keinen Gedanken machen muss, die aber einen Blinden vor enorme Probleme stellen können.
Jennifer Sonntag – selbst spät erblindet – will zwischen der Welt der Sehenden und der Welt der Blinden vermitteln. Ihr Buch ist dabei sicher ein sehr hilfreicher Baustein. Damit eine Lektüre dieses Ziel erreichen kann, muss der Leser selbst während der trockensten Passagen bei der Stange gehalten werden, sonst legt er sie schnell zur Seite, und ich denke, dies ist Jennifer Sonntag äußerst gut gelungen. Immer wieder trifft man auch in Themenwüsten auf grüne Oasen, in denen man von ihr inspiriert und zum Weiterlesen verführt wird. Themen wie "lebenspraktische Fähigkeiten" dem Leser unterzuschieben, ohne dass er das Buch gleich wieder zuklappt, ist kein leichter Job, auch wenn man bei Jennifer Sonntag diesen Eindruck gewinnen könnte. Wem der Stil der Autorin zusagt, der bekommt eine sehr persönliche Einführung in das Leben und Erleben eines blinden Menschen.
Jennifer Sonntag: "Verführung zu einem Blind Date" (Paperone Edition)
Das Buch im DAISY-Format ist in unserer Hörbücherei zu erhalten. Interessenten wenden sich bitte an info@blista.de oder telefonisch unter 06421-6060.
Winfried Thiessen
Zurück zum Seitenanfang PresseVON ANTONIE STÄDTER, 26.06.09
Halle/MZ. Wer Jennifer Sonntag begegnet, sieht sofort: Diese Frau hat Spaß an ihrem Stil. Der ist geprägt von der Gothic-Szene, sie mag Korsagen, Lack und die Farbe Schwarz. Etwas mondän, ein wenig extravagant. Gewagte Schnitte, Röcke gern kurz. Dazu auffälliger Schmuck. Jedes Detail stimmt. Ein Outfit, das seine Wirkung nicht verfehlt. Die 30-Jährige weiß, wie es ist, alle Blicke auf sich zu ziehen - auch, wenn sie diese nicht wahrnehmen kann. Sie kennt ihr Spiegelbild - doch in ihrer Erinnerung wird es immer undeutlicher. Mehr als zwanzig Jahre lang lebte die groß gewachsene, schlanke Frau als Sehende. Während ihrer Studienzeit erblindete sie. Und so schwingt Melancholie mit, wenn sie diesen Satz sagt: "Ich habe einen unheimlich sehenden Anspruch an mein Leben."
Sie sei ein Ästhet, sagt sie, "dummerweise erst heute". Früher, als sie in Teenagertagen als Punkerin vor allem provozieren wollte, gehörten Flecke und Risse in der Kleidung wie die bunten Haare zu ihrer alltäglichen jugendlichen Rebellion. "Heute wäre ein Fleck auf der Bluse fast schon tragisch", sagt sie. Solch eine Kleinigkeit könnte sie bloßstellen - genauso wie ein schief gezogener Lidstrich oder eine Laufmasche in der Strumpfhose. Dann würde sie von anderen womöglich nur als die bemitleidenswerte Blinde angesehen werden - wie es immer wieder vorkommt. Doch ihr ist es sehr wichtig, eben dieses Klischee nicht zu bedienen.
"Als blinde Frau wird man häufig als Neutrum wahrgenommen", sagt die Hallenserin. Auf die Blindheit reduziert. Dabei hat sie mit dem Augenlicht doch nicht ihre Lust am Frausein verloren - auch, wenn es sich ohne Rückmeldung vom Spiegel und von anderen manchmal so anfühle, als schwebe man durch eine eigene Welt. Gerade arbeitet sie an einem Buch über das Schönheitsempfinden blinder Frauen. "Hinter Aphrodites Augen" soll es heißen und im Spätherbst erscheinen.
Mehr als zwanzig blinde Frauen erzählen darin, wie sie Schönheit bei sich und bei anderen erleben und ihre weibliche Identität definieren. Neben Späterblindeten schreiben dort auch von Geburt an Blinde. "Düfte spielen für die meisten eine große Rolle", erzählt die Autorin. "Aber an Schminke trauen sich viele nicht ran." Und richtig mutig in Sachen Styling seien nur ganz wenige, bedauert sie. Daneben sollen in dem Buch Menschen zu Wort kommen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen. Zum Beispiel eine Image-Beraterin für blinde Frauen. Oder eine Schmuckdesignerin, die für Blinde entwirft, indem sie besonderen Wert darauf legt, dass sich die Schmuckstücke gut anfühlen oder sogar klingen.
Jennifer Sonntag musste bereits als Jugendliche mit der Gewissheit leben, dass sie ihre Sehfähigkeit bald verlieren würde. Sie leidet an einer Netzhautdegeneration, die schrittweise zu Nachtblindheit, einer Einengung des Gesichtsfeldes, dem Verlust des Kontrast- und Farbsehens und letztlich zur Blindheit führt. Während ihres Sozialpädagogik-Studiums in Merseburg verschlimmerten sich die Symptome. Anfangs verdrängte sie das: Ihren Traum, einmal als Streetworkerin zu arbeiten, wollte sie nicht aufgeben. "Ich habe versucht, so weiter zu leben wie zuvor", sagt sie. Das wurde immer schwerer. Irgendwann konnte sie Bücher und Aufzeichnungen nicht mehr lesen, musste sich den Lernstoff mit dem einprägen, was sie in den Vorlesungen gehört hatte. Ihr Spiegelbild zu verlieren, habe dabei zu den schmerzlichsten Erfahrungen gehört, erinnert sie sich: "Ich suchte mich und fand mich nicht mehr. Ich spiegelte mich nicht mehr im Vorübergehen in den Schaufenstern, nicht mehr in den Pfützen und auch nicht im Suppenlöffel."
Trotz der Verzweiflung, die sie immer wieder überkam, konzentrierte sie sich nun darauf, ihre Zukunft neu zu planen. Sie nahm Abschied von ihrem Traumberuf und wählte die Reha-Pädagogik als Studienschwerpunkt aus. In ihrem Praxissemester arbeitete sie im halleschen Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte (siehe "Hilfe bei Neueinstieg"). Allmählich begann die junge Frau, sich selbst wiederzufinden. "Ich lernte, mit den Fingerspitzen, mit den Ohren, mit der Nase, mit dem Mund und mit der Intuition zu sehen", sagt sie. Der Ausdruckstanz half ihr, sich und ihren Körper wahrzunehmen. In dieser Zeit habe sie auch ein ganz anderes Bewusstsein für ihre Stimme, Ausstrahlung und Persönlichkeit entwickelt. "Mein neuer Spiegel war tiefgründiger, ehrlicher und lebendiger als es die reflektierende Glasscheibe in meinem Badezimmer je sein konnte."
Und sie entdeckte, dass es ihr immer noch Spaß machte, sich in Schale zu werfen. Sie schuf ein eigenes System, mit dem Verwechslungen ausgeschlossen sind:
Die Kleidungs- und Schmuckstücke bekommen einen festen Platz zugewiesen, Kosmetikartikel werden in Körben geordnet. Strumpfhosen mit Laufmasche kriegen einen Knoten. Mit bunten Edelsteinen trainiert sie das Farbgedächtnis: Beim Ertasten ihrer Formen kommen die Erinnerungen an deren Farben hoch. Im Ernstfall vertraut sie auf den Rat von Freunden.
Im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte ist Jennifer Sonntag heute als Sozialpädagogin tätig: In dem Projekt "Sensorische Welt" können Sehende nachempfinden, wie es ist, im Dunkeln zu leben. Das können sie im Übrigen auch in ihrem Buch "Verführung zu einem Blind Date", das im vorigen Jahr veröffentlicht wurde. Darin beschreibt sie das Blindsein vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte. Die dazugehörige Dunkellesung im Neuen Theater in Halle wurde zum Publikumserfolg. Bald soll es sie wieder geben.
Daneben interviewt die energiegeladene Frau, die sich für Esoterik, Musik und Fotokunst interessiert, im Fernsehen Prominente. Für die monatliche MDR-Sendung "Selbstbestimmt", in der es um das Leben mit Behinderung geht, plauderte sie beispielsweise schon mit Alice Schwarzer, Reinhold Messner und Reiner Calmund.
Besonders aufgeregt war sie aber bei dem Gespräch mit Ex-Handballer Stefan Kretzschmar. "Da mussten bei mir zum ersten Mal die Hände abgepudert werden", lacht sie. Dabei hat sie bei den Interviews kaum Zeit für Nervosität: "Ich bin dann immer extrem konzentriert." Denn als Späterblindete sei sie kein sehr schneller Punktschriftleser - deshalb muss sie sich alle ihre Fragen genau merken. Zudem ist es für sie natürlich schwierig, die Kamera zu fixieren. Am eindrücklichsten sei das Gespräch mit Alice Schwarzer gewesen: "Sie ist ja unheimlich kommunikativ." Die Feministin hatte sie sogar ihr Gesicht und ihre Haare erfühlen lassen.
Bei allem, was sie tut, sieht sich Jennifer Sonntag als Botschafterin zwischen blinden und sehenden Menschen. Schließlich versteht sie beide Seiten – als "Zwischenweltlerin", wie sie sich nennt: Sie sei "eine Erblindete, die nicht mehr sehen kann und eine Sehende, die noch nicht blind sein kann". Diesen vermeintlichen Widerspruch weiß sie zu nutzen - und räumt mit Vorurteilen auf, auf die sie immer wieder stößt. Etliche Menschen bemerkten etwa gar nicht, dass blinde Frauen meist sehr selbständig und zudem berufstätig sind: "Viele denken, mein Freund ist so etwas wie mein Zivildienstleistender, der mich umsorgt, füttert und schminkt." Dabei führe sie eine ganz normale Partnerschaft - mit einer Ausnahme: "Ich bedaure sehr, dass ich die verliebten Blicke nicht wahrnehmen kann, die er mir entgegen bringt", sagt sie.
Die Sendung "Selbstbestimmt" läuft am Samstag, 11.05 Uhr, im MDR (Wiederholung am Montag, 9.20 Uhr). Jennifer Sonntag befragt die Schauspielerin Katy Karrenbauer.
Zurück zum Seitenanfang PresseSie hat immer eine Frage mehr als Antworten. Sie möchte konventionelle Denkräume verlassen und unbekannte Sichtweisen erkunden – für sich und für andere. Jennifer Sonntag ist Sozialpädagogin, Ex-Punk, Grenzgängerin, Kämpferin, Model, Moderatorin und Autorin. Im März erscheint ihr Buch "Verführung zu einem Blind Date" auch als DAISY-CD.
Jennifer Sonntag ist es gewohnt, dass sie alle Blicke auf sich zieht. Früher war sie in der Punkszene unterwegs, hatte bunte Haare und trug betont zerschlissene Sachen. Sie scherte sich nicht darum, gut auszusehen. Heute lebt die groß gewachsene, gertenschlanke Frau ihr Faible für Schwarz aus, trägt gern Korsagen, wallende Kleider, auffälligen Schmuck. "Ich bin ein Ästhet", sagt sie und ergänzt: "dummerweise erst jetzt." Denn die 29-Jährige kann nicht sehen, welche Wirkung sie auf ihre Mitmenschen hat. Während ihres Studiums erblindete sie. Ohne die Rückmeldung vom Spiegel und von anderen sei es, als schwebe man durch eine eigene Welt. "Man darf das Vertrauen in sein Selbstbild nicht verlieren", sagt sie. (Textausschnitt von Antonie Städter, dpa)
Geboren wurde Jennifer Sonntag 1979 in Halle an der Saale. Bereits in ihrer frühen Jugend erklärte sie es sich zur Aufgabe, die Gesellschaft für sozial benachteiligte Mitmenschen zu sensibilisieren. Was lag da näher, als die Berufung zum Beruf zu machen? Jennifer Sonntag studierte Sozialpädagogik an der Fachhochschule Merseburg – mit dem Ziel, in der Sucht- und Drogenarbeit tätig zu werden. Eine Zäsur in ihrem Leben bedeutete ihr immer schlechter werdendes Sehvermögen, welches in der vollständigen Erblindung mündete. So musste sie ihren Plan, als Streetworkerin zu arbeiten, ad acta legen. Sie wechselte den Studienschwerpunkt und fand schließlich in der Rehabilitationspädagogik eine Möglichkeit, sich für Menschen zu engagieren, die "anders normal" sind – nicht nur aus Passion oder beruflichem Interesse, sondern nun als Betroffene.
Seit Abschluss ihres Studiums arbeitet Jennifer Sonntag als Diplomsozialpädagogin im Berufsförderungswerk Halle. Innerhalb des Projekts "Sensorische Welt" vermittelt sie in Seminaren und Vorträgen Basiskenntnisse zum Thema Blindheit und Sehbehinderung. Sie berät Betroffene im Umgang mit dieser Behinderung und eröffnet normal Sehenden eine bislang unbekannte Welt. Die in den Seminaren am häufigsten gestellten Fragen beantwortet Sonntag in ihrem Buch "Verführung zu einem Blind Date", das pünktlich zur Buchmesse bei der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB) als DAISY-CD erscheint. Die Autorin nimmt den Leser freundschaftlich an die Hand und führt ihn als Betroffene wie als Sozialpädagogin durch die einzelnen Kapitel. Dabei geht es keinesfalls darum, Mitleid zu erheischen, sondern darum, Berührungsängste abzubauen und einen vorurteilsfreieren zwischenmenschlichen Umgang zu fördern. Um die Welt des Unsichtbaren noch weiter zu öffnen, etablierte Jennifer Sonntag eine Reihe mit Dunkellesungen, für die sie Ines Heinrich Frank als Vorleserin gewinnen konnte. Die stets bis auf den letzten Platz ausverkauften Veranstaltungen im Neuen Theater auf der Kulturinsel Halle bestätigen den verführerischen Charme des Buchs.
Derzeit arbeitet Jennifer Sonntag gemeinsam mit der klientenzentrierten Beraterin und Supervisorin Heike Hermann an einer Anthologie mit dem Arbeitstitel "Blind Beauty" (vgl. "Gegenwart" 11/2008). Blinde Frauen sind aufgerufen, sich zu ihrem ganz persönlichen Schönheitsempfinden zu äußern. Die Herausgeberinnen wollen deutlich machen, dass Weiblichkeit und Erotik auf der einen und Blindheit auf der anderen Seite sich nicht widersprechen. "Blinde Frauen sind keine Exoten", betont Sonntag. "Sie sehen nur anders. Aber angesichts des allgegenwärtigen multimedialen Blendwerks stellt sich die Frage, ob diese andere Sichtweise wirklich ein Handicap ist oder nicht sogar eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit den wahren Werten des Menschseins ermöglicht." Inzwischen haben sich zahlreiche Frauen aus ganz Deutschland und darüber hinaus aus Österreich, der Schweiz, Dänemark und England auf die Ausschreibung gemeldet, so dass mit einem spannenden Potpourri gerechnet werden kann.
Seit 2008 moderiert Jennifer Sonntag für das MDR-Magazin "Selbstbestimmt!" das Interviewfenster "Sonntagsfragen". Sie regt ihre prominenten Gesprächspartner dazu an, konventionelle Denkräume zu verlassen und einen Blick über den Tellerrand zu wagen. So eröffnen sich dem Zuschauer bislang unbekannte Sichtweisen, sowohl über den jeweiligen Prominenten als auch über eine Lebenswelt, die den meisten "Guckis" – wie Jennifer Sonntag die Sehenden scherzhaft nennt – verborgen bleibt.
Doch die junge Moderatorin, Autorin und Sozialpädagogin lässt sich nicht allein auf die Thematik der Blindheit reduzieren. "Ich möchte mit meinen Projekten Schallmauern durchbrechen, um meine Mitmenschen für Lebenswelten zu sensibilisieren, die außerhalb konventioneller Denkmuster existieren", erklärt sie. "In meinen Auseinandersetzungen beleuchte ich vor allem die tabuisierten Facetten des Menschseins, um durch deren Transparentmachung ein höheres soziales Verständnis zu erlangen. Ich sehe es als meine Berufung, zwischen den Welten zu vermitteln und Menschen dazu anzuregen, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Als Sozialpädagogin und als Mensch halte ich wenig von samtbehandschuhten Scheinheiligkeiten. Nur wer nach unten steigt und nach oben fällt, kann seine wahre Mitte finden."
Was die Persönlichkeit von Jennifer Sonntag ausmacht: Sie hat immer eine Frage mehr als Antworten. Sie hat diese unstillbare Neugier, die so essentiell ist für ein kreatives Fortkommen. Was auffällt, ist, dass sie eigentlich nicht auffallen will. Sie sieht sich nicht als Bühnenmensch – im Gegenteil, sie arbeitet lieber im Hintergrund, schafft Netzwerke und Plattformen. Sie schreibt für Magazine und Almanache, schätzt Kunst und Kultur. Zu ihren Leidenschaften gehören schöne Düfte, weiße Weine, Edelsteine, gute Musik und gute Bücher. Sie liebt die Fotografie und lässt sich auf Vernissagen die ausgestellten Bilder farbenfroh beschreiben. Wenn sie selbst für Fotografen, Maler und kürzlich auch für einen italienischen Bildhauer modelt, kann sie das Bildmotiv durch das Einbringen ihres eigenen Körpers mitgestalten.
Privat möchte Jennifer Sonntag einfach nur Mensch sein und ihre Blindheit zur Nebensache machen. Denn nach eigener Aussage bereiten ihr öffentliche Auftritte ungesunden Stress. Sie tut es nicht für sich, sie tut es für die gute Sache. Und das macht sie sympathisch und authentisch. Jennifer Sonntag lässt jene Härte vermissen, die Menschen auszeichnet, die es "geschafft haben". Sie hat sich ihre emotionale Fragilität erhalten – auch für Andere. Sie hat Antennen für ihr Umfeld, für ihre Mitmenschen. All zu oft ist sie Seelsorger, wenn sie selbst Seelenheil braucht. Jennifer Sonntag ist eine Kämpferin und jeder sollte sich einmal ganz persönlich die Frage stellen, ob er alles versucht hat, um auf dieser Welt für sich und andere etwas Positives zu bewirken, zu bewegen, zu hinterlassen. Das Leben ist nicht dazu geschaffen, sich auf Ausreden auszuruhen.
Dirk Rotzsch, Autor, freier Journalist und Musiker
Zurück zum Seitenanfang PresseDie 1979 in Halle (Saale) geborene Autorin und Sozialpädagogin JENNIFER SONNTAG gehört zu jenen Personen, für die der Tag statt 24 auch gerne 240 Stunden haben dürfte. Und dennoch würde sie höchstwahrscheinlich noch in Zeitnot geraten. Die junge Frau hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine Brücke zu schlagen, zwischen der Welt der Sehenden und der Welt der Blinden.
JENNIFER SONNTAG ist vor einigen Jahren selbst vollständig erblindet. Was für Viele einen unüberwindbaren Schicksalsschlag bedeuten würde, der zu Resignation und Verzweiflung führt, wurde von JENNIFER stets auch als neue Chance begriffen. Unabhängig und mit viel Energie geht sie durchs Leben und ist in den verschiedensten kulturellen Projekten aktiv und kreativ unterwegs. Während ihrer Arbeit in der "Sensorischen Welt" des Berufsförderungswerkes Halle vermittelt sie in Seminaren und Vorträgen, mit Hilfe simulierter Licht- und Sichteffekte, Basiserkenntnisse zum Thema Blindheit und Sehbehinderung und berät Betroffene, aber auch "Guckis", wie sie die Sehenden liebevoll nennt, im Umgang mit dieser Behinderung. Zudem moderiert sie seit 2008 für das MDR-Magazin "Selbstbestimmt!" das Interviewfenster "SonntagsFragen". Prominente Gesprächspartner und Zuschauer werden dazu angeregt, Grenzgänge zu wagen und selbstverständlich gewordene Denkmuster zu verlassen. Des Weiteren veranstaltet sie in regelmäßigen Abständen so genannte "Dunkellesungen" im Puppentheater der Kulturinsel in Halle, bei denen sich die Zuhörer in völliger Dunkelheit auf ihre anderen Sinne verlassen müssen und so zu ganz neuem Selbstempfinden gelangen.
Auch als Autorin ist die junge Frau sehr umtriebig. Im Jahre 2006 erschien unter dem Pseudonym CONSTANZE S. der autobiografisch geprägte Tatsachenbericht "Märchenland im Müll – Der Zauber des Elends". Darin erzählt JENNIFER SONNTAG von der Straßenpunk- und Junkieszene ihrer Heimatstadt. In ihrem aktuellen Buch "Verführung zu einem Blind Date", welches bereits in der zweiten Auflage erschienen ist, beantwortet sie die meist gestellten Fragen, die ihr während ihrer Arbeit rund um das Thema Blindheit begegnen, in einem unverwechselbaren plastischen Schreibstil. "Ich bin blind und lade euch ein, die Welt mit meinen Augen zu sehen", heißt es auf dem Klappentext und folgt der Leser dieser Einladung, öffnen sich ihm spannende neue Eindrücke. Selbstverständlich, wie kann es als Frau – insbesondere wenn man sich der schwarzen Szene zugehörig fühlt – auch anders sein: kommen auch die Themen Shopping und Styling zur Sprache! Darauf und auf dem Stellenwert und dem Umgang mit dem Visuellen lag auch der Schwerpunkt in einem faszinierenden Interview mit JENNIFER.
Du warst über 20 Jahre lang sehend und bist dann vor einiger Zeit erblindet. Wie empfandest du diesen Prozess der Aneignung einer ganz neuen Welt und den Verlust einer anderen?
Natürlich birgt ein Verlust auch stets eine Chance. Ich bemühe in diesem Zusammenhang immer den Vergleich mit dem Phönix, welcher aus der Asche auferstand. Wer einmal sehen konnte, besitzt allerdings eine sehende Identität. Deshalb sehe ich mich eher als eine erblindete Sehende und weniger als eine Blinde. Kognitionen, Motivationen und Emotionen aus dem sehenden Leben lassen sich nicht einfach abschneiden. Somit sehe ich mich als Grenzgängerin zwischen den Welten.
Wenn man sich all deine Projekte so ansieht, muss man einfach feststellen: Du bist umtriebiger als mancher "Gucki". Empfindest du deine Blindheit als Nachteil und wie geht man mit Berührungsängsten des Gegenübers um, wenn diese auftauchen?
Die Blindheit zu akzeptieren bedeutet auch immer, die verschiedensten Reaktionen seiner Mitmenschen akzeptieren zu lernen. Dabei ist die Blindheit oft weniger problematisch, als das Verhalten mancher Leute im Umgang damit. Sozialer Umgang bedeutet ja nicht, sich sozial zu umgehen. Natürlich sind weder Blinde bessere Menschen, noch Gothics und somit kann es zu ganz normalen Reibungen, auch zwischen diesen Personengruppen kommen. Ich bin sehr offen und lösungsorientiert. Sollte Kommunikation allerdings einmal nicht helfen, muss ich den symbolischen "Blinker" setzen und "überholen". Generell empfinde ich die Blindheit innerhalb der zwischenmenschlichen Kommunikation schon als Nachteil, da ich in Internetforen oft nicht barrierefrei agieren kann oder bei direkten Begegnungen darauf angewiesen bin, dass ich angesprochen werde.
Welche Rolle spielt die Welt des Visuellen für dich heute? Man sieht z.B. in deinen Büchern sehr häufig Fotos und du modelst auch schon mal gern. Wie erschließt du dir diese visuellen Welten und ist es für dich einfacher, als für jemanden, der schon blind geboren wurde?
Ja, ich bin auch heute noch eine ausgesprochene Fotoliebhaberin, befasse mich mit Bildbänden und besuche Ausstellungen. Ich umgebe mich gern mit Menschen, deren Sprache es schafft, Fotografien in Worte zu gießen. Da ich mir Abbildungen oft bewusst von verschiedenen Personen beschreiben lasse, entsteht in meinem Kopf eine umfassende Vorstellung. Diese kann sich manchmal als farbenfroher erweisen, als die eines Sehenden, da er ja nur eine Sicht der Dinge, nämlich seine eigene, kennt. Beim Erstellen einer inneren Vorstellung helfen mir die Erinnerungen aus der sehenden Welt. Allerdings wird mir an dieser Stelle auch immer sehr bewusst, was ich verloren habe. Diesen Schmerz erfährt ein geburtsblinder Mensch weniger, da er eine blinde Identität besitzt.
Du bist nicht nur eine äußerst attraktive Frau, sondern noch dazu jemand, der sich der Gothic-Szene zugehörig fühlt, in der man ja bekanntlich sehr viel Freude an einem aufwändigen und extravaganten Styling hat. Wie wichtig ist Styling ganz allgemein für dich und auf was legst du dabei besonderen Wert?
Vielen Dank für das Kompliment. Verbale Rückmeldungen sind inzwischen sehr wichtig für mich geworden, da sie meinen Blick in den Spiegel ersetzen müssen. Als ich noch sehen konnte, verbrachte ich viele Jahre in der Punkszene und interessierte mich weniger für meine Attraktivität. Ausgerechnet jetzt, wo ich mich selbst nicht mehr erkennen kann, ist mir die optische Ästhetik extrem wichtig geworden. Nur weil ich nicht sehe, heißt das ja nicht, dass die anderen mich auch nicht sehen können. Ich werde also von "Augennutzern" bewertet, das ist ein Mängel aber auch ein Mittel der sehenden Welt. Also stehe ich mitten drauf, auf dem Markt der Eitelkeiten. Dabei ist mir besonders wichtig, dass ich authentisch bin und mich jenseits des gängigen Modediktats bewegen kann.
Beschreibe doch mal einen ganz normalen Stylingvorgang bei dir, wenn du dich Z.B. für einen Tag auf dem WGT zurecht machst. Wenn man diesen in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, kommt ja ganz schön viel zusammen: angefangen bei dem Styling der Haare, Make-up, Kleidung bis hin zu Accessoires und Schmuck. Holst du dir dabei Hilfe?
In Kleiderschrank und Badezimmer muss alles einen festen Platz haben. Diese Ordnung darf mir auch kein Sehender durcheinander bringen, denn sonst kann ich nicht mehr gezielt auf etwas Gesuchtes zurückgreifen. Auf der Kleiderstange gibt es eine festgelegte Sortierung: links die Kleider, dann die Röcke (erst lang, dann kurz), dann die Oberteile, darunter die Korsagen. Die Muster von Strumpfhosen muss ich erfühlen und frage notfalls noch einmal nach, ob sich ein Muster am Bein verdreht hat oder ich mir eine Laufmasche gezogen habe. Meinen Schmuck verwalte ich an einem Nagelbrett. In der ersten Reihe hängen die Ringe, in der zweiten die Armreifen, in der dritten die Bauchtanzgürtel und der Kopfschmuck und in der vierten die Ketten und Haarteile. Meine Kosmetikutensilien sind systematisch auf verschiedene Korbsysteme verteilt und mit Klebepunkten markiert. Die Stellfolge der Lippenstifte muss ich fest einhalten, damit ich nicht versehentlich mit Glitterschwarz am Arbeitsplatz erscheine. Frisuren kontrolliere ich mit dem Tastsinn. Für aufwändigere Schminkaufträge engagiere ich Freundinnen und für meine Fernseharbeit stehen mir Maskenbildner zur Verfügung. Düfte gehören für mich zum Styling unbedingt dazu und ich bin eine leidenschaftliche Parfümsammlerin.
Wo kaufst du deine Sachen ein und wie gestaltet sich das Shopping bei dir?
Anfangs war ich sehr betrübt, da ich mir keine Fashion-Kataloge mehr anschauen konnte, keinen Schaufensterbummel mehr machen konnte, mir keine optischen Anregungen mehr von anderen holen konnte. Gerade das WGT diente mir stets als visueller Inspirationsquell. Was dem Auge nicht präsentiert wird, existiert schlicht weg nicht für mich. Deshalb entwickle ich Outfits aus meinem Inneren heraus. Freundinnen bereichern meine Vorstellungskraft. Ich schätze Szeneläden, in denen ich gut beraten werde und mit meinen Fingerspitzen sämtliche Angebote erkunden kann.
Welches ist dein Lieblingsstück in deinem Kleiderschrank und ein Stil, den du gerne magst?
Meine absoluten Lieblingsstücke sind meine Korsagen. Eine Korsage ermöglicht sehr sinnliche Erfahrungen und fügt sich spürbar in mein Körperschema ein. Ich spiele gern mit Stilen, bin mal mondän, mal punky und mal elfengleich.
Was sind aktuelle Projekte, an denen du gerade arbeitest?
Momentan arbeite ich an einer Anthologie, welche sich mit dem Schönheitsempfinden blinder Frauen befasst. Mir ist wichtig, dass man als Blinde nicht automatisch als Neutrum wahrgenommen wird. Ich möchte in erster Linie als Frau, nicht als Blinde gesehen werden, mit all den Sinnesfreuden, welche die Weiblichkeit mit sich bringt.
Nancy Leyda
Zurück zum Seitenanfang PresseEin Interview mit Jennifer Sonntag
"Verführung zu einem Blind Date" heißt der Titel des Buches der Sozialpädagogin Jennifer Sonntag. Wer einen erotischen Liebesroman erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr wird auf witzige, spannende und manchmal auch traurige Weise über die Probleme von sehbehinderten und blinden Menschen berichtet. Claudia Feger sprach für LEO mit der Hallenserin über die Kommunikationsprobleme von Sehenden und Blinden.
LEO: Du hast zu Problemen zwischen Sehenden und Blinden Menschen das Buch "Verführung zu einem Blind Date" geschrieben. Man könnte sagen, dass es eine Mischung aus Fachbuch und Roman ist…
Sonntag: In meinen Seminaren werden sehr viele Fragen rund um den Erblindungsprozess an mich herangetragen. Da ich selbst einmal sehend war, kenne ich die Gesetze beider Welten und fühle mich berufen, zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen zu vermitteln. Die am häufigsten diskutierten Themen habe ich gesammelt und in meinem Buch bearbeitet. Dabei habe ich bewusst akademische Barrieren ausgespart und den Leser freundschaftlich an die Hand genommen. Barrierefreiheit bedeutet schließlich auch Verständlichkeit.
LEO: Was war Dir dabei besonders wichtig?
Sonntag: Mir war vor allem wichtig, dass ich das Blindheitsthema aus der staubigen Schublade nehme und es drastisch modernisiere. In vielen Köpfen wird Blindheit ausschließlich mit dem Bild eines grauen Opis mit schwarzer Sonnenbrille, gelber Armbinde und weißem Krückstock verknüpft. Aber Blindheit kann auch einem ganz modernen Lifestyle entsprechen, kann Attraktivität und Sinnlichkeit ausstrahlen. Ich hoffte mit dem Buch, Sehenden ihre Vorurteile nehmen zu können und Betroffenen Mut und Selbstbestimmung mit auf den Weg zu geben.
LEO: Was sind die häufigsten Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen Sehenden und Blinden?
Sonntag: Die Gesetzmäßigkeiten der nonverbalen Sprache und die Berührungsängste blinden Menschen gegenüber sind die grundlegendsten Ursachen für kommunikative Barrieren. Auf diese Weise können schon in einer Begrüßungssituation Missverständnisse oder Irritationen entstehen. Reicht der Sehende seinem blinden Gegenüber unkommentiert die Hand, wird der Blinde nicht reagieren. Schaut ein blinder Passant sehr angespannt und in sich gekehrt, bedeutet das nicht, dass er seinen Mitmenschen gegenüber Verbitterung empfindet, sondern dass er sehr konzentriert auf seinen Weg achten muss. Blickkontakte und körpersprachliche Signale in kommunikativen Situationen müssen für den Blinden verbalisiert oder zusätzlich kommentiert werden, damit er am sozialen Umgang teilhaben kann. Begriffe wie "hier" und "da" z.B. sind für den sehenden Gebrauch geschaffen und wären in der Kommunikation mit blinden Menschen nicht zielführend. Sozialer "Umgang" bedeutet für viele blinde Menschen leider oft, sozial "umgangen" zu werden.
LEO: Was kann man tun?
Sonntag: Aus diesem Grund entwickelte die Diplomsozialpädagogin Kirstin Wengler am BFW für Blinde und Sehbehinderte einen Körpersprachekurs für blinde und erblindete Teilnehmer. Sie informierte die Betroffenen aus der Sicht einer Sehenden über die Grundlagen der nonverbalen Kommunikation. Blinde Menschen können zwar nicht sehen, aber sie werden gesehen. Auch wenn sie mimisch-gestische Signale aus ihrer Umwelt nicht wahrnehmen, werden sie wahrgenommen. Geburtsblinden Teilnehmern musste nicht selten erst bewusst gemacht werden, wie sie schauen, wenn sie lächeln, dass man sehen kann, wenn sie traurig sind oder dass Sehende Bewegungen ausführen, um Worte zu verdeutlichen. Es gibt allein unzählige Varianten des Sitzens, Stehens oder Gehens, welche jeweils ganz unterschiedliche Signale an den Empfänger senden können. Auch die visuelle Wirkung von Kleidung, Schmuck, Figur, Frisur und Make-up wurden reflektiert. Der Kurs fungierte auf diese Weise als verbaler Spiegel.
LEO: Kannst du ein Beispiel schildern, warum eine solche Sensibilisierung wichtig ist?
Sonntag: Ein durch den Grauen Star betroffener Mann befindet sich im Gespräch mit einer normal sehenden Frau. Er rückt, weil er sie kaum erkennen kann, besonders nahe an sie heran, um zu sehen, mit wem er sich unterhält. Dabei missachtet er die Intimzone der Frau. Sie empfindet das als ein "auf die Pelle rücken". Er wirkt aufdringlich und unsympathisch. Oder: Ein blinder Bewerber hat einen Termin zum Vorstellungsgespräch. Er betritt den Raum und wird vom Arbeitgeber zum Stuhl geleitet. Der Arbeitgeber stellt bereits im Gehen die ersten Fragen, während sich der Blinde noch orientiert. Dadurch wirkt er zögerlich und unsicher, worauf der Arbeitgeber wiederum denkt: "Ich brauche jemanden, der diesen Job souverän und selbstbewusst ausübt – dieser Bewerber entspricht nicht meinen Vorstellungen."
Ein geburtsblinder Mensch hat im Internat während seiner Kindheit gelernt, besonders laut zu sprechen und den Menschen besonders nahe zu treten, damit sein Anliegen verstanden und wahrgenommen wird. Er wendet dieses Gelernte auch in unpassenden Situationen an und wirkt vielleicht schnell aufdringlich oder fordernd. Im Gegensatz dazu beriet ich als blinde Sozialpädagogin in meinen Kommunikationskursen sehende Teilnehmer zum Umgang mit blinden Menschen. Auf diese Weise sollten auf beiden Seiten Brücken geschlagen werden.
LEO: Ein gutes Stichwort. Du betreust das Projekt "Die sensorische Welt". Was erwartet die Projektteilnehmer?
Sonntag: Die "Sensorische Welt" (ein Projekt des BFW Halle) ermöglicht es sehenden Besuchern, sich mittels abgedunkelter Erfahrungskulissen in die Wahrnehmungswelt blinder Menschen einzufühlen. Verschiedene Lichteffekte und Simulationsbrillen ermöglichen darüber hinaus einen Einblick in den Alltag sehbehinderter Menschen. Gleichzeitig dient die "Sensorische Welt" blinden und sehbehinderten Gästen als Schulungsstätte zur Sensibilisierung der ausgleichenden Sinnesreserven.
LEO: Vielen Dank für das Gespräch.
Zurück zum Seitenanfang PresseDie Pforten der "La Galerie Abstruse" öffneten sich am 10. Oktober in der Innercity Gallery Halle und luden bis zum 17. Oktober reichlich Gäste ein, einen neuen und vor allem offenen Blick auf die künstlerischen Talente der Gothic-Szene Halles zu werfen.
So waren neben szenetypischen Fotografien auch, oder besser gesagt im Besonderen, Werke ausgestellt, die zeigten, dass die schwarze Szene sich nicht in Musik oder uniformem Kleidungsstil erschöpft, sondern sowohl durch die Malerei, Plastik, Fotografie als auch das klassische Schreiben von jungen Künstlern bereichert wird. Und was gerade für Außenstehende und viele der Besucher von Interesse war: dass die Szene nicht einmal im Ansatz so düster und pessimistisch ist, wie die von vielen Vorurteilen und halbherzigen Erklärungsversuchen verklärten Bilder, die innerhalb der Gesellschaft kursieren. Ganz im Gegenteil, sowohl junge Schüler als auch Professoren, Studenten und professionelle Fotografen, zeigten sich begeistert von der Gelegenheit, Einblick in die Szene zu finden und der Initiative des Vereins, vor allem jungen Künstlern aus Halle und Umgebung, die Möglichkeit zu schaffen, ihre Werke unentgeltlich auszustellen.
Eröffnet wurde die Vernissage, traditionell, mit einem kleinen Sektempfang. Im Anschluss gab es die Lesung eines jungen Studenten, der seine Gedichte zusammen mit der Sängerin der Leipziger Band RAUM41 präsentierte. Hinzu kam die Hörbuchvorführung des von Thomas Manegold, Jennifer Sonntag und anderen jungen Autoren gemeinsam produzierten Hörbuches "Die Sehenden sind taub in den Augen der Blinden": Eine beeindruckende Einführung in die Gedankenwelt der Blinden, die sowohl berührt als auch durch Ehrlichkeit und jugendlichen Charme begeistert.
Alles in Allem ist die Grundidee aufgegangen: Vorurteile und Ängste abbauen und zum Denken anregen. Diesem Anliegen widmet sich vor allem eine Hallenserin, die wir als Gast und Künstlerin begrüßen durften, als Autorin ist sie uns ein Begriff, für viele als eine hilfreiche Anlaufstelle und einigen als ein Medium zwischen Welten bekannt, die 29jährige Jennifer Sonntag. Die Sozialpädagogin und Autorin (u.a. "Märchenland im Müll" und "Verführung zu einem Blind Date"), beeindruckt mit ihrem Elan, Humor und Charme sowohl ihre Leser als auch die Besucher ihrer Einführung in die "sensorische Welt". Und dabei steht keineswegs allein der Zustand des Blind-Seins im Vordergrund, sondern das Abbauen der Schranken zwischen den Welten der Blinden und der Sehenden. Was für viele von uns so alltäglich, einfach und normal erscheint, ist für andere jeden Tag ein neues Erlebnis, ein unaufhörliches Neu- und Dazulernen.
Sie erkrankte mit 20 während ihres Studiums an fortschreitender Erblindung. Der eigentliche Wunsch, innerhalb der Drogen- und Suchtberatung zu arbeiten, wich in Zusammenhang mit ihrer eigenen Erkrankung zugunsten der Betreuung von erblindeten Menschen, aber auch deren Angehörigen. Im wahrsten Sinne des Wortes schaffte sie aus der Not eine Tugend. Sie arbeitet heute im Berufsförderungswerk Halle um den Erkrankten bei den ersten Schritten in diese neue Welt zu helfen.
Gemeinsam mit Thomas Manegold produzierten Jennifer Sonntag und andere junge Autoren 2007 ein Hörbuch, das Sehenden den Schritt in diese fremde Welt erleichtern sollte und sowohl die Ängste als auch das Fassen von Mut in ganz einzigartiger Weise vermittelt: "Die Sehenden sind taub in den Augen der Blinden".
Dazu haben wir ToM einige Fragen gestellt. Das Interview kann auf unserer Internetseite nachgelesen werden.
SchockKultur: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Jennifer Sonntag beziehungsweise zur Idee, ein Hörbuch für die Lesungen im Dunkeln zu machen?
ToM: Wir trafen uns zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich war gerade dabei, zusammen mit Marion Müller das Hörbuchlabel Silbenstreif zu gründen und ich wurde zugleich auf Jennifers Tätigkeit als Autorin aufmerksam. So begann ein reger E-Mail Verkehr, in dem sie mir von ihrer Vision einer Lesung im Dunkeln berichtete und ich ihr meine Hilfe anbot, da ich die Idee sehr schön fand. So fing es an. Inzwischen ist Silbenstreif die Hörbuchabteilung von Periplaneta.
SchockKultur: Du bist derzeit als Autor in Berlin tätig, an welchen Projekten arbeitest du, dürfen wir mit einem neuen Buch rechnen?
ToM: Derzeit bin ich voll und ganz mit Satz und Covergestaltung anderer Titel beschäftigt, so beispielsweise Andreas Kecks neuer Roman "Ruhm!" oder das Hörbuch "Märchenland im Müll", das demnächst bei Periplaneta erscheint.
Meine eigene jüngste Veröffentlichung ist das Hörbuch "Rattenfänger". Das nächste Buch kommt im Oktober 2009 heraus und wird "r.evolution of mind" heißen.
SchockKultur: Plant ihr weitere Hörbuchumsetzungen als Einführung in die Welt der Blinden?
ToM: "Die Sehenden..." war nur eine Auftragsarbeit nach einem Skript mit fertigen Texten, denen wir eigene Beiträge, Korrekturen und diverse Atmo hinzufügten. Jedoch werden wir Jennifer in Zukunft weitere Hörbücher zur Verfügung stellen, die zwar nicht das Blindsein thematisieren, sich aber gut für solche Veranstaltungen, wie Lesungen im Dunkeln eignen. Ich denke da an "Die Mitternachtsraben" von Christian von Aster oder diverse atmosphärische Tracks aus anderen Autorenhörbüchern.
Wir sind durch Jennifer aufmerksamer geworden und versuchen, in unserer verlegerischen Arbeit wo es geht "barrierefrei" zu arbeiten. Auf meinen diesbezüglichen Recherchen bin ich auch auf einige Dinge gestoßen, die ich nicht verstehe. Das Problem ist ja nicht nur, dass man seine Produkte "Blindenkompatibel" bauen muss, man muss sie auch Hilfsmittelkompatibel machen und genau das kann sich eigentlich keiner leisten, andererseits kann man auch jenseits obskurer Formate und Blindenschrift einiges tun, um Blinden den Zugang zu seinem literarischen Produkt zu erleichtern. So sind Texte als rtf oder doc, (in wenigen Monaten auch epub) relativ einfach zu erstellen und einer CD beizufügen. Diese Dokumente können Blinde meist problemlos auslesen lassen, was mit pdfs oder eigenen Scans nur bedingt funktioniert. Sehende sollten es gar nicht erst probieren, einen Rechner mit geschlossenen Augen zu bedienen. Sie finden in der Regel nicht mal die Umschalttaste auf Anhieb.
SchockKultur: Deine Gedichte Chant I und II setzen sich direkt mit dem Thema der Vorurteile gegenüber anderen auseinander, entstanden sie vor dem oder für das Hörbuch?
ToM: "Die Sehenden sind taub in den Augen der Blinden" war einmal der Titel meiner Webseite und eigentlich sprichwörtlich gemeint ... und er hat Jennifer so gut gefallen, dass wir den Vierzeiler mit in das Hörbuch eingebaut haben. Natürlich ist Blindsein ein Handicap, jedoch "nur" in der Welt der Sehenden. Blinde Menschen können genau in diesem Sinne den sehenden Menschen etwas beibringen. Nämlich dass auch die Normalen in anderer Hinsicht oder an einem anderen Ort ebenfalls eine Minderheit sind. Das muss nicht einmal mit dem Augenlicht zusammenhängen.
SchockKultur: Die Gruftie-Szene hat dich, nach eigener Aussage, lange begleitet. Fühlst du dich ihr heute noch zugehörig oder war sie eher ein Kapitel deiner Jugend?
ToM: Nein, als bloßes Kapitel meiner Jugend kann man das nicht bezeichnen, auch wenn man mit zunehmendem Alter weniger Energie in die Party steckt und sich nicht mehr ganz so verrenkt, um die Mädels zu beeindrucken (lächelt). Ich bin jetzt 40. Meine Lieblingsbands sind u. a. Tool, Omnia, Faun, Dead Can Dance, ombichrist und die Letzte Instanz, mit denen wir ja auch grad ein Buch gemacht haben. Ich bin immer noch einer von den "Gruftis", allerdings kann ich, wie alle Aktiven, mit dem Szeneding nichts anfangen. Szenen sind weder Orte noch die Personen, die darin vorkommen und schon gar keine Schubladen, in die man Personen stecken kann. Szenen sind Ereignisse, die passieren, sei es im Film oder im richtigen Leben. Man kann sich entscheiden, ob man Regisseur, Schauspieler, Komparse oder Zuschauer ist. Thats it, auch bei den Gruftis. Und ich wollte mich mit 20 schon nicht aufs Zuschauen beschränken, sondern mitmachen.
SchockKultur: Zwischen der Arbeit als Autor, Produzent, DJ, bleibt da noch Zeit für ein Privatleben, oder anders gefragt: Wie sieht dieses aus?
ToM: Es gibt kein Privatleben, es gibt auch keine Arbeitswelt, weder zeitlich noch inhaltlich. Das ist eins. Mein Beruf ist ToM. Ich definiere mich ausschließlich durch sinnvolle, schöpferische Tätigkeiten und komplexe Gedanken, die ich mitunter aufschreibe. Ich lebe durch den ewigen Kampf zwischen Emotion und Ratio. Ich bin öffentlich, außer, wenn ich auf dem Klo sitze. Abschalten und Erholung sind pathologische Notwendigkeiten. Nicht der Zusammenbruch ist schlimm, sondern die Zeit danach, wenn man nichts tun kann. Workaholics sind so und können nicht anders. Manchmal ist das ein Fluch, manchmal ist das total heroisch. Frag mal Bruno Kramm (lacht). Sowohl den Einblick in die sensorische Welt als auch die Bücher kann man jedem nur empfehlen.
Zurück zum Seitenanfang Presse"ZEITPUNKT" Kulturmagazin
veröffentlicht im Oktober 2008
Diese Frau verdient Respekt. Die mit Anfang 20 erblindete Jennifer Sonntag ist nicht nur für ihre Dunkellesungen, die Unsichtbarexperimente, berühmt geworden, sondern auch durch ihre Bücher. "Märchenland im Müll" war eine Reise in eine drogengeschwängerte, brutale Welt des langsamen Erblindens und "Verführung zu einem Blind Date" ist Ratgeber, Hoffnungsträger und Hilfe in Menschlichkeit. "Ich möchte die Gesellschaft für Lebenswelten sensibilisieren, welche außerhalb konventioneller Denkmuster existieren. Dabei möchte ich kommunikative Brücken schlagen und den Menschen helfen, respektvoll und vorurteilsfrei miteinander umzugehen. Umgang funktioniert eben nicht dadurch, dass man einander umgeht." sagt die junge Diplomsozialpädagogin selber. Am BFW Halle ist sie im Bereich der Öffentlichkeits- und Rehabilitationsarbeit tätig. Ihr Wirkungsfeld bezieht sich dabei auf das Projekt "Sensorische Welt", in welchem sie mit Hilfe von Seminaren, sehenden Besuchern einen Einblick in den Alltag blinder und sehbehinderter Menschen ermöglicht. Die Betroffenen selbst trainieren in dieser Erfahrungskulisse ihre ausgleichenden Sinnesreserven. Beim MDR interviewt Jennifer für die Sendung "Selbstbestimmt!" hin und wieder Prominente und beschäftigt sich, wie sie selber sagt, "absurderweise" mit Fotokunst. "Und dann bin ich noch ein ausgesprochener Genussmensch und immer auf der Suche nach Sinnesfreuden." Da ist es auch gut, dass sie mit Dirot, dem Ex-Keyboarder von "Lament" und derzeitigen Tastadeur bei "Raum41" liiert ist, da kommen eben diese Freuden doch recht reichlich auf. Natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein: "Allerdings ist man als Blinde, die in die Öffentlichkeit tritt, auch immer der Missgunst oder dem Spott bestimmter Zeitgenossen ausgesetzt. Das bestätigt nur wieder meine Ansicht, weiter für Toleranz zu schreiben." Wie gesagt: Respekt ist das Mindeste!
Volly Tanner
Zurück zum Seitenanfang PresseLiterra am 26. Sep. 2008
Ich wünsche jedem Menschen die Erkenntnis, dass er für sein Leben verantwortlich ist!
Jennifer Sonntag ist nicht nur eine viel beschäftigte Autorin, die nach zwei Büchern bei Edition PaperOne, einem Leipziger Verlag, derzeit schon an einem neuen, sehr spannenden Buchprojekt bastelt. Jennifer Sonntag hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, als Vermittlerin zwischen zwei Welten zu fungieren: Der Welt der Sehenden und der Welt der Blinden. Nicht nur beruflich, auch in zahlreichen kreativen Projekten, widmet sie sich diesem Anliegen. Ich sprach mit der Autorin über ihr aktuelles Buch und einige ihrer Projekte.
Nancy: Hallo liebe Jenny! Anfang Januar ist, nach "Märchenland Im Müll", dein zweites Buch "Verführung zu einem Blind Date" bei PaperOne erschienen. Derzeit wird gerade an der zweiten Auflage gebastelt. Wird an dieser etwas Neu und/oder anders sein?
Jennifer: Nein, etwas Grundsätzliches hat sich nicht verändert. Wir haben den Diamanten nur noch ein wenig geschliffen und einige winzige Inhalte aktualisiert.
Nancy: Erzähl doch mal, wie du auf die Idee gekommen bist, "Verführung zu einem Blind Date" zu schreiben. Spukte das Konzept dazu schon sehr lange in deinem Kopf rum? Und wie lange hast du dann daran geschrieben?
Jennifer: Ich bin als Diplomsozialpädagogin am BFW Halle im Bereich der Öffentlichkeits- und Rehabilitationsarbeit tätig. In dem Projekt "Sensorische Welt" habe ich die Möglichkeit, sehenden Besuchern einen Einblick in die Wahrnehmungswelt Blinder zu gewähren. Innerhalb meiner Seminare werden sehr viele Fragen im Bezug auf meine Erblindung an mich herangetragen. Da ich über 20 Jahre lang sehen konnte, betrachte ich mich als Vermittlerin zwischen "Guckis" und "Blindgängern". Die Idee zum Buch wuchs also mit den Fragen der Sehenden, da ich in meinen Aufklärungsveranstaltungen erkannte, welch mysteriöse Vorstellungen über blinde Menschen in den Köpfen der Bevölkerung spuken. Ich brauchte etwa ein Jahr, um die am häufigsten gestellten Fragen zu sammeln und in einem Buch zu beantworten.
Nancy: Wie sind denn die Reaktionen deiner Leser auf das Buch? Kommt da eine Rückmeldung bei dir an?
Jennifer: Ich bekomme sehr liebe Rückmeldungen. Viele meiner Leser fassen nach dem Studium der Lektüre neuen Mut und schauen einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel auf ihr eigenes Leben. Einigen diente das Buch als Spiegel. Ich bekomme seit meiner ersten Lesung unzählige E-Mails und Anrufe von Menschen, die auf anderen Gebieten Verluste erlebten und sich sehr verstanden fühlten.
Nancy: Du wählst einen sehr persönlichen Umgangston mit dem Leser, lässt ihn sehr nahe an dich heran und auch in deine Gefühlswelten eintauchen. Warum wählst du diese Art des Schreibens?
Jennifer: Durch mein Studium war ich es gewohnt, sehr akademisch zu schreiben. Das klingt zwar gut, wird aber von niemandem verstanden. Ich möchte für den Leser schreiben, nicht für mich. Ich weiß ja, wie mein Leben funktioniert. Wenn ich Menschen erreichen möchte muss ich so für sie schreiben, wie ich bei einem Weinchen mit ihnen reden würde. In meiner mehrjährigen Seminararbeit bestätigte sich immer wieder, dass sich auf der Sachebene weniger Informationen vermitteln lassen, als auf der Gefühlsebene. Deshalb gab ich mich als greifbares Beispiel her, nahm den Leser an die Hand und verschonte ihn vor akademischen Barrieren.
Nancy: Man bekommt einen sehr guten Eindruck davon, wie sich dein Alltagsleben gestaltet und weiß dadurch auch gleichzeitig viele Dinge des eigenen Lebens wieder ganz anders zu schätzen, die man ansonsten für ganz selbstverständlich hinnimmt. War dir dieser Wechsel der Perspektive oder des Blickwinkels ein Anliegen?
Jennifer: Das war eher eine schöne Folge, die sich daraus ergab. Viele vermeintliche Probleme relativieren sich, wenn man darüber nachdenkt, wie man sich ohne Augenlicht fühlen würde. Wenn das Buch dazu gut war, den ein oder anderen aus seinem, oft unbegründeten, Selbstmitleid und seiner Antriebslosigkeit zu befreien, dann kann das ja nicht falsch sein. Ich wünsche jedem Menschen die Erkenntnis, dass er für sein Leben verantwortlich ist, dass er seine Kutsche selber lenkt und sich nicht auf seiner Unzufriedenheit ausruhen darf.
Nancy: Welches Kapitel war für dich besonders schwer oder aufwendig zu schreiben, oder gab es da keine Unterschiede? War es z.B. schwer für dich, einzelne Abläufe in der Küche überhaupt erst zu reflektieren und dann so zu beschreiben, dass sich der Leser dies gut vorstellen kann?
Jennifer: Eigentlich hat mir jedes Kapitel auf seine Weise Freude bereitet. Das lag daran, dass ich den Leser ja schon beim schreiben an meiner Seite hatte. Das imaginäre Gespräch mit ihm hat es mir leicht gemacht. Bestimmte Abläufe zu reflektieren viel mir weniger schwer, da ich sie mühevoll erlernen musste und sie mir wie Vokabeln immer wieder eintrichtere. Ich muss mir die Techniken also ohnehin selbst erklären, dann kann ich sie dem Leser auch gleich mit erklären. Ich bin ja auch nur eine erblindete Sehende und ich stell mich oft eben auch so an. Wenn man einmal sehen konnte, wird man im Kopf nie wirklich zu einer Blinden.
Nancy: In dem Buch nehmen auch wieder vereinzelt Fotografien einen Raum ein. Welche Bedeutung kommt ihnen zu, wer mach die Aufnahmen für deine Bücher und wie wird dir solch ein visuelles Ergebnis dann zugänglich gemacht?
Jennifer: Das Ergebnis mache ich mir selbst zugänglich, in dem ich schon im Vorfeld die Ideen zu den Bildern habe. Die Aufgabe für den Fotografen besteht dann darin, meine Vorstellungen umzusetzen. Große Unterstützung erhielt ich durch Elke Busching, welche auch für die Galerie "Fünf Sinne" in Halle fotografiert und sehr viel Herzblut in "Verführung zu einem Blind Date" investierte. Ihre Rotweingläser sind es auch, die das Buchcover zieren. Es ist ein schönes Gefühl, hin und wieder aus einem dieser Gläser zu trinken, wenn ich die Fotografin in ihrer schönen Jugendstilwohnung besuche.
Nancy: Du scheinst große Freude an dem Medium der Fotografie zu haben, denn in deinem Bücherregal befinden sich glaube ich auch so einige Bildbände, z. B. "FARIES AND FRIENDS" von Timo Denz. Ist das so?
Jennifer: Ja, ich liebe die Fotokunst. Außerdem liebe ich die Malerei. Beides waren zu sehenden Zeiten große Hobbys von mir. Ich kann sie nicht loslassen.
Nancy: Du hast seit einiger Zeit im MDR die Sendung "Selbstbestimmt!". Kannst du zum Konzept der Sendung etwas erzählen?
Jennifer: Ich interviewe für die Sendung "Selbstbestimmt!" innerhalb meines kleinen Profils "Sonntagsfragen" verschiedene Prominente aus der nicht alltäglichen Sicht einer Blinden. Die Sendung läuft einmal monatlich im MDR-Fernsehen. In den letzten Monaten haben wir nicht gedreht. Ich bin gespannt auf meinen nächsten Interviewpartner.
Nancy: Wer waren bis jetzt die interessantesten Gäste bzw. welche Sendung hat dir besonderen Spaß gemacht?
Jennifer: Interessant sind viele Menschen, wenn man sich näher mit ihnen befasst. Für Reinhold Messner hegte ich bislang z.B. weniger Interesse, als ich ihn jedoch auf seiner Burg besuchte und aufgrund meiner Recherchearbeit in ihn eintauchte, wuchsen in meinem Bewusstsein an einer Stelle Pflanzen, wo bislang nur karger Boden war.
Nancy: Du veranstaltest zudem so genannte "Dunkellesungen", bei denen die Zuhörer sich nur auf diesen einen Sinn verlassen sollen und Gedichte vorgetragen bekommen. Die nächste wird, glaube ich, im Dezember in Halle stattfinden? Was für Autoren werden dort lesen?
Jennifer: Meine aktuellen Dunkellesungen beziehen sich ausschließlich auf meine eigenen Texte aus dem Buch "Verführung zu einem Blind Date". Damit der Zuhörer sich besser in die Schilderungen einfühlen kann, ist auch für ihn die Umgebung unsichtbar. Die nächste Dunkellesung dieser Art findet am 9. Dezember am Neuen Theater in Halle statt. Erfahrungsgemäß sind die Karten immer schnell ausverkauft.
Mehr als 100 Personen sind in einem vollkommen abgedunkelten Theaterraum auch nicht zulässig. Wer Lust hat, sich zu einem "Blind Date" verführen zu lassen, möge sich rechtzeitig eine Karte sichern.
Nancy: An welchen aktuellen Projekten sitzt so ein fleißiges Bienchen wie du zur Zeit?
Jennifer: Geplant war eigentlich eine Erotikanthologie der besonderen Art, aber nun kreuzte ein anderes Projekt meinen Weg. Durch "Verführung zu einem Blind Date" wurde erstmals das Thema Weiblichkeit und Blindheit transparent. Blinde Frauen werden leider oft als geschlechtslose Neutren wahrgenommen und nehmen nicht selten dieses gesellschaftliche Stigma an. Gemeinsam mit der klientenzentrierten Beraterin und Supervisorin Heike Herrmann, selbst gerade im Erblindungsprozess, erarbeite ich momentan ein Buch, in welchem blinde oder erblindende Frauen wieder den Mut zur eigenen Schönheit finden sollen.
Nancy: Ich danke dir für das spannende Interview und wünsche dir alles Liebe!
Jennifer: Ich danke auch!
Nancy Leyda
Zurück zum Seitenanfang PresseVon Claudia Feger (Schwarze Seiten), Juli 2008
Ein Blind Date hält jede Menge Überraschungen bereit. Und genauso ist es mit dem Buch der Hallenserin Jennifer Sonntag. Wer einen erotischen Liebesroman erwartet, muss enttäuscht werden, wie vielleicht die erste Vermutung des Titels nahe legt. Doch wer ein spannend geschriebenes, manchmal trauriges und mit schwarzem Humor gespicktes Buch sucht, für den ist "Verführung zu einem Blind Date" genau das Richtige!
Ohne lange Vorrede und gnadenlos ehrlich, kommt die Sozialpädagogin zum Punkt. Jennifer Sonntag ist blind und sie thematisiert eben jene Behinderung. Es ist nicht nur ein Erlebnisbericht, wie sich der Blickwinkel auf die Welt der spät Erblindeten verändert, sondern es ist auch ein kleiner Leitfaden für den Umgang mit Sehbehinderten und Blinden.
Die absolute Stärke des Buches ist der lockere Schreibstil und die Ehrlichkeit, mit der Jennifer Sonntag Themen und Probleme anspricht, die einem Sehenden nie aufgefallen wären oder die er sich nie getraut hätte zu fragen. Oder wussten Sie wozu die weiß geriffelten Gehwegplatten vor manchen Ampeln sind?
Aber keine Sorge, es handelt sich hier weder um trocken-theoretische Fachliteratur, noch um ein vor Mitleid triefendes Werk. Vielmehr geht es um ein Verständnis für eine Behinderung und den Umgang mit MIT-Menschen. Das Buch versucht Hemmschwellen abzubauen, welche die Sehenden, von Jennifer Sonntag freundlich-spöttisch als "Guckis" bezeichnet, meist haben. Es handelt von Hindernissen beim Flirten, beim Kochen, beim Straßenbahnfahren und beim Kneipenbesuch. Die Autorin zeigt mit viel Feinsinn und Emotionalität dem Leser die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Bei den von ihr beschriebenen Alltagssituationen, bleibt einem recht oft das Lachen im Hals stecken…
"Ich bin blind und lade euch ein, die Welt mit meinen Augen zu sehen", schreibt Jennifer Sonntag – und diese sympathische Einladung sollte man annehmen.
Das Buch ist im Verlag Edition PaperOne unter der ISBN 3-939398-86-1 erschienen. Kostenpunkt: 15,95 Euro
10 von 10 Punkten
Zurück zum Seitenanfang PresseFEDERWELT
Ausgabe Juni/Juli 2008
Angeregt von einer Leser-Zuschrift widmet sich das Heft 70 der "Federwelt", einer Zeitschrift für Autorinnen und Autoren, dem Titelthema "Blind sein – blind schreiben".
Der sehenden Leserin und dem sehenden Leser wird das Thema, im wahrsten Sinne des Wortes, sehr plastisch nahe gebracht, denn als Beikleber findet sich auf dem Heft eine Übersicht über die Brailleschrift. Hier kann man selbst ausprobieren, wie gut der eigene Tastsinn entwickelt ist und ob man die aus sechs Punkten zusammengesetzten Zeichen unter den Fingerspitzen erfühlen kann.
Neben einer allgemeinen Einführung in das Thema werden die unterschiedlichen Schreib- und Lesegeräte der Blinden vorgestellt, und man widmet sich dem literarischen Schreiben und wie das Nicht-Sehen die Sprache beeinflusst.
Das Berufsfeld der Hörfilm-Autorin wird vorgestellt, im Lyrik-Teil der Zeitschrift sind verschiedene Werke rund um das Thema "blind sein" zu lesen und die blinde Autorin Jennifer Sonntag berichtet in einem Artikel, wie man "Dunkellesungen" durchführt.
Von Jennifer Sonntag
Als ich meine erste Dunkel-Lesung in einigen Internetforen ankündigte, hielten mich viele für eine esoterische Spinnerin oder für einen Witzbold. Eine Literaturveranstaltung ganz ohne Licht – wie soll denn das gehen? "Lesung" und "Dunkelheit" – das passt doch nicht zusammen!
Die Tatsache, dass meine Blindheit kein Scherz war, dass ich auch als Blinde in der Lage bin, E-Mails zu versenden, Bücher zu schreiben und Events zu organisieren, schien manchen Zeitgenossen zu abstrus und unglaubwürdig. Und gerade jenes Mysterium rund um den Zustand des Nichtsehens bestätigte mich in meinem Wunsch, das Phänomen des Unsichtbaren zu kultivieren, um es auch für Sehende im wahrsten Sinne des Wortes "begreifbar" zu machen.
Seit Ende meines Studiums bin ich als Diplomsozialpädagogin in der "Sensorischen Welt" des Berufsförderungswerkes Halle tätig (www.bfw-halle.de). Dieses Projekt ermöglicht es Sehenden, sich in die Wahrnehmungswelt blinder und sehbehinderter Menschen einzufühlen und sich mit dem Thema Sehen und Sehverlust auseinanderzusetzen. Wer meine Themenabende besucht, begibt sich mit mir in einzigartige Duft-, Klang- und Tastwelten. Ich entführe die "Hör-Schauer" in die zauberhafte Welt der Hexen und Vampire, lasse ihre Sinne nach China und Afrika reisen, verwöhne ihre Gaumen mit Schokoladen- und Weinspezialitäten oder fange mit ihnen unsichtbare Weihnachts- und Osterstimmungen ein. Auch Tanz und Theater hielten Einzug in die "Sensorische Welt".
Als Autorin und Literaturliebhaberin interessiere ich mich natürlich besonders für Lesungen. Ein tief greifendes Verstehen vorgelesener Inhalte ist meiner Meinung nach besonders dann gegeben, wenn das Sehen ausgeschaltet wird. Die meisten Menschen schließen ohnehin die Augen, wenn sie sich auf ein sehr intensives Gefühl – zum Beispiel einen leidenschaftlichen Kuss oder eine zart schmelzende Praline – einlassen.
Mir ist es wichtig, vor allem Themen, die emotionale Reibungen erzeugen, in die Dunkelheit zu transportieren. Wenn die Augen ausgeschaltet sind, fallen visuelle Fluchtpunkte aus – die Worte des Vorlesers gehen komprimierter in den Zuhörer über. Hier liegt der Fokus beim Text, nicht auf der Hochsteckfrisur der Platznachbarin oder auf dem Bühnenbild. So gewinnt das Wort die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt. Der dominanteste, aber auch der oberflächlichste aller Sinne wird ausgeschaltet und kann die Wirkung eines gelesenen Textes nicht mehr optisch "verunreinigen". Diese direkte Art des Zuhörens und Auseinandersetzens ist natürlich für viele Sehende zunächst ungewohnt. Deshalb sollte der "Hör-Schauer" sich in aller Ruhe und "Besinnlichkeit" auf die Dunkelheit einstimmen können.
Ich promote gerade mein aktuelles Buch "Verführung zu einem Blind Date" in den Theaterräumen der Kulturinsel Halle. Da ein "Blind Date" bei Licht nicht authentisch wäre, ist auch hier die Dunkelheit gestalterisches Mittel. Es ist sinnvoll, das Publikum erst einmal für kurze Zeit – etwa fünf Minuten – an der Dunkelheit "schnuppern" zu lassen. Musik kann helfen, sich einzuschwingen. In dieser Phase sollten die Besucherinnen und Besucher gebeten werden, alle Lichtquellen (zum Beispiel Handys) auszuschalten. Außerdem wird jeder Gast aufgefordert, sich selbst zu beobachten und zu entscheiden, ob er die folgende, maximal 70-minütige Lesung ohne Licht aushalten kann. Auch sollte ein Zeichen (etwa ein Klopfen) vereinbart werden, welches ein eventuelles Unwohlsein signalisiert. In einem solchen Moment bekommt die betroffene Person sofort Licht und kann den Raum verlassen. Es ist ratsam, einen Helfer bereit zu stellen, der auf einen "Hilferuf" direkt mit Licht reagiert und den Panischen aus dem Raum begleitet.
Wenn der Einlass bei Licht erfolgt, müssen die Gäste nicht zu ihrem Platz geführt werden, es sei denn, sie sind auch im wahren Leben blind oder hochgradig sehbehindert. Vollzieht sich der Einlass bereits im Dunkeln, werden die Gäste von einem Guide zum Platz geführt.
Es hat sich bewährt, zwischendurch eine Pause zu machen, die Lesung also in zwei Teile zu splitten. Dabei sollte der zweite Part etwas kürzer ausfallen. Die Pause ermöglicht dem Besucher einen Toilettengang. Soll der Raum abgedunkelt bleiben, ist nun wieder ein Guide erforderlich. Wird der Raum in der Pause erhellt, können die Gäste selbstständig nach draußen gehen. Die gastronomische Versorgung bei Großveranstaltungen sollte möglichst außerhalb des Raumes stationiert sein. Gläser und Flaschen könnten in einem abgedunkelten Theaterraum zu gefährlichen Unfallquellen werden, Lebensmittel zu unfreiwilligen Verunreinigungen führen. Mehr als hundert Personen sollten sich nicht in einem Raum befinden.
... und dringt durch jeden noch so winzigen Spalt. Deshalb ist das Abdunkeln sehr zeitintensiv und erfordert ein gewissenhaftes Vorgehen. Selbst das unauffälligste Kontrolllämpchen kann im Dunkeln zu einem störenden Flutlicht werden. Bestimmte Materialien können nachleuchten und sollten abgeklebt oder beseitigt werden. Damit es nicht zu Unfällen bei Stufen oder anderen Stolperquellen kommt, sollten sich die Besucher nie ohne Guide im Dunkelraum bewegen, es sei denn, die selbstständige Bewältigung eines "Hindernisparcours" ist Teil des Konzepts. In einem solchen Fall sollte der Gast über die Hindernisstrukturen und die notwendigen Verhaltensregeln informiert sein.
Arbeitet die Leserin oder der Leser nicht mit Tonkonserven, mit Braille-Schrift oder aus dem Kopf heraus, ist eine Leselampe nötig. Diese Lampe sollte so präpariert sein, dass sie einen punktgerichteten Lichtstrahl auf das Lesematerial wirft. Der Leser oder die Leserin ist darüber hinaus durch Vorhänge oder Wandelemente optisch abzuschirmen. Dabei ist darauf zu achten, dass die Akustik nicht gedämpft wird. Es ist sehr schwer, einen Raum, der üblicherweise nicht für Dunkelveranstaltungen genutzt wird, vollkommen lichtfrei zu gestalten. Die Rückmeldungen des Publikums bestätigen, dass ein Lichtimpuls an der einen oder anderen Stelle durchaus Sicherheit vermitteln kann. Andere empfinden dies als störend und wünschen sich die vollkommene Finsternis. Erreicht man trotz intensiver Bemühungen nicht das gewünschte Ergebnis, können als zusätzliche Verdunklungshilfen Schlafmasken an die Zuhörer ausgeteilt werden. In einem lichtlosen Raum kann jedes Geräusch überdimensional wirken, zum Beispiel das Auswickeln eines Bonbons. Damit die Hörqualität nicht leidet, sollte das Publikum um Rücksichtnahme gebeten werden.
Unsichtbar-Events sind einzigartige Experimente, egal ob sie von kommerziellen Veranstaltern, von Spezialeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte oder von Betroffenen in Eigeninitiative durchgeführt werden. Die Zuhörerinnen und Zuhörer lernen, wieder mehr bei sich selbst zu sein, in sich hinein zu hören, Stimmungen und Schwingungen zu spüren, von Worten zu kosten, sich einzufühlen. Wahrlich, zu sehen gibt es bei einer Dunkel-Lesung nichts, aber dafür eine Menge zu erleben ...
Zurück zum Seitenanfang PresseKonzepte PR Online am 15. April 2008
"Ich bin blind und lade Euch ein, die Welt mit meinen Augen zu sehen"
Die Diplom-Sozialpädagogin Jennifer Sonntag wird in Ihrer Funktion als Mitarbeiterin einer Blindenbildungseinrichtung oft mit Fragen über und um Blindheit konfrontiert.
Selbst vor einigen Jahren, während Ihres Studiums erblindet, verfügt Sie über Erfahrungswerte in der Welt der Sehenden aber auch der Nichtsehenden. Dieses macht Sie zu einer kompetenten und authentischen Gesprächspartnerin.
Verblüffend offen und für Nichtbetroffene mit unter makaber anmutend, setzt sie sich in Ihren Texten persönlich und fachlich mit Fragen wie: "Wie funktioniert der Alltag ohne zu sehen?", "Ist eine gleichrangige Partnerschaft möglich und wie wählt man einen Partner aus, wenn man Ihn doch nicht sieht?”, "Denkt man über Selbstmord nach?" bis hin zu Fragen wie " Darf man Blindenwitze machen?" auseinander.
Mit Ihrer humorigen Schreibweise gelingt es Ihr, dem Leser bei aller Betroffenheit doch immer noch ein Schmunzeln abzugewinnen.
"Blinde Menschen sind anders, sehende aber auch."
Blinde Menschen sind durch Ihr eingeschränktes Sehvermögen kommunikationsbehindert. Sehende durch Hemmungen, Vorbehalte und Unwissen im Bezug auf Blinde oftmals auch. Mit Ihren Texten möchte Jennifer Sonntag unverkrampft zwischen beiden Wahrnehmungswelten vermitteln.
Zurück zum Seitenanfang PresseJennifer Sonntag erklärt die Welt der Blinden in einem Buch
Von Antonie Städter, April 2008
Halle (dpa) – Jennifer Sonntag ist es gewohnt, dass sie alle Blicke auf sich zieht. Früher war sie in der Punkszene unterwegs, hatte bunte Haare und trug betont zerschlissene Sachen. Sie scherte sich nicht darum, gut auszusehen. Heute lebt die großgewachsene, gertenschlanke Frau ihr Faible für Schwarz aus, trägt gern Korsagen, wallende Kleider, auffälligen Schmuck. "Ich bin ein Ästhet", sagt sie, und meint: "dummerweise erst jetzt". Denn die 29-Jährige kann nicht sehen, welche Wirkung sie auf ihre Mitmenschen hat. Während ihres Studiums erblindete sie. Ohne die Rückmeldung vom Spiegel und von anderen sei es, als schwebe man durch eine eigene Welt. "Man darf das Vertrauen in sein Selbstbild nicht verlieren", sagt sie.
In ihrer Arbeit als Sozialpädagogin im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte (BFW) in Halle bringt sie Interessierten in dem Projekt "Sensorische Welt" das Leben im Dunkeln näher. Dort können auch Sehende erfahren, wie es ist, sich auf andere Sinne verlassen zu müssen. Unzählige Fragen werden ihr dabei immer wieder gestellt: Wie funktioniert das mit dem Styling? Findet man einen Partner? Denkt man an Selbstmord? Dabei, sagt die Hallenserin, sei es "manchmal ganz schön schwierig, in wenigen Sätzen eine Frage zu einem Thema zu beantworten, für das ich Jahre gebraucht habe, um damit umzugehen".
Deshalb hat sie nun ein Buch über ihre Welt geschrieben: In "Verführung zu einem Blind Date" beantwortet Jennifer Sonntag ihren Lesern im imaginären Zwiegespräch all die schon so oft gestellten Fragen. Und das in einem lässig-humorigen Ton, der die Tragik des Themas zwar nicht verschweigt, aber erträglich werden lässt. So wird ihre Welt auch für "Guckis", wie sie die Sehenden nennt, anschaulich und verstehbar. Ihre zwei bisherigen Dunkellesungen im halleschen Puppentheater waren stets Tage vorher ausverkauft – deshalb wird sie ihr Buch am 21. Mai dort erneut vorstellen.
Jennifer Sonntag war ein Teenager, als sie erfuhr, dass sie ihr Augenlicht verlieren würde. Sie leidet an einer Netzhautdegeneration, die nach und nach zu Nachtblindheit, einer Einengung des Gesichtsfeldes, zum Verlust des Farb- und Kontrastsehens und schließlich zur Blindheit führt. Es hat lange gedauert, bis sie ihr Schicksal annehmen konnte. "Ich habe versucht, so weiter zu leben wie zuvor", erinnert sie sich an ihre Studienzeit in Merseburg, als sich die Symptome mehr und mehr zeigten. Da kam es dann vor, dass Kommilitonen sie darauf aufmerksam machten, dass sie ihr Buch falsch herum hält. Den Lernstoff verinnerlichte sie größtenteils mit dem, was sie in den Vorlesungen hörte. Ihre Diplomarbeit konnte sie nicht mehr lesen.
Mit dem Verlust des Augenlichts musste sie auch Abschied nehmen von einem großen Traum: "Ich habe immer eine soziale Berufung gespürt und wollte unbedingt als Streetworkerin in der Drogenarbeit tätig sein." Nun richtete sie ihren Studienschwerpunkt auf die Reha-Pädagogik. Selbst während ihres Praxissemesters im BFW als Sozialarbeiterin hat sie sich zunächst nicht eingestehen können, zu den Blinden zu gehören. "Ich hatte Ängste, die ein Sehender auch hat – dass blind sein wie tot sein ist."
Heute allerdings, sagt Jennifer Sonntag, lebe sie intensiver, bewusster. Ihre Krankheit habe ihr andere Türen geöffnet. "Ich freue mich über ganz kleine Dinge: ein schönes Wort, einen schönen Duft". Sie sei ein Genussmensch geworden, liebt das Schreiben, Lesungen, Musik, gute Gespräche, Ausstellungen, ästhetische Fotokunst. Interessiert sich für Aromatherapie und Esoterik und hütet ihre bunten Edelsteine, mit denen sie ihr Farbgedächtnis trainiert. Eine faszinierend rastlose Frau, das nächste Buch bereits im Kopf. Dann soll es um Erotik gehen.
Zurück zum Seitenanfang PresseBuchpremiere im "Tintenfass" des Neuen Theaters auf der Kulturinsel
Von Dirk Rotzsch (freier Mitarbeiter LVZ, Rezension Amazon), April 2008
Wer hätte Ende des vergangenen Jahres damit gerechnet, dass die erste Dunkellesung, seinerzeit noch im "Riff" so ein Erfolg werden würde. Und auch diesmal sollte man sich nicht in letzter Minute – also "last minute" entscheiden. Womit wir gleich beim Thema wären: Das Buch aus dem die bezaubernde Schauspielerin Ines Heinrich-Frank vorliest, trägt den Titel: "Verführung zu einem Blind Date". Hüter deutscher Sprachkultur werden, nicht unbegründet, ob der verwendeten Anglizismen lamentieren. Aber mit diesem Buchtitel soll ein stückweit provoziert werden. Wie oft verwendet man Redewendungen wie "Blinder Passagier", "Blindflug", oder eben "Blind Date" ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Noch schlimmer wird es, wenn man sich in wenig charmante Bezeichnungen wie "Blindfisch" versteigt - oder eben jenes Handicap mit anderen Behinderungen gleichsetzt - Blind = Blöd. Wer einmal einem Fußballspiel beigewohnt hat, weis was gemeint ist (der Referee ganz besonders). Darum geht es in jenem Buch - aber nicht nur. Es geht um Verständnis für eine Behinderung, die oftmals noch Verhinderung bedeutet - Verhinderung am normalen Leben, aus den medizinischen Gründen, doch auch durch Ignoranz und Unwissenheit. Wer an dieser Stelle ein verbittertes Pamphlet erwartet oder ein Mitleid heischendes Werk, wird enttäuscht.
Jenseits staubtrockener Fachliteratur und sensationslüsterner "Erlebnishefterl" ist der Autorin Jennifer Sonntag gelungen, die Balance zu finden, zwischen Erlebnisbericht und Leitfaden für den Umgang mit diesen, unseren MitMENSCHEN. Das kommt nicht von ungefähr: Selbst spät erblindet und diplomierte Sozialpädagogin im BFW Halle – welches sich für die Wiedereingliederung von Blinden und Sehbehinderten ins Berufsleben engagiert, stößt auch sie oft an Grenzen, die nicht sie gezogen hat. Sie schildert es erfrischend, lakonisch, manchmal auch mit schwarzem Humor – bei dem einem nicht selten das Lachen im Halse stecken bleibt, nie aber mit erregiertem Zeigefinger. Sie zeigt sogar Verständnis, welches sie sich auch gern von den "Guckies" wünscht. Nicht übertriebenes Gutmenschentum, sondern reale Lebenshilfe und die kann manchmal schon an der nächsten Straßenquerung gefordert sein. Das Buch ist vielleicht auch ein Plädoyer für alle Menschen mit Behinderung: Und sind nicht die Sehenden taub in den Ohren der Blinden?
Die Lesung findet wirklich im Dunkeln statt, deswegen sollten empfindliche Gemüter sich überlegen, ob sie das durchstehen, was für andere tagtägliche Realität ist.
Natürlich stehen Autorin und Leserin im Anschluss beim gemütlichen Beisammensein gern zur Verfügung um Fragen zu beantworten oder einfach nur um "Small Talk" zu halten.
Die Lesung findet am 4.4. um 20.30 Uhr im "Tintenfass" des Neuen Theaters auf der Kulturinsel statt.
Der Eintritt beträgt 6 Euro, Vorbestellung an der Konzert und Theaterkasse im Neuen Theater Große Ulrichstraße 51, Telefon: 0345 2050222
Zurück zum Seitenanfang PresseBuchpremiere: Blinde Sozialpädagogin Jennifer Sonntag lädt zum "Date" in ihre unsichtbare Welt
von Detlef Färber, MZ/Halle am 28.03.08
Erst auf Seite 119 gönnt sie sich einen kurzen Augenblick des Zorns. Freilich in wohlgesetzten Worten, denn an dieser Stelle steht ein poetischer Text: "Ich hasse Dich", schleudert die Autorin ihrem Spiegel entgegen. Passend dazu ist auf der Seite daneben eine Foto-Collage gedruckt: das Bild einer ungewöhnlich attraktiven jungen Frau hinter den Splittern eines zerschlagenen Spiegels.
Die Frau, die nur wir dort sehen können, heißt Jennifer Sonntag. Sie ist gerade 29 Jahre alt, hat ein Studium als Sozialpädagogin abgeschlossen, arbeitet längst erfolgreich in ihrem Beruf und hat nebenbei gerade ein so dickes wie eindrucksvolles Buch fertig geschrieben, das beste Chancen hat, für sein Thema zum Standardwerk zu werden. Sie arbeitet gelegentlich als Dozentin in Seminaren und sogar fürs Fernsehen. Sie ist fleißig, klug und sehr ehrgeizig. Ja, und Jennifer Sonntag ist auch blind. Gegen Ende ihres Studiums an der Merseburger Fachhochschule verlor die Hallenserin allmählich ihr Augenlicht. Das, was Sehende Durchblick nennen, hat sie dagegen nicht verloren - ganz im Gegenteil.
"Verführung zu einem Blind Date" heißt das Buch, das Jennifer Sonntag nächsten Freitag in einer "Dunkellesung" vorstellen wird. Der Buchtitel und der Untertitel der Veranstaltung sind Programm. Denn die Autorin will sich mit ihren Lesern und Hörern in ihrer unsichtbaren Welt treffen - ihnen buchstäblich ein Abenteuer bereiten und (für sie ganz selbstverständlich) auch deren Neugier befriedigen.
Letzteres tut sie sehr weitgehend und völlig unbekümmert. Und das kann sie sich auch leisten, denn ihre Sprache ist geschliffen und ihr Tonfall kann ziemlich ironisch werden. Aber natürlich leistet sie auch das, was zu den Anliegen ihres Jobs im Beruflichen Bildungswerk für Blinde und Sehbehinderte gehört - und was ihr Anliegen als Betroffene ist: Verständnis wecken, die Kluft überbrücken und die Hemmungen überwinden zwischen blinden Menschen und jenen, die Jennifer Sonntag gern mal freundlich-spöttisch "Guckis" nennt.
Und so kommt das Buch gleich ohne Umschweife zur Sache, wenn im Eingangskapitel "Blind vor Liebe" unmissverständlich vom eigenen Glücksanspruch die Rede ist: von Hindernissen beim Flirten, von speziellen Chancen und Beschwernissen in der Partnerschaft und von den Möglichkeiten eines viel intensiveren sinnlichen Erlebens.
Dann erst wird es richtig praktisch. Jennifer Sonntag nimmt ihre lesenden Begleiter mit in ihre Küche, auf Taxifahrten, zur Kosmetik, vor ihren Kleiderschrank und an ihren Schminktisch. Weibliche Eitelkeit? Na selbstverständlich.
Doch wie sie sich die leistet - die Mühen und nennenswerten Kosten dafür - die Tücken bei der Auswahl der Garderobe, was alles ohne Hilfe geht und was beim besten Willen nicht ganz, das schildert die Autorin minutiös, sehr lebendig und - ja - auch sehr unterhaltsam. Kostprobe gefällig? "Messer, Gabel, Schere, Licht sind für einen Blinden nicht? Lieber Leser, jetzt wird es gefährlich. Die Messer sind gewetzt und das Feuer ist entzündet. Aber ich verspreche dir, ich werde alles dafür tun, dass wir uns nicht schneiden oder gar verbrennen ..."
"Blind Date" ist übrigens nicht das erste Buch der Hallenserin. Unter Pseudonym hat sie zuvor bereits eine 130-seitige Geschichte geschrieben, die eigene Erfahrungen und Erinnerungen verarbeitet, die sie als Jugendliche eine Zeit lang in der Punkerszene gesammelt hatte. "Märchenland im Müll" heißt das Buch - und auch dabei geht es ohne Oberflächlichkeiten zur Sache. Es geht um Halles Drogenszene - und darum, was von jenem Teil der Gesellschaft getan werden müsste, der nicht selbst betroffen ist.
Nicht zuletzt darum geht es auch beim "Blind Date". Was sich Jennifer Sonntag von "Augenbenutzern" im Umgang mit Blinden wünscht? - In fast allen Situationen laufe es auf das Gleiche hinaus: "Immer sagen, wer man ist, und erklären, was man tut", sagt sie. Und natürlich weiß Jennifer Sonntag, dass dies auch sonst für die sichtbare Welt ein richtig guter Tipp wäre.
Zurück zum Seitenanfang PresseBuchrezension "Verführung zu einem Blind Date"
Die Hallenser Autorin Jennifer Sonntag gehört für mich zu einer der faszinierendsten Persönlichkeiten, von Denen ich je ein Buch in die Hände bekam. Bereits ihr Debüt "Märchenland im Müll" war einzigartige Literatur und hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Mit "Verführung zu einem Blind Date" erscheint nun ihr zweites Buch im Verlag Edition PaperOne. Darin hat der Leser ein Blind Date der ganz besonderen Art – eines, das wörtlich zu nehmen ist.
Mit bestechender Ehrlichkeit, überwältigender Warmherzigkeit und einer ordentlichen Prise Humor (darf gern auch mal rabenschwarzer sein) nimmt Jennifer Sonntag den Leser an die Hand und führt ihn durch ihre Welt. Und diese Welt ist eine Welt aus Dunkelheit, denn Jennifer ist vor ein paar Jahren erblindet. Nun ist sie ein Wanderer zwischen zwei Welten, der einen - jene der Sehenden, der sie vormals angehörte, die jedoch immer mehr verblasst und zu bloßen Schatten gerinnt und der anderen, in welcher die Schwärze regiert. Von der ersten Seite an stellt das Buch aber eins klar: hier ist kein Platz für Berührungsängste und schon gar nicht für Mitleid. Sondern hier geht es darum, an einer Lebenswelt teilzuhaben, in der man klarer Außenseiter ist – es gilt sich also langsam vorzutasten. Tut man dies, dann findet man Antwort auf viele spannende Fragen und es werden einem plötzlich Dinge bewusst, die man als Sehender Mensch für ganz selbstverständlich hält.
"Verführung zu einem Blind Date" besteht aus zwei größeren Themengebieten. Im ersten Teil lässt die Autorin den Leser teilhaben an ihrer Gedankenwelt, ihrer inneren Lebenswelt. Sie erzählt von Liebe und Verliebtsein, von ihrem Schicksalsweg, ihrem Beruf als Diplomsozialpädagogin, von der Wahrnehmung anderer Menschen, vom Umgang mit Lesen und Schreiben (ich wollte schon immer mal Wissen, wie das überhaupt funktioniert mit dem Braillealphabet). Selbstverständlich, wie kann es als Frau – insbesondere wenn man sich der Schwarzen Szene zugehörig fühlt – auch anders sein: kommen auch die Themen Shopping und Styling zur Sprache!
Es zeichnet sich das Bild einer starken, selbstbewussten – beeindruckenden Frau, die selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihren Weg geht. Sehr selten blitzen Verletzlichkeit und Traurigkeit auf, Bitterkeit ob des eigenen Schicksals wird man vergeblich suchen. Als eine Art Überleitung fungiert anschließend ein Kapitel darüber, wie man sich als blinder Mensch im öffentlichen Raum orientiert und bewegt. Hier werden auch Tipps für den öffentlichen Umgang mit blinden Menschen gegeben, sollten etwaige Unsicherheiten bestehen. Im zweiten großen Themengebiet, bestehend aus zehn Kapiteln, widmet sich die Autorin elementaren lebenspraktischen Fragen. Hier dreht sich alles um die Beschaffenheit des häuslichen Umfeldes (alles muss möglichst seinen festen Platz haben), um das Betätigungsfeld Küche mit all seinen Tücken und um Hindernisse, die einem als blindem Menschen im Badezimmer begegnen können. Den Abschluss bildet ein Kapitel über das Träumen und spannt damit einen schönen Bogen zum Beginn des Buches.
Fazit: Der Einladung der Autorin "Ich bin blind und lade euch ein, die Welt mit meinen Augen zu sehen", sollte man unbedingt Folge leisten. Wenn man sich auf das Abenteuer einlässt, im Dunkel Sehen zu lernen und Jennifer mit bedächtigen, aufmerksamen Schritten durch die über vierhundert Buchseiten folgt, öffnet sich eine andere Art der Wahrnehmung, eine andere Art des Welterlebens, die einen zugleich einen anderen Blick auf das eigene Dasein lehrt. Bestechend auch, wie Jennifer immer wieder die Nähe zum Leser sucht, man hat wirklich das Gefühl, bei einer guten Tasse Tee auf der Couch mit ihr zu sitzen und ihr zu zuhören.
Nancy Leyda
Zurück zum Seitenanfang Presseperiplaneta- verlag & mediengruppe 2007 - Hörbuchempfehlung
Ein Buch, wie kein zweites. Authentisch- ja! Sensationslüstern- nein! Ebenso nicht bemüht, zu Schocken, das geht ganz von allein. Und obwohl wir hier die Stimme einer im mehrfachen Sinne Betroffenen vernehmen, so entsagt sich das Buch jeder Form des Selbstmitleids, welches den Betroffenen so gern anhaftet. Das Buch will irgendwie ein "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" des Ostens sein. Die Autorin will aber etwas ganz Anderes.
Sie schildert in einer Art Rückblende, die meisterlich in eine Rahmenhandlung gestrickt ist, ihre Erlebnisse in der Punk- und Drogenszene, versteift sich dabei aber nicht auf die so gern gelesenen süffisanten Details hygienisch bedenklicher Exzesse, die man den jungen Wilden so gern andichtet. In den modrigen Winkeln zugeschissener Abrisshäuser, in Drogencocktails ersoffener Verzweiflung versteift sich nämlich gar nichts mehr. Vielmehr geht es dann bereits ums nackte Überleben, sei es in Schlägereien, die aus haarsträubenden Missverständnissen und Getränkeunfällen sich gnadenlos emporschaukeln oder beim Kampf um den nächsten Schuss, ... nach dem letzten Schuss ...
Constanze S. sieht sich dabei als scharfe Beobachterin dieser traurigen Szenerie, die sich selbst ebenfalls auf jener Gratwanderung befindet, die so oft tragisch endet. Gleichzeitig arbeitet sie in ihrem Buch ihre schleichende Erblindung auf, die sie einerseits auf die Straße trieb und ihr aber auch zu tieferen Erkenntnissen verhilft, weil sie dadurch an die Grenzen ihrer Fähigkeiten getrieben wurde. Erkenntnisse, die ihr den Ausstieg ermöglichten, ohne unter die Räder zu kommen.
Es geht also nicht nur um Drogen und den Exzess der Verzweifelten. Es geht um ganz reales Elend, das in meinen Augen ebenso sinnlos, wie vermeidbar ist. Aber schon immer ist auch ein Teil der Überflussgesellschaft vor vollen Schüsseln verreckt. Schon immer erfrieren ganze Horden ausgestoßener oder ausgerissener Menschen vor voll aufgedrehten Zentralheizungen, weil sie emotional verwahrlosten, in irgend einer Form missbraucht oder traumatisiert wurden oder einfach unfähig sind, sich das enge Korsett überzuziehen, das die anderen Freiheit nennen.
Was "Märchenland im Müll" dabei ausmacht, ist seine klare Sprache. Es ist weder unbeholfen noch aufgeblasen in seiner Art und dennoch brillant geschrieben. Es kommt weitestgehend ohne Plattitüden und Fäkalsprache aus und ist doch so nah an der Realität, wie selten ein ähnlicher Tatsachenbericht zuvor.
Im Gegensatz zur Drogen- und Integrationspolitik unseres Systems, bietet dieses kleine Taschenbuch viele echte Denkanstöße, vielleicht sogar Lösungsansätze, allerdings nicht durch gemeinbekanntes Schwingen der Moralkeule. Und es kann wirklich aufklären, denn im Verlauf der einzelnen, zum Teil erschütternden, Episoden gelingt es Constanze S. in nur wenigen Sätzen, den Weg des Heroins in die Ostmetropolen zu schildern und zugleich liebenswerte Eigenarten ihrer Gemeinschaft einfließen zu lassen. Diese gründet sich auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sowohl in blindes Vertrauen münden, aber auch plötzlich in rohe Gewalt umschlagen kann.
Und es gelingt ihr, in all dem Dreck und Gestank, in all dieser Hoffnungslosigkeit, Grausamkeit und Dummheit mitfühlend zu bleiben. So wird aus "Märchenland im Müll" ein vielschichtiges, autobiographisches Werk, eine Warnung, aber auch eine subtile, jedoch sehr wirksame Erklärung des Umstandes, dass neben der beschriebenen Welt der Stoner, Junkies, der Punks und Freaks noch eine ganz andere Hölle existiert, zu der mancher wörtlich genommen, "ums Verrecken nicht" dazugehören will.
Thomas Manegold
Zurück zum Seitenanfang PresseSchwarzes Leipzig 2007
Rezension
Constanze S. beschreibt mit Dopingen einen Ort mit Menschen, den man überall in Deutschland finden kann. Mit einer ergreifenden Ehrlichkeit und ausdrucksstarken Sprache erzählt Constanze S. von ihrer Zeit des täglichen Ausbruches aus der gutbürgerlichen Welt, in die sie Abend für Abend zurückkehrt. Sie skizziert hierbei auch ihre eindrucksvolle Flucht vor ihrem eigenen Schicksal - dem allmählichen Erblinden. Sie saugt jedes einzelne Detail dieser Welt in sich auf und gibt es an dem Leser weiter, der sich nicht erwehren kann, ein Teil dieser Welt zu werden.
Constanze S. findet Tag für Tag die Zuflucht in der Punker- und wachsenden Drogenszene, ohne dabei jedoch ihr Lebensziel aus den Augen zu verlieren. Während die Freunde um sie herum sich durch Gewalt und Drogen selbst aufgeben, findet sie ihren Weg. Ich kann dieses Buch nur jedem wärmstens empfehlen.
Zurück zum Seitenanfang PresseDunkelblick - Rezensionen
VÖ: November 2006
"Märchenland Im Müll - Der Zauber des Elends" ist ein Buch, welches man einfach gelesen haben muss. Die junge Autorin Constanze S. beschreibt in ihrer ersten Veröffentlichung bei dem Leipziger Verlag Edition PaperOne ihre Jugendzeit in der Straßenpunkszene der 90er Jahre. Dopingen, der Ort wo die Erzählungen passieren, ist das einzig Fiktive an diesem Buch. Denn all diese Geschichten sind wirklich passiert. Constanze erzählt ihre Begegnungen mit Menschen, die sie berührten, bestürzten und auch erschreckten. Aber alle haben sich unauslöschbar in ihr Bewusstsein eingebrannt und finden nun in diesem Werk ein kleines Stück Ewigkeit, denn viele dieser Menschen leben heute nicht mehr.
Das erste Kapitel "Szenenwechsel Im Sinneswandel" erzählt die Entstehungsgeschichte des Buches und gibt Einblicke in die Weltwahrnehmung der Autorin. Denn Constanze S. ist durch eine Krankheit vor einigen Jahren erblindet. In einer Welt völliger Dunkelheit, verstärken sich die anderen Sinne und offenbaren ganz neue Wahrnehmungsebenen, die uns Sehenden sehr oft unzugänglich bleiben. Wie man die eigene Umwelt und die sich darin bewegenden Menschen und Ereignisse wahrnimmt, wird in diesem Kapitel sehr eindringlich beschrieben, so dass der Leser in eine Welt ganz neuer Empfindungen eintaucht. Gerade in einer Szene, die derzeit von enormer Oberflächlichkeit geprägt ist, ein sehr erfrischender und heilsamer Blick.
Im zweiten Kapitel "Die Asphaltseide" beschreibt Constanze S. ihre ersten Begegnungen mit der Straßenpunkszene und ihren Gesichtern, bevor dann die folgenden Kapitel von Einzelschicksalen berichten. Das Kapitel "Die Heroin-Prinzessin" ist dabei eines jener Kapitel, dessen Protagonistin dem Leser einfach im Gedächtnis bleibt. Es berichtet von einem jungen heroinabhängigen Mädchen, einer morbiden Prinzessin, die in all ihrer Zerbrechlichkeit und all ihrem Elend eine unsagbar ergreifende Ausstrahlung und Schönheit besitzt, obwohl sie schon die Aura des Todes umweht. Der lebendige, detailreiche und feinfühlige Schreibstil der Autorin lässt dabei die Orte und Personen vor dem Auge des Lesers in einem ergreifenden Facettenreichtum und einer Tiefe entstehen, deren man sich nicht zu entziehen vermag. "Die Diktatur Des Giftkönigs" beleuchtet im Besonderen die Zerstörungsmacht des Drogenkonsums und die Macht derer, die sich diese zu Nutze machen.
"Seelenskalpell" nimmt den Leser mit in die düsteren, verwüsteten Abgründe menschlichen Seelenlebens und zeigt, wie dieses in der Lage ist, ungeheure Destruktion zu entfalten. Auch die Autorin konfrontiert sich in diesem Buch immer wieder mit ihren eigenen Dämonen: Schmerz, Angst und Verzweiflung werden für den Leser greifbar, nachempfindbar, man wird fast Teil dieser Welt.
"Zwischen Trümmertango Und Totentanz" thematisiert die Geschichte einer besonderen Freundschaft, die letzten Endes auch durch den Teufel Heroin zerstört wird. "When Love And Blood Embrace" stellt eine tiefe, aber deswegen nicht weniger destruktive, Liebe in den Kern der Erzählung. Am Rande des Wahnsinns wird hier die Verbundenheit zweier Menschen spürbar. Die Suche nach Liebe, Zuneigung und Geborgenheit ist auch in dieser kaputten Welt eine der Hauptmotivationen aller Protagonisten. Der Zauber im Elend. Verstärkt werden die Aussagen des Buches durch Fotografien am Anfang eines jeden Kapitels. Die schlichte und direkte, oftmals sehr fragile, Bildsprache eröffnet eine zweite Ebene im Leseprozess und schiebt die Geschehnisse noch lebendiger vor das innere Auge des Lesers.
Mit seiner atemberaubenden Intensität ist dieses Buch zugleich Milieustudie, Tagebuch und ein Reisebericht aus einer Welt des Leids, mit einem Charme, der an Christiane F's "Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo" erinnert. Oder, wie es im letzten Satz des Buches heißt: "…eine Ode an die Abgründigkeit des Lebens…"
Ich lege euch sehr ans Herz, dieses Buch zu lesen.
Nancy Leyda
Zurück zum Seitenanfang PresseThomas Sabottka 2006
[…] Dies ist ein Buch, dessen Sog man sich schwer entziehen kann. Erschütternd, ergreifend, nüchtern, ehrlich, abgeklärt, abstoßend und faszinierend schildert es ein Leben im Dreck, im Müll, umgeben von Verfall, Gewalt und Ablehnung. Ein Leben, in dem der Tod allgegenwärtig ist, denn die Welt der Punks, so wie sie uns heute immer noch begegnen, in den U-Bahnhöfen und vor den Einkaufszentren der modernen, urbanen Gesellschaft, sie ist nicht bunt und schillernd. Sie ist allenfalls schmutzigbunt. In erster Linie aber durch Drogen verseucht. Es ist keine Rebellion, als sabbernder Junkie sein ganzes Leben nach dem nächsten Schuss auszurichten. Es ist nichts Faszinierendes, für die Kohle auf den Strich zu gehen oder zu klauen. Hin und her gerissen zwischen der Suche nach ein wenig menschlicher Wärme, Zärtlichkeit, ja Liebe und wütender Aggression, desillusioniertem Verfall und abgeklärter Stumpfheit dokumentiert Constanze S eine Welt, die den meisten von uns fremd sein dürfte. Eine Welt, die uns abstößt, die der Erzählerin aber jahrelang vertraut, ja Heimat war und in der sie, trotz allem Müll, Dreck und Tod, dennoch Freundschaft und Liebe erfuhr. Immer bis zu dem Punkt, wo sie (im wahrsten Sinne des Wortes) "durch den Tod geschieden wurde".
"Märchenland im Müll" ist ein Buch, das man Sozialarbeitern und Drogenbeauftragten geben sollte, damit sie verstehen, wo für einige unserer Kids die Faszination im Rausch, in diesem Leben liegen kann. Ein Buch, das man aber auch unseren Kids geben sollte, anstatt sie einfach nur vor "Drogenmissbrauch" zu warnen, damit sie erkennen, wie abstoßend und grausam dieses Leben sein kann.
Es ist vor allem aber ein Buch, das einen nicht kalt lässt, das den Leser bewegt, das ihn eintauchen, ja teilhaben lässt an dieser Welt, aus der sich Constanze S gelöst hat, um im wahrsten Sinne des Wortes als "Überlebende" zu dokumentieren.
[…]Menschen mit offenen Augen und vor allem Herzen, kann es aber sogar Kraft geben, denn in der Hoffnung, dass selbst im Müll, im Verfall, irgendwo Liebe sein kann, dass im Leben, so elend es erscheinen mag, immer auch ein Märchen versteckt sein kann und dass sich die Suche danach lohnt, darin liegt die große Stärke dieses Buches. Constanze S hat das Motto der Punks "No Future" durchbrochen, hat für sich eine Zukunft gefunden und dafür gehört ihr meine Bewunderung.
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