Manchmal mutet es ein wenig so an, als würde ich mich nur mit den schöngeistigen Dingen des Lebens befassen. Tatsächlich ist es so, dass ich das Schöne gerade deshalb genieße, weil ich dann das Unschöne gestärkter beim Kragen packen kann. Und das ist manchmal so verdammt nötig! Generell bin ich eher nicht so gern die, die meckert, sondern die, die macht. Aber auch ich gerate regelmäßig an meine Grenzen. Wenn ich schlechte Teilhabebedingungen erlebe, nicht selbstbestimmt agieren kann und Diskriminierung erfahre, oder beobachte, dass sie anderen wiederfährt, versuche ich natürlich mit viel Engagement und noch mehr Optimismus, etwas dagegen zu unternehmen. Hin und wieder gehe auch ich als Mutmacherin, da bin ich ganz ehrlich, saft- und kraftlos aus so einem Kampf heraus. Und das sind manchmal wirklich Kämpfe. Wir Menschen mit Behinderungen wissen das all zu gut. Ich persönlich sollte das in den letzten Monaten in einem Bereich erleben, in dem ich es nicht für möglich gehalten hätte, steckte ich doch selbst seit meinem Studium so viele Jahre in einem helfenden Beruf und bildete Menschen in helfenden Berufen weiter. Nun war ich selbst auf Hilfe angewiesen und machte erstaunliche Entdeckungen in unserem Gesundheitssystem.
Leider schlich sich ein sehr belastender Tinnitus in mein Leben und da die Ohren für mich als Blinde besonders wichtig sind, behinderte er mich extrem. Konzentration und Orientierung waren zunehmend eingeschränkter und schlafen ließ er mich auch nicht mehr. Ich machte mich also verzweifelt auf die Suche nach AnsprechpartnerInnen in Sachen "Flötentöne im Ohr". Die Recherche gestaltete sich nicht ganz einfach, da ich, mittlerweile ebenfalls seit Monaten, auf die Bewilligung meiner blindentechnischen Computerausstattung wartete und praktisch weder selbst Informationen recherchieren noch notieren konnte. Aber das ist wieder eine andere Teilhabe-Baustelle.
Begeistert erfuhr ich von den Angeboten verschiedener Tinnituskliniken, die sehr kompetent und kundenorientiert für ihre Therapieansätze warben. Mein erster Anruf in einer Kureinrichtung in Hessen ließ es jedoch gleich noch lauter in meinen Ohren klingeln: "Sie sind blind!?! Und Sie haben kein Restsehen mehr? Da können Sie sich bei uns nicht zu den einzelnen Therapiestationen orientieren. Das geht nicht. Also wenn Sie wenigstens noch einen Rest sehen würden, dann wäre es ja etwas anderes, aber so… Dafür haben wir kein Personal." Die Frage mit dem Sehrest kam dann noch ganze dreimal und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich ja nun wirklich keinen zu bieten hatte. Zu bieten hatte ich allerdings sehr entgegenkommende Vorschläge, wie mit mir auch ohne zusätzliches Personal zurechtzukommen sei. Darauf ließ sich die nette Dame am anderen Ende, nicht ganz unbeeindruckt von meiner Doppelbelastung, allerdings nicht im Ansatz ein, solange ich eben keinen Sehrest mitbrächte. "Schöne" Klinik! Ich kam mir vor wie ein Mensch zweiter Klasse. Dabei hatte man im Prospekt so verständnisvoll beschrieben, wie einschränkend so ein Ohrgeräusch sein kann. Nicht aber für blinde Menschen?
Gut, nächster Versuch, das konnte doch nur ein Einzelfall sein. Ich meldete mich auf Empfehlung bei einem Tinnituszentrum in Thüringen: "Ach, Sie sind blind!?! Ganz blind? Dann können Sie ja gar nichts sehen. Nein, dann können Sie unser Therapieangebot nicht nutzen." Mit einem Kloß im Hals fragte ich warum es nicht ginge, da es sich bei der Therapie um ein spezielles Hörübungsprogramm handelte und die Ohren brachte ich ja mit. Antwort: "Die Hörübungen stehen in einem Handbuch, das können Sie nicht lesen. Es gibt kein Personal zum Vorlesen." Da bot ich, gewohnt mich freundlich zu erklären, einen Lösungsvorschlag an: Ich kann mir die Übungen gern auf meinen sprechenden PC übertragen, wenn er bewilligt ist. So belaste ich kein Personal und kann die Übungen selbstständig ausführen und ausfüllen." Weit gefehlt! Da läge ja ein Patentrecht drauf und mit Nichten könne ich das Handbuch als elektronische Textfassung bekommen. Ich könne ja Missbrauch damit betreiben. Schluck! Der wie auch immer geartete Missbrauch von Handbüchern mit Hörübungen für TinnituspatientInnen lag mir so fern wie denen das Verständnis von der Not blinder Menschen mit Tinnitus. Da wurde mir die medizinische Versorgung verwehrt wegen eines Patentrechts, was ich gar nicht brechen wollte.
Nachdem meine Ohrenärztin ihrerseits anfragte, erhielt ich die Auskunft, ich könne kommen, wenn ich die gesamte Therapie eine ganze Woche lang mit einer eigenen Begleitperson absichern würde. Häää? Da glaubte auch mein Mann im Ohr, er hätte sich verhört. Mal abgesehen davon, dass meine Familienmitglieder allesamt berufstätig sind, musste ich noch bei keinem Krankenhausaufenthalt eine eigene Begleitperson mitbringen, für deren Organisation und Finanzierung ich ja dann auch irgendwie aufkommen müsste. Und das wäre ja in meinem Fall auch gar nicht nötig.
Nötig wäre zur Entkrampfung aller eine Personalschulung zum Umgang mit blinden und sehbehinderten PatientInnen, zur Überwindung der Barrieren im Kopf. Nicht zu wenig Personal, sondern zu viel Berührungsangst, erzeugte das Problem. Ein einmal eingeführter Standard wäre eine Bereicherung für alle und Basis für ein zukunftsorientiertes, inklusives Gesamtkonzept. Selbst wenn ich krank bin, sehe ich mich in der Pflicht, BehinderungsfremdlerInnen abzuholen, auch wenn ich dann selbst einfach nur mal abgeholt werden möchte. Ich bin da für totale Offenheit. Niemand muss verspannen, weil er sich mit etwas nicht auskennt. Immer raus damit und wir finden gemeinsam eine Lösung. Ich bin wahnsinnig dankbar, wenn mein Gegenüber, genau wie ich, die Sache als kreative Herausforderung betrachtet.
Übrigens gaben mir noch zwei weitere Einrichtungen direkt den Laufpass. Eine dritte sagte mir das bereits zugesagte Bett wieder ab, nachdem ich meine Blindheit im telefonischen Vorgespräch erwähnte. Aber auch diese Erfahrungen versuche ich ins Positive zu verkehren. Es gibt viele neue Impulse für die Inklusionsarbeit, neuen Tatendrang in Sachen Teilhabe und einen sehr bereichernden Austausch mit anderen Betroffenen, die ähnliche Erfahrungen gesammelt haben. Es ist hilfreich aufzuzeigen, wo etwas schon super funktioniert. Das nützt immer auch denen, die nicht so recht wissen, wie es geht.
Ich habe nun endlich einen Fuß in ein Tinnituszentrum in Leipzig bekommen, in welchem meine Blindheit kein Hinderungsgrund ist. Das war ein langer Weg und ich bin sehr dankbar, gerade weil ich weiß, dass diese Annahme "noch" nicht selbstverständlich ist. Für alle OhrenpatientInnen mit Seheinschränkungen noch ein Tipp: die selbst erblindete psychotherapeutische Heilpraktikerin Heike Herrmann (http://www.Captain-Handicap.de) ist sehr engagiert für Menschen mit Hör-Sehbehinderungen und kann hilfreiche Kontakte, etwa zu Mailinglisten Betroffener, vermitteln. Außerdem stellt sie auf ihrer Homepage entsprechende Vorträge und ihr barrierefreies Beratungskonzept vor.
Aufmerksam machen möchte ich nun noch sehr gern auf den inklusiven Standard der MediClin Kliniken, welche es in verschiedenen Regionen mit unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen gibt. Eine sehbeeinträchtigte Kollegin hat in Sachen Tinnitus gute Erfahrungen in der Bosenbergklinik gemacht. Dort fand ich auch eine Auflistung zum Umgang mit blinden und sehbehinderten PatientInnen, die mir beispielhaft erscheint. Barrierefreiheit ist wirklich kein Hexenwerk, sondern sehr oft Offenheit und Kommunikation, wie die folgende Zusammenstellung zeigt:
Blinde und sehbehinderte Patienten können (müssen nicht) eine Begleitperson mitbringen.
Darüber hinaus gehen die MediClin Reha-Zentren und die MediClin Kliniken in besonderem Maße auf die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Patienten ein:
Quelle: MediClin
Foto: Jennifer Sonntag im Gespräch mit Politiker Matthias Platzeck, der nach wiederholtem Hörsturz lernte, mit seinem Tinnitus zu leben