Hörtheater zum Begegnen und Begreifen



Inklusionspatenschaften am Schauspiel Leipzig

Am 16. November 2016 startete das Schauspiel Leipzig in Zusammenarbeit mit der Stiftung Bürger für Leipzig das Projekt "Inklusionspatenschaften". Diese kulturelle Teilhabemöglichkeit ergänzte das bereits bestehende Angebot live zugeschalteter Audiodeskriptionen für blinde und sehbehinderte Gäste.

Zum Auftakt begrüßte das Schauspiel prominente LeipzigerInnen als Paten: Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, den Musiker Lot ("Warum soll sich das ändern"), MDR-Moderator Peter Escher ("Ein Fall für Escher" und "Meine zweite Chance"), die Schauspielerin Melanie Marschke ("SOKO Leipzig") und den Sitzvolleyball-Nationalspieler Christof Herzog (Bronzemedaille Paralympics London 2012). Für das Schauspiel Leipzig werden der Intendant Enrico Lübbe und Ensemblemitglied Denis Petkovic eine Patenschaft übernehmen.

Die sehenden BegleiterInnen, darunter auch engagierte Leipziger BürgerInnen, hatten sich für diesen Nachmittag mit blinden und sehbehinderten Gästen zu einem eindrücklichen Theatererlebnis verabredet. Die Patenschaften sollten die Mobilität der blinden und sehbehinderten Gäste erleichtern: der gemeinsame Theaterbesuch wurde einfacher, Barrieren bei der Anfahrt oder die Sitzplatzsuche waren leichter zu bewältigen. Und die Inklusionspatin/der Inklusionspate erlebte das Schauspiel aus einer anderen Perspektive, da man gemeinsam an der blindengerechten Bühnen- und Stückeinführung vor Vorstellungsbeginn teilnehmen konnte. Am Ende stand der Austausch über das Stück und die Verarbeitung der Eindrücke, die jeder auf seine Weise gewann. Blinden und sehbehinderten Gästen stand eine über Kopfhörer live zugeschaltete Audiodeskription zur Verfügung, durch welche das Bühnengeschehen in Worte übersetzt wurde. Bereits seit 2013 gibt es einmal monatlich ein hörbares Bühnenstück.

Sinnesfreuden für meine Kopfkulissen

Als Inklusionsbotschafterin der "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland" und blinde Kulturinteressierte, durfte ich die Auftaktveranstaltung zu den Inklusionspatenschaften mit allen Sinnen genießen. Bereits das Foyer bot sinnliche Erlebnisse, wenn man dort blinde Bekannte erkannte, weil man ihr Parfüm erschnupperte oder das Bellen ihres Führhundes identifizierte. Einige werde ich auch "übersehen" haben, das wird sich aber, wie so oft, erst im Nachhinein herausstellen. Wir Gäste waren ja im Flüsterton unterwegs und bei uns Ohrenmenschen gilt: wer nicht spricht, ist nicht da. Gesprochen hat an diesem Abend glücklicherweise der Regisseur des gezeigten Stücks, dessen einführende Worte uns bereits in die Welt des Theaters entführten. Worte zeichnen Bilder in die Köpfe nicht sehender "HörschauerInnen" und sind somit schon Theater. Auf der einladend barrierefreien Seite des Schauspiels Leipzig konnte ich mich auch bereits im Vorfeld über die Hintergründe des Stoffs informieren und stieß auf blindenfreundliche Hörbeispiele. Theater spricht mich persönlich nur dann an, wenn es aufklärt, verändert, aufrüttelt. "Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen" stießen durchaus auch wegen der aktuellen Sicht auf geflüchtete Menschen auf mein Interesse. Ich war beeindruckt von der Bühnenführung, durch die wir Nichtsehenden im wahrsten Wortsinn uns einfühlen konnten, in Kostüme, Requisiten und Kulissen, durch die wir den Boden erspüren konnten, den die SchauspielerInnen später zum Schwingen bringen würden. Als Erblindete erlebe ich es manchmal schon noch als schmerzlich, das Bühnengeschehen nicht visuell verfolgen zu dürfen. In mir brennt dann oft der Wunsch, nach vorn zu gehen, und die DarstellerInnen in ihrer Theatralik mit dem Tastsinn zu bestaunen, auch wenn es mich in anderen Lebensbereichen nicht dazu drängt. Die pompösen Kleider, die schrägen Kostüme, die man sich durch keine Beschreibung der Welt so vorgestellt hätte, und auch die Bühnengestaltung im Vorfeld durch ein Umsehen mit den Händen "begreifen" zu können, erlebte ich als ganz neue Wahrnehmungsqualität. Auch das Begehen des, wie ein aufgeschnittenes Boot gestalteten Bühnenbodens, ließ Bilder vor meinem inneren Auge entstehen, die ich im Anschluss, als das Stück aufgeführt wurde, wieder abrufen konnte. Ich stellte die SchauspielerInnen im Geiste in genau die Kulissen, die ich vorher abgelaufen war, hüllte sie in die Kostüme, die ich ertastet hatte. Die zusätzlich live zugeschaltete Audiodeskription erlaubte es mir, mich während des Stücks überall auf der Bühne umzusehen. Ich hatte das Gefühl, dass sich plötzlich unzählige Augen in mir öffneten und dass ich auf eine Weise wieder da war, die ich längst verabschiedet hatte. Es war ein wenig so, als würde ich noch sehen können, als würden Sinneseindrücke in einer Selbstverständlichkeit zu mir gelangen, wie sie es bei einem sinnesgesunden Menschen tun, mit Leichtigkeit, ohne Konzentration und Kompensation, ohne angesträngtes Erfragen, Erbitten, Ertragen. Wie anstrengend ist es sonst bei einem Event, sich all die Fragen aufzuheben, die man doch so gerne stellen möchte, weil man nicht nachvollziehen kann, was sich auf der Bühne und generell um einen herum abspielt? Und wie anstrengend ist es auch oft für die Begleitperson, all die Eindrücke zu beschreiben, die sie selbst erst einmal verarbeiten muss? Oft erfahre ich erst Tage später oder nie, was sich visuell bei einer Veranstaltung zutrug. Diese innere Freiheit und Selbstbestimmung am Schauspiel Leipzig erlebt zu haben, war neu und großartig!

Wie funktionieren die Patenschaften praktisch?

Geben blinde Theatergäste beim Kauf ihrer Theaterkarte an, dass sie eine Begleitung wünschen, wird ihnen eine Inklusionspatin oder ein Inklusionspate vermittelt, die/der die betreffende Aufführung ebenfalls gerne besuchen möchte. Die "Details" des Besuchs, wie z.B. den Treffpunkt, vereinbaren dann beide Gäste direkt miteinander. Alle Informationen zum Projekt finden Sie unter:

https://www.buergerfuerleipzig.de/inklusionspatenschaft

Foto: Bühnenführung am Schauspiel Leipzig, Jennifer Sonntag mit Partner, Inklusionspate Peter Escher begleitet blinden Gast Sebastian Schulze, der mit Führhund Sunny zu sehen ist

Foto: Bühnenführung am Schauspiel Leipzig, Jennifer Sonntag mit Partner, Inklusionspate Peter Escher begleitet blinden Gast Sebastian Schulze, der mit Führhund Sunny zu sehen ist

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