Jennifer Sonntag ist Inklusionsbotschafterin, Autorin und Moderatorin der "SonntagsFragen" in der MDR-Sendung "Selbstbestimmt!". In diesem Kurztalkformat interviewt sie Prominente zu Fragen, die das Leben betreffen und lenkt immer wieder überraschend vom Sehsinn ab, um andere Sinne zu schärfen. Jennifer Sonntag ist blind. Im Interview mit unserem Fotografen und Autoren Oliver Baglieri spricht sie über diskriminierende Redewendungen, darüber wie ihre Gesprächspartner auf ihr Handicap reagieren und die Vorteile der Blindheit.
In einer unserer letzten Ausgaben berichteten wir über die Initiative "Leid-Medien", welche es sich zum Ziel gemacht hat, körperlich und psychisch beeinträchtigte Menschen in den Medien nicht durch unbedachte Wortwahl zu diskreditieren, geschweige denn zu diskriminieren. Sie sind zu einem relativ späten Zeitpunkt erblindet. Inwiefern stimmt Ihr Selbstbild, mit dem was die Medien sprachlich darstellen, überein und wie nehmen Sie als Journalistin und Moderatorin der MDR-Sendung "Selbstbestimmt!" die Themen wahr?
Sprechen und Sprache wahrnehmen sind für mich wie sehen und gesehen werden. Deshalb ist für mich der verantwortungsvolle Umgang mit Sprache oberstes Gebot. Jeder ist verantwortlich für seine Wortwahl und hat die Konsequenzen dafür zu tragen, im positiven, wie im negativen Sinne. Ich bin ein sehr humorvoller Mensch und wer mich kennt weiß, dass ich mit Galgenhumor nicht sparsam umgehe und es bei mir selbst mit politischer Korrektheit auch nicht übertreibe. Aber ich schaue schon sehr genau hin, wenn Journalisten undurchdachte Metaphern verwenden und diese tatsächlich vom Betroffenen als diskriminierend empfunden werden können. So gibt es zum Beispiel eine Vielzahl blinder Menschen, die durchaus von der Farbe reden können, weil sie vor ihrer Erblindung ein ausgeprägtes Bewusstsein für Farben entwickelten oder weil sie sich trotz einer angeborenen Blindheit vielleicht intensiv mit der Wirkung von Farben befassten. Der Ausspruch Sehender: Ich bin doch nicht blind!" meint oft: "Ich bin doch nicht blöd!". Diese blind-gleich-blöd-Verknüpfung empfinden sehr viele blinde Menschen als abwertend, da gerade sie auf ihre geistigen Fähigkeiten angewiesen sind und sich meistens ganz gut bei Verstand fühlen. "Guck mal" oder "Auf Wiedersehen" sind jedoch durchaus auch bei "Blindgängern" erlaubt. Auch blinde Zuschauer gucken sich Fernsehsendungen an und sehen auch mal schwarz. Hier muss man nicht beginnen, die Sprache künstlich zu verbiegen. Ich spaße oft mit Wortspielen und das darf ich auch, wenn es um meine eigene Behinderung geht, schließlich bin ich selbst betroffen. Bei anderen Behinderungsformen würde ich mir das nicht erlauben, das dürfen die "Leid-Tragenden" selbst entscheiden. Mir ist bewusst, dass viele Formulierungen vom Menschen ohne Behinderungen oft "gar nicht so gemeint" sind. Das ist aber keine Entschuldigung und das hat auch nichts mit der berühmten "Goldwaage" zu tun. Ich muss mich da aber auch an die eigene Nase fassen. Bloß weil ich auf die sperrige Wortendung "innen" verzichte, möchte ich mir noch lange keine Frauenfeindlichkeit unterstellen lassen. Auch ich schließe die Weiblichkeit ganz selbstverständlich ein, obwohl ich sie nicht hinschreibe.
Sie sind beruflich sehr agil, haben Bücher geschrieben, arbeiten als Inklusionsbotschafterin, gleichzeitig aber auch als Journalistin und moderieren. Unter Ihren Gästen sind oft auch sehr prominente Menschen. Wie gehen diese mit Ihrer Blindheit um? Gibt es Berührungsängste, weil Sie anders sind?
Ich moderiere seit 2008 für die Sendung "Selbstbestimmt!" die "SonntagsFragen", die es mittlerweile auch online als Langfassung gibt. Dafür bin ich sehr dankbar, denn mehr Sendezeit erlaubt auch dem Zuschauer einen tieferen Zugang zum Promi, der sich im Dialog mit einem blinden Menschen oft in ungewohnte Denk- und Handlungsräume begibt. Die stark gekürzte Fernsehfassung ermöglicht ja immer nur einen winzigen Einblick. Natürlich reagieren meine prominenten Gesprächspartner so unterschiedlich, wie Menschen eben sein können. Manche schließen selbst die Augen, weil sie es genießen, ganz bewusst mit ihren Ohren in unsere Begegnung einzutauchen, andere vollziehen wilde Ausweichmanöver mit den Augen, weil es sie befremdet, Blickkontakt mit einer blinden Frau aufzunehmen. Es gab auch immer wieder Gäste, die mir anboten, sie zu berühren. Ich als Duftsammlerin speichere mir, neben den gesagten Worten, allerdings eher das olfaktorische Gesicht eines Menschen ab und denke in Parfümbildern. Viele haben den Mut, sich besonders sinnlich, besonders tiefgründig zu geben und die gewohnte Medienoberfläche zu verlassen.
Gerade Diese Antwort zeigt uns doch, dass Ihre Blindheit Sie um Erlebnisse und Wahrnehmungen zu bereichern scheint. Dazu kommt ihr nicht selten schwarzer Humor, welchen Sie vor allen Dingen auch in Ihrem Buch "Verführung zu einem Blind Date" zum Ausdruck bringen. Sie nehmen sich darin nicht selten selbst aufs Korn. Erleben blinde Menschen, auch wenn es für Sehende kaum nachvollziehbar ist, die Welt manchmal sogar als bereichernder, intensiver oder gar schöner, da bewusster?
Ja, wenn die Blindheit einen Sinn hat, dann vielleicht den, dass ich gelernt habe, meine inneren Lichtschalter bewusst zu betätigen. In meinem Hirn ist also ständig das Licht an, wenn man so sagen kann. Die Blindheit kann mir ja das Denken nicht verbieten, im Gegenteil, sie verlangt mir eine Menge davon ab. Das empfinde ich aber durchaus als Bereicherung. Ich muss mehr hinterfragen, mehr besprechen, mehr nachdenken, um mir ein inneres Bild machen zu können. Das ist dann aber auch besonders intensiv. Was früher selbstverständlich war, weiß ich heute extrem zu schätzen, da ich erfahren musste, wie schnell etwas wirklich Elementares verloren gehen kann. Wie soll man die Bedeutung von Glück wirklich kennen, wenn man nicht auch mal so richtig Pech hatte im Leben? Ich bin Genussmensch geworden und zelebriere meine Sinnesfreuden.
Kürzlich hatten wir in der "Kippe" das Titelthema "Freizeit und Erholung". Nun sind Sie ja vielfältig unterwegs, als Autorin, Inklusionsbotschafterin, Fernsehfrau und Herausgeberin von Hörbüchern. Haben Sie da noch Freizeit? Wie gestalten Sie diese, wenn Sie mal nicht arbeiten?
Ich lebe und liebe Sinnesfreuden aller Art. Wer das Schöne genießt, kann das Schlechte gestärkt beim Kragen packen. Dabei ist ja das Schöne auch relativ. Ich fühle mich besonders inspiriert von Themen mit Ecken und Kanten. Meine Musen müssen immer ein wenig morbid sein. Mich kann durchaus Kunst und Kultur entspannen, die etwas düster und abgründig ist. Ich liebe anregende Gespräche mit tiefgründigen Menschen. Das gibt mir sehr viel Energie. Musik, Literatur, die Natur, gutes Essen, ein Wein, ein Duft, eine Erkenntnis, einfach mal Gast sein und mich von den Verlockungen des Lebens verzaubern lassen, das macht meine Freizeit aus.
Oliver Baglieri für das Leipziger Straßenmagazin "Kippe", aktualisiert 2016
Foto: Jennifer Sonntag im Interview
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