(Orientierung und Mobilität im öffentlichen Raum)
Du hier? Ich freu mich, dich zu treffen, geschätzter Leser. Ganz schön laut an dieser Kreuzung, an welcher wir uns gerade begegnen. Ich weiß nicht wie es dir geht, aber meine Gehörgänge werden im Moment von einer überwältigenden Lärmkulisse durchdrungen. Ich vernehme die Existenz vieler Menschen um mich herum. Darunter sind Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und auch Kinder. Sie verraten sich durch ihre Schritte und Stimmen. Ich höre Pkws, Straßenbahnen, Busse und Lkws, Fahr- und Motorräder aus verschiedensten Richtungen und frage mich gerade, wann ich den ersten Schritt tun kann, um unbeschadet über die Straße zu gelangen. Von der nahe liegenden Baustelle rattert ein Presslufthammer und hinter mir fällt eine massive Haustür ins Schloss. Hin und wieder bellt ein Hund, die Vögel zwitschern in den wenigen Bäumen und um meinen Kopf herum surrt ein Insekt. Neben mir klimpert jemand eine SMS in sein Mobiltelefon. Ich kann es an dem hauchzarten Tippgeräuschen erkennen, welche beim Betätigen der Tasten ausgelöst werden. Von der anderen Seite zischelt ein Feuerzeug, mit dessen Hilfe ein Passant vermutlich gerade seinen Glimmstengel zum Leben erweckt. Auf dem Boden schräg vor mir rollt eine leere Flasche umher. Schräg gegenüber plätschert ein Springbrunnen. Der Musikgeschmack einiger Autofahrer bleibt kein Geheimnis. Von links dröhnen "Die Böhsen Onkelz", von rechts trällert Jennifer Lopez. Ich nehme wahr, wie jemand mit einem Besen Fegegeräusche erzeugt. In der Ferne schrillen Sirenen. Ich registriere das Rauschen des Windes. Ein Werbeaufsteller wird umgepustet und fällt lautstark zu Boden. Gleichzeitig vernehme ich den Türgong des Gemüseladens, welcher von der gegenüberliegenden Einkaufspassage herüber tönt. Einkaufstüten rascheln in den Händen ihrer Träger. Eine akustische Ampel höre ich leider nicht, denn an dieser Stelle existiert kein solches Exemplar.
Nun, aufmerksamer Leser, ich vermute, du wirst all die beschriebenen Informationen nur zum Teil bewusst aufnehmen, da sie für deine Orientierung nicht elementar sind. Du wirst einfach schauen, wann die Straße frei ist, und herüber gehen. Das ist für einen Sehenden auch eine durchaus sinnvolle Verhaltensstrategie. Ich allerdings muss mit den Ohren sehr aufmerksam in sämtliche Himmelsrichtungen "schauen" um einschätzen zu können, wann die Straße passierbar ist. Ich wäre entzückt, interessierter Leser, wenn du mich ein Stück begleiten würdest. Ich möchte dir gern zeigen, wie ich mich im öffentlichen Raum orientieren und fortbewegen kann, ohne mich und andere in Gefahr zu bringen. Du bist unsicher, weil du nicht weißt, wie sich der Umgang mit einem blinden Menschen in der Öffentlichkeit möglichst angenehm für beide Seiten gestaltet? Keine Sorge, wenn du magst, gebe ich dir im Laufe dieses Kapitels einige hilfreiche Tipps mit auf unseren gemeinsamen Weg.
In Deutschland verfügt jeder blinde Mensch über einen gesetzlichen Anspruch auf die Gewährung eines professionellen Orientierungs- und Mobilitätstrainings. Erlernte Mobilitätsstrategien ermöglichen es dem Betroffenen weitgehend selbstständig von einem bestimmten Ausgangspunkt zu einem definierten Zielort zu gelangen. Mit Orientierung ist während dieses Vorgangs der konstruktive Einsatz der vorhandenen Sinnespotenziale gemeint.
Wie du aus der Darstellung meiner eigenen Blindheit vielleicht bereits herausgelesen hast, aufmerksamer Begleiter, ist nicht jeder Betroffene schwarzblind. Auch ein hochgradig sehbehinderter Mensch, oder ein blinder, welcher über visuelle Restwahrnehmungen verfügt, kann auf Mobilitäts- und Orientierungshilfen angewiesen sein. Als hochgradig sehbehindert gelten vor der Gesetzgebung all die Personen, welche auf dem besseren Auge trotz Sehhilfe nicht mehr als 5 Prozent sehen oder unter einer dieser Dimension gleichzusetzenden Gesichtsfeldeinengung leiden. Als blind werden diejenigen Personen bezeichnet, deren Sehvermögen auf dem besseren Auge nicht mehr als 2 Prozent beträgt oder deren Gesichtsfeld sehr stark eingeschränkt ist (5 Grad oder weniger). Blindheit liegt also nicht nur dann vor, wenn man gar nichts mehr sieht.
Die Gestaltung und der Ablauf eines Orientierungs- und Mobilitätstrainings (auch O&M- oder Mobitraining genannt) richten sich nach den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen. Manchem genügt es, morgens den Weg zum nahe liegenden Bäcker an der nächsten Häuserecke zu finden, ein anderer ist beruflich oder privat in ganz Deutschland unterwegs und benötigt deshalb natürlich ein umfassenderes Training. Oft muss durch städtebauliche Veränderungen das einmal Antrainierte wieder umgelernt werden. Zu den grundlegenden Inhalten einer O&M- Schulung gehören in jedem Fall: das Kennenlernen elementarer O&M-Strategien unter der Einbeziehung geeigneter Hilfsmittel und Hilfestellungen, die Sensibilisierung der vorhandenen Wahrnehmungskanäle, die gezielte Verbesserung bereits vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Einüben erforderlicher Wege unter der Einbeziehung informativer Umweltbeschaffenheiten, das Erlernen von Körperschutztechniken, der Erwerb von Kompetenzen zur zuverlässigen Interpretation des Verkehrsgeschehens, das Kennenlernen von Techniken zur sicheren Überquerung von Straßen, der Erwerb von sinnvollen Verhaltensstrategien in der Öffentlichkeit (z. B. in Verkehrsmitteln oder Gebäuden) und das Kennenlernen der Grundregeln des Führens und Geführtwerdens.
Foto: Marcel Urzowski
Die elementarste Mobilitätshilfe für blinde Menschen stellt der weiße Langstock dar. Allerdings dient er nicht nur der Mobilität, sondern fungiert neben der gelben Armbinde mit den drei schwarzen Punkten oder dem weißen Führgeschirr des Blindenhundes als Verkehrsschutzzeichen. Bewegt sich ein blinder Mensch ohne sehende Begleitung im Straßenverkehr, muss er dieser Kennzeichnungspflicht nachkommen. Tut er dies nicht, erlischt im Unglücksfall sein Anspruch auf Schadensersatz.
Ich sage dir, lieber Leser, ich habe ihn gehasst, diesen Stock, dieses Stigma. Er outete mich als Behinderte und als solche fand ich mich widerwärtig. Wie oft habe ich ihn verleugnet, diesen treuen Freund, habe ihn in die verstecktesten Ecken verbannt. Schließlich vergegenständlichte er meine Blindheit und diese wollte ich, genau wie ihn, nicht wahrhaben. Jenen Kampf kennen viele blinde Menschen. Sie versuchen, auch wenn es längst nicht mehr schmerzfrei funktioniert, wie ein "Gucki" durch die Welt zu schlendern. Man will ja nicht gesehen werden, mit diesem Ungetüm namens Blindenstock. Blindenstöcke haben doch nur Blinde und da sollen sie auch schön bleiben. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem die Verleugnung "gebrochen" wird. Meist dann, wenn man sich etwas "gebrochen" hat. Ein erblindeter Rehabilitand z. B. "schmiegte" sich unfreiwillig um ein fahrendes Auto und musste im Krankenhaus mit hohem Aufwand wieder "zusammengeschraubt" werden. Eine Bekannte fuhr in der Innenstadt Fahrrad ohne Augenlicht und brach sich daraufhin beide Beine. Manch einer braucht vom Leben eben eins mit der Keule auf den Kopf, um endlich zu begreifen, dass sich etwas ändern muss.
Auch ich erlebte meinen ultimativen Schlüsselmoment. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Aufgrund meines mangelnden Sehvermögens stieg ich in die falsche Straßenbahn. Meine antrainierten Schrittfolgen konnten mir nun nicht mehr helfen, da sie nur in bekannter Umgebung funktionierten. Als ich nun in unbekannten Gefilden strandete, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich mein fehlendes Sehen hier nicht vertuschen konnte. Es hätte wenig Sinn gemacht einen Passanten um Hilfe zu bitten. Das hätte Ungläubigkeit und Missmut geschürt. Was hätte ich denn sagen sollen? "Entschuldigen Sie, ich bin eine Blinde ohne Stock, wo bin ich, wo muss ich hin?" Da man mir meine Blindheit nicht ansah, nahm man sie mir ohnehin nie ab. Noch heute fühlen sich hin und wieder einige Mitmenschen veralbert, wenn ich ihnen mitteile, dass ich sie nicht sehen kann. Also stolperte ich "blindlinks" durch die Botanik, in eine Richtung, von der ich glaubte, es sei die passende. Auf meine Mitmenschen muss ich wohl wie eine Amokläuferin gewirkt haben. Ich lief vor Mülltonnen, stolperte Stufen hinab und herauf, lief in Hundeleinen, trat kleine Kinder um, ging im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Eiscafe über Tische und Bänke, stieß einem Mann den Aktenkoffer aus der Hand. Schlug mit der Nase vor ein Schild, kippte an einem Gemüsestand die Orangenkisten um und riss einer Oma die Krücke weg. Mein Outfit trug nicht gerade zu mehr Verständnis in den Köpfen meiner verwirrten Mitmenschen bei. Ich war ursprünglich auf dem Weg zu einer Party und war zu allem Überfluss auch noch irrsinnig aufgetakelt. Jedenfalls fügte sich mein Styling nicht gerade optimal in diesen spontan inszenierten Hürdenlauf und ich verbreitete mit Sicherheit für meine Umwelt den Charme einer Prostituierten auf LSD. Vielleicht ahnst du es, schmunzelnder Leser, seit diesem Tag wurde der Langstock zu meinem ständigen Begleiter. Ich modifizierte ihn in meinem Bewusstsein zu einem hilfreichen Accessoire, welches durchaus unbehindert und ladylike wirken kann. Eine sehr attraktive, erst vor kurzem erblindete Rehabilitandin bestätigte mich in meiner neu gewonnenen Identität mit folgenden Worten: "Wir werden den Blindenstock salonfähig machen!".
Die gelbe Armbinde lehne ich jedoch ab, da sie für mich einen ästhetischen Schandfleck darstellt und in meinen Augen das Charisma eines Davidsterns versprüht. Wie Eingangs formuliert ist der Langstock ein anerkanntes Verkehrsschutzzeichen. Leider gibt es aber auch unter den Sehenden Blinde, da sie meinen Stock oft irrtümlich für einen Nordic-Walking-Stock halten. Ich werde dann häufig beschimpft, weil man mir Rücksichtslosigkeit unterstellt. Erkläre ich dann, dass mein Stock doch für jeden sichtbar vollkommen anders benutzt wird und auch anders ausschaut als ein Walkingstock, erreiche ich nicht immer Einsicht. Mir wird dann oft das Gefühl gegeben, dass ich die Rücksichtslose sei, weil mein Hilfsmittel an ein Sportgerät erinnert. Bei dieser Form des Unverständnisses würde es auch nicht helfen, wenn ich eine Armbinde tragen würde. Ich habe es versucht, auch wenn es schwer fiel, aber man hielt die Kennzeichnung für einen geschmacklosen Witz oder nahm sie nicht wahr, weil der Wind meine Haare darüber wehte oder der Arm mit der Binde nicht aus jeder Richtung zu sehen war. In diesem Fall hätte ich an beiden Armen eine Binde tragen müssen und irgendwo hört die "Freundschaft" auf. Ein Sehender muss in der Lage sein, einen Blinden an dessen Stock zu erkennen. So ist es nun einmal. Ein Rollstuhlfahrer im Rollstuhl signalisiert seiner Umwelt schließlich auch auf diese Weise, dass er ein Rollstuhlfahrer ist, weil er im Rollstuhl sitzt. Ich denke, es ist überflüssig, ihm den Satz: "Ich bin ein Rollstuhlfahrer, weil ich im Rollstuhl sitze" auf die Stirn zu schreiben.
Nicht jeder Zeitgenosse, der erkennt, dass er mich zu Unrecht beschimpfte, entschuldigt sich im Nachhinein. Im Gegenteil, man findet die absurdesten Argumente, um aus dem Schneider zu sein: "Na sie haben ja die Augen auf, da kann ja keiner wissen, dass sie blind sind. Sie müssen die Augen zumachen.", "Sie sehen ja schließlich nicht blind aus, da brauchen sie sich nicht wundern.", "So jung und dann blind, das kann ja gar nicht sein.", "Sie sind selber Schuld, wenn sie keine dunkle Sonnenbrille aufsetzen". Das sind nur einige Sätze, lieber Leser, die mir in den letzten Jahren sehr wehtaten. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich gerade noch mit dem Leben davonkam, da mich ein umsichtiger Passant rettete. Ein Bauarbeiter kam mit seinem monströsen Fahrzeug in einer Fußgängerzone rückwärts rasant auf mich zugerollt, ohne sich umzuschauen. Ich ging meinen trainierten Weg und hatte keine Chance, dieser unvermittelten Attacke spontan auszuweichen. Statt Verständnis erntete ich Schelte vom Verantwortungslosen, da er ja nichts dafür könne, dass er den Blindenstock nicht als solchen erkannt habe. Dabei hatte ich diesen deutlich sichtbar vor meinem Körper hin und hergependelt. Es ist traurig und vor allem gefährlich, dass mich einige Mitmenschen nicht als Blinde erkennen, nur weil ich nicht sabbere und geschmacklos gekleidet daherkomme. Aber ich glaube, meine Umwelt wäre mir auch nicht gerade dankbar, wenn ich als unansehnliche Peinlichkeit durch die Gegend trotteln würde. Das würde auch wieder keiner vertretbar finden.
Die Kennzeichnung mit einer Anstecknadel, auf welcher die drei schwarzen Punkte auf gelbem Grund zu sehen sind, gilt übrigens nicht als Verkehrschutzzeichen. Sie dient lediglich als Hinweis für einen unwissenden Gesprächspartner. Sitzt z. B. ein blinder Mensch in einem Club an der Bar, wird er keinen Stock tragen und diesen eventuell in der Tasche verstauen. Anhand des Ansteckers können andere Gäste oder die Bedienung unter günstigen Umständen die Kennzeichnung registrieren. Da es aber einige Freaks zum modischen Gag erklärt haben, Blindenbinden oder Sticker in ihr Outfit zu integrieren, ist der wahre Blinde wieder der Gelackmeierte. Es gibt eine Alternative zur althergebrachten Symbolik, nämlich die blaue EU-Plakette mit dem weißen Langstockmännchen. Diese hat sich jedoch nicht bewehrt, da die Gesellschaft an der Gewohnheit haftet und sich mit Neuerungen schwer tut. Wahrscheinlich würden die Betrachter die Plakette eher als Zeichen meiner Mitgliedschaft in einem Schlangenzüchterverein kombinieren als mit meiner Blindheit. Ach, lieber Leser, Menschen sind so kompliziert…
Aber zurück zum Blinden-Langstock. Ja, er heißt tatsächlich so, denn er sollte, seinem Besitzer stehend bis zum Brustbein reichen. Nur aufgrund der exakt angepassten Länge kann er rechtzeitig vor Hindernissen warnen. Es gibt aber auch so genannte Tast- oder Kurzstöcke, welche von einigen Betroffenen gerne in Situationen genutzt werden, in denen sie unsicher sind, z. B. in Gebäuden. Für den sicheren Gebrauch im Straßenverkehr sind diese Exemplare allerdings nicht anwendbar. Nur mit einem Langstock kann ein blinder Nutzer Hindernisse rechtzeitig registrieren und interpretieren.
Langstöcke gibt es in den unterschiedlichsten Ausführungen und Preislagen. Hier entscheiden die persönlichen Bedürfnisse der Betroffenen. Verschiedene Stockmodelle sind einklappbar und können bei Bedarf rasch in der Tasche verstaut werden. Andere lassen sich teleskopartig zusammenschieben. Stöcke, welche aus einem feststehenden Stück gefertigt sind und sich deshalb nicht verkürzen lassen, erweisen sich für die meisten Betroffenen als unpraktisch. Steigt man bspw. in ein Taxi, so ist es umständlich, eine unflexible "Bohnenstange" von 1,30 Meter günstig zu platzieren. Sitzt man in einem Lokal, möchte man seinen Stock auch nicht der Länge nach am Boden positionieren, denn er könnte auf diese Weise leicht zur Stolperfalle für andere werden. Nicht immer bietet sich eine Ecke oder eine Wand an, an der der abgestellte Stock sicher Halt findet. Außerdem sollte der Betroffene seinen Stock stets in Griffnähe haben. In meinem persönlichen Umfeld gibt es feste Plätze, an denen ich meinen Stock "parke". Lege ich ihn in der Öffentlichkeit ab, entscheide ich situativ, ob ich ihn nur einmal mittig zusammenklappe, weil ich mich nur kurz irgendwo niederlasse, oder ob ich ihn klitzeklein falte, weil ich ihn für längere Zeit nicht benötige.
Manche Nutzer legen großen Wert darauf, dass ihr Stock aus einem leichten, aber dennoch stoßfesten Material gefertigt ist. Auch meine zarte Frauenhand ist glücklich über ein eher leichtes Modell. Andere Betroffene entscheiden sich jedoch bewusst für einen gewichtigeren Stock, da ein massiveres Exemplar unter Umständen mehr Sicherheit suggerieren kann. Außerdem wird eine große kräftige Person mit einer offensiven Gangart generell andere Ansprüche an einen Blindenstock haben, als ein zaghaftes zierliches Persönchen. In jedem Fall sollte der Stock nicht leicht verbiegbar sein, denn sonst würde sein Benutzer bei jedem unsanften Anstoß an eine Bordsteinkante einen "Krummbiegel" davontragen. Wenn sich ein Stock in alle Richtungen verbiegen lässt, kann ein Spatziergang mit ihm zu einer extrem waghalsigen Angelegenheit werden. Allerdings würde ich mir in manchen Situationen schon auch mal einen Stock wünschen, der möglichst aus Watte gefertigt ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn ich unsanft an einem Bodenhindernis hängen bleibe und mir meine "Begleitstange" in den Bauch ramme.
Auch der Stockgriff kann aus unterschiedlichen Materialien gefertigt sein. Ein Gummigriff liegt rutschfest in der Hand und passt sich bei Kälte gut der Körpertemperatur an. Holzgriffe wirken etwas edler, sind aber im Winter eher unpraktisch zu handhaben. Trägt man Handschuhe, gleiten glatte Griffe einem schnell aus den Fingern. Außerdem kann Holz bei niedrigen Außentemperaturen generell kühl und spröde wirken. Übrigens gibt es einen speziellen "Stockmuff". Dieses kuschlige Textil wird über die Hand gezogen und erlaubt über ein Einschubloch das Hindurchstecken des Stockgriffes. So wird die frierende Hand des Benutzers gewärmt und der direkte Kontakt zum Stock muss nicht durch einen Handschuh unterbrochen werden. Aber natürlich gibt es auch hier wieder einen Haken. Die Hand ist im Muff weniger flexibel und es fällt schwer, z. B. beim Passieren von Treppen, den Stock anzusteilen.
Sehr entscheidend für die Benutzbarkeit eines Langstockes ist dessen Spitze. Auch Stockspitzen können den persönlichen Ansprüchen des Benutzers entsprechend ausgewählt werden. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch, welche Art von Wegen ein blinder Mensch alltäglich passiert. Wer häufig über Kopfsteinpflaster geht, benötigt eher eine große, leicht rollende Kugel, da er ohne sie schnell am Boden hängen bleibt. Auch tellerförmige Stockspitzen werden nicht selten gewählt, diese können jedoch aufgrund ihrer flächigen Beschaffenheit die präzise Orientierung an Stufen erschweren. Zum Ertasten feinerer Umweltbeschaffenheiten, z. B. feiner Rillen oder Bodenstrukturen, kann eine filigranere Spitze erforderlich sein. Mir passiert es häufig, dass ich mit meiner Kugel in einer Straßenbahnschiene hängen bleibe und mich entscheiden muss, ob ich mein Leben riskiere oder die widerborstige Murmel zurücklasse. Schäden am Stock sind in keinem Fall ungefährlich, vor allem, wenn man sich mitten im Straßenverkehr befindet.
Mir ist einmal ein Stock in sämtliche Einzelteile zerfallen und ich hatte das Gefühl, zum zweiten Mal zu erblinden. Es empfiehlt sich stets, einen Ersatz dabei zu haben. Einem Bekannten ist einmal versehentlich ein Stock in den Gully gerutscht. Nun denn, zum Glück konnte er sich ein Taxi rufen. Leider gibt es immer wieder sehr rücksichtslose Zeitgenossen, welche einem beim Ausparken über den Stock fahren oder einem im Einkaufsgetümmel jenen Stock aus der Hand schlagen. Die "blinden Sehenden" gehen oder fahren dann oft einfach weiter und für den Betroffenen ist es nicht gerade entspannend, zwischen fahrenden Autos und hektischen Schuhsohlen seine so wichtige Mobilitätshilfe wieder zu finden.
Natürlich gibt es für den Umgang mit dem Langstock spezielle Techniken. Grundlage ist die Pendeltechnik. Der Blinde bewegt den Stock wechselseitig vor sich her und sichert somit immer jeweils seinen nächsten Schritt. Dazu wird der Arm, welcher den Stock bedient, abgewinkelt und in Hüfthöhe gehalten. Die Hand mit dem Stockgriff befindet sich in Körpermitte etwa in Höhe des Oberbauchs. Der schräg gehaltene Stock pendelt nun aus dem Handgelenk heraus nach rechts und links, etwa von Schulterbreite zu Schulterbreite. Manchmal muss auch etwas breiter gependelt werden, z. B. in Situationen, in denen ein weiterer "Blick" erforderlich ist. Die Stockspitze sollte stets am Boden entlang gleiten. Ist der Untergrund sehr holprig, kann auch ein leichtes Auftippen genügen. In bekannter Umgebung bedienen sich auch einige Blinde der sogenannten Gleittechnik. In diesem Fall wird der Stock z. B. an einer Orientierungskante entlang geführt. Allerdings kann dies schmerzhaft enden, da im Wege stehende Hindernisse durch das fehlende Pendeln nicht erkannt werden können.
Ein ganz spezielles Fachgebiet ist die Treppentechnik. Treppen gehören zu den gefürchtetsten und gefährlichsten Hindernissen. Deshalb ist hier eine sichere Stufenortung erforderlich. Handläufe bieten zusätzlich Schutz. Oft kann ein Blinder anhand des Geländerverlaufs auch den Treppenverlauf erkennen.
Nicht jedes Hindernis kann zuverlässig mit einem Stock registriert werden. Bodenhindernisse sind in der Regel gut zu erkennen, da die Stockspitze, wie erwähnt, permanent im Kontakt zum Untergrund stehen sollte. Der Stock dient dabei nicht nur als verlängerter Arm, welcher den Blinden über die tastbaren Bodeneigenschaften informiert. Er erzeugt außerdem beim Gleiten über unterschiedliche Bodenbeschaffenheiten spezifische Geräusche. Ähnlich verhält es sich mit den Schuhsohlen. So klingt das Passieren einer Holzbrücke z. B. anders als das eines Asphaltweges. Hindernisse, welche keinen Bodenkontakt haben, sind schon schwieriger zu erkennen. Oft gerät der Stock dann unter das im Weg stehende Objekt, so z. B. bei Absperrungen. Auf diese Weise bin ich schon in so manches "Flatterband" geraten und konnte vor der zu sichernden Baugrube gerade noch zum Stehen kommen. Manche Baustellen werden auch überhaupt nicht gesichert, so dass ich einmal fast in ein geöffnetes Gullyloch fiel. Auch Seitenhindernisse sind schwer zu erkennen, da der Blinde sie mit dem Stock unterläuft und sie erst registriert, wenn er mit dem Körper davor läuft, z. B. bei geöffneten Autotüren oder Schubkarren. Höhenhindernisse befinden sich vollkommen außerhalb des durch den Stock absicherbaren Einflussbereiches. Herausragende Verkehrsschilder, ausladende Container oder Verstrebungen von Baugerüsten können vor allem im Gesichtsbereich zu sehr schmerzhaften Verletzungen führen. Die Anwendung der Körperschutzhaltung erweist sich im Straßenverkehr als schwierig, denn sie ist überwiegend für die Fortbewegung ohne Stock in geschlossenen Räumen geeignet. Dabei wird eine Hand mit gespreizten Fingern wie ein Schutzschild vor dem Gesicht positioniert, die zweite Hand sichert mit tastenden Pendelbewegungen die Körpermitte ab und die Füße kontrollieren die Bodenmerkmale. Die vor dem Gesicht platzierte Hand sollte stets mit der Innenfläche zum Gesicht gehalten werden, da im Falle einer Verletzung auf diese Weise die so empfindlichen Fingerspitzen geschützt werden. Eine Schramme an der Außenfläche der Hand würde für den Blinden keine so einschränkenden Folgen für den Tastsinn mit sich führen. Da man als Blinder aber in der Öffentlichkeit nicht mit einer Hand vor dem Gesicht herumlaufen kann, vielleicht noch mit drei Einkaufstüten davor, bleibt der Gesichtsbereich ungesichert.
Sicherer ist da schon die Fortbewegung mit einem Führhund. Dieser ist in der Lage, sowohl Boden, als auch Seiten- und Höhenhindernisse zu erkennen, anzukündigen und zu umgehen. Ich hoffe, du hast keine Angst vor Hunden, geschätzter Leser. Hörst du das freudige Bellen? Es klingt noch sehr leise, ein wenig eingesperrt, wie hinter einer Tür. Ich glaube, es dringt aus dem vor uns liegenden Kapitel. Also, lass uns die Pforte zu den schwanzwedelnden Vierbeinern öffnen…
Foto: Marcel Urzowski
Kennst du den besten Freund des Menschen, geschätzter Leser. Im Falle des Blindenführhundes ist diese Freundschaft von besonderem Wert. Die Einschätzung dessen, was ein Helfer auf vier Pfoten zu leisten vermag, ist jedoch häufig von falschen Vorstellungen beeinflusst. Da der Blinde an sich für viele Mitmenschen bereits ein Mysterium darstellt, von dessen Lebensführung man sich oft nur schwer ein Bild machen kann, wirft die Arbeitsweise eines Führhundes natürlich zusätzliche Fragen auf. Aber wie du weißt, lieber Leser, bringen wir gemeinsam Licht in das Dunkel und jede offene Frage ist willkommen.
In erster Linie ist ein Blinder natürlich ein Mensch und ein Führhund ein Hund. Man hat es also bei keinem von beiden mit Wunderwerken oder Zauberkünstlern zu tun. Ebenso wie man in der Bewertung eines blinden Menschen einen Mittelweg zwischen Ehrfurcht und Mitleid finden sollte, darf auch der Führhund nicht in seiner Rolle über- oder unterschätzt werden. Natürlich kann ein Hund, auch nach der fundiertesten Ausbildung, nicht denken und handeln wie ein Mensch. Auch die Annahme, dass diese Diensthunde geknechtete Wesen seien, die ihrer Natürlichkeit tierquälerisch beraubt werden, ist falsch.
Nur ein gesunder, wesensfester, lernfreudiger, gutmütiger, und selbstbewusster Hund eignet sich zur Ausbildung zum Führhund. Auch die Größe ist nicht unentscheidend. Eine deutsche Dogge wäre aufgrund ihrer raumgreifenden körperlichen Dimension eher nicht empfehlenswert, und ein Zwergpinscher im Führgeschirr würde auch kein besonders gelungenes Bild abgeben. Zu den häufig ausgewählten Rassen gehören Labrador- und Golden Retriever, aber auch Schäferhunde, Riesenschnauzer oder Königspudel. Mir sind sogar Boxer und Hovawarts bekannt. Auch wenn ein blinder Mensch sich von seinem Hund geschützt fühlen soll, darf der Führhund keinen ausgeprägten Schutztrieb haben. Schließlich muss er den Passanten in der Öffentlichkeit freundlich begegnen. Ein aggressiver Rottweiler z. B. würde vielleicht schnell überreagieren, wenn ihm aus Versehen ein Fahrgast in der Straßenbahn auf die Pfote tritt. Allerdings wird die Gutmütigkeit eines Führhundes nicht selten von rücksichtslosen Zeitgenossen überstrapaziert und der Respekt vor ihm und seinem Besitzer geht dabei vollkommen verloren. Die Aussage: "Der tut nichts, der ist ganz lieb, der darf gar nicht beißen", sollte vom Blinden lieber sehr zurückhaltend propagiert werden, vor allem in Situationen, in denen er leicht zum Opfer werden kann.
Ein Führhund darf weder ein Rüpel, noch ein Angsthase sein. Ein zu ängstliches Tier würde in Situationen, in denen es verschreckt ist, den Dienst verweigern. Deshalb ist es fatal, wenn ein gut ausgebildetes, wesensfestes Tier absichtlich von verantwortungslosen Mitmenschen verunsichert wird, etwa durch das Werfen von Knallfröschen. Eine einzige dieser rücksichtslosen Handlungen kann die Diensttauglichkeit des Hundes auf ewig beeinträchtigen. So war z. B. der Führhund einer Bekannten im Passantengedränge zwischen Bahnsteigkante und Zugeinstieg auf die Gleise gerutscht. Aufgrund dieses Ereignisses erlitt er einen solchen Schock, dass er seither das Einsteigen in öffentliche Verkehrsmittel vehement verweigert. Nun muss die Frau ihren zitternden, 40-Kilo-Rüden in den Zug heben, was nun wirklich keine blindentaugliche Mobilitätshilfe darstellt. Damit solcherlei Dinge nicht wieder geschehen, bitte ich alle Mitmenschen, niemals ein Führhundgespann durch egoistisches Schubsen und Drängeln in Gefahr zu bringen.
Außerdem bitte ich alle Hundebesitzer, ihren Vierbeiner anzuleinen, wenn ein Führhundgespann im Anmarsch ist. Ein Führhund im Geschirr ist darauf trainiert, sich ausschließlich auf seine Arbeit zu konzentrieren und Artgenossen zu ignorieren. Wird er in einer solchen Situation von einem anderen Hund belästigt oder sogar angegriffen, darf er nicht reagieren und ist daher ein leichtes Opfer. Das Tier einer anderen Bekannten wurde während des Führens von einem freilaufenden Hund gebissen und geht seither auf Fußwegen keinen Schritt weiter, wenn es in der Ferne einen Hund erahnt. Kommt ihm ein Artgenosse zu nahe, wird der Führhund nun, vollkommen entgegen seines eigentlichen Naturells, selbst aggressiv. Führhunde sind sehr intelligent und extrem sensibel. Nur deshalb eignen sie sich zur Ausbildung. Sie lernen durch die Einwirkung kleinster Impulse und haben feinste Antennen. Gerade aufgrund ihrer hohen Auffassungsgabe speichern sie eben auch jede negative Konsequenz als Lernerfahrung ab und übernehmen sie in die Führtätigkeit. Ein Führhund ist sehr wertvoll und seine Ausbildung eine kostspielige und aufwändige Angelegenheit. Es hat niemand das Recht, einem solchen Tier zu schaden.
Hund und Besitzer bilden ein Team und funktionieren nur als Einheit. Eine gute Ausbildung von Hund oder Mensch allein ist nicht ausreichend. Erst die Gespannprüfung entscheidet darüber, ob das Team zukünftig als zuverlässige Einheit im Straßenverkehr aktiv sein darf. Bereits bei der Beantragung eines Führhundes bei der Krankenkasse wird zunächst festgestellt, ob der Betroffene sich grundsätzlich für die Haltung eines solchen Tieres eignet. Nicht jeder Blinde ist körperlich oder mental in der Lage dazu. Nach der Wahl einer geeigneten Führhundschule werden genauere Absprachen zu den gewünschten Eigenschaften des Tieres getroffen. Die Größe und Statur des Hundes müssen ebenso zu den Vorstellungen und Möglichkeiten des Besitzers passen, wie das Geschlecht, das Temperament oder die Beschaffenheit des Fells. Manche blinde Menschen bevorzugen Hunderassen, die wenig Fell verlieren, wie etwa der Königspudel. Manchem sind derlei Kriterien auch egal, Hauptsache die Chemie zwischen Hund und Herrn stimmt. Nicht in jedem Fall ist ein Wunsch- und Wahlrecht gegeben.
Der Umgang mit dem Hund muss von vielen Betroffenen erst erlernt werden. Eine wichtige Voraussetzung ist die Absolvierung eines Langstocktrainings, bevor es zur Anschaffung eines Führhundes kommt. Es gibt dem Blinden notfalls auch in den Situationen Sicherheit, in denen er einmal ohne Hund unterwegs sein muss, etwa durch Krankheit des Tieres. Die gemeinsame Einarbeitung und das Trainieren mit dem neuen Gefährten erfolgt meist zunächst in der Hundeschule und anschließend im Umfeld des neuen Halters. Der Blinde muss lernen, seinen Hund richtig zu füttern, zu pflegen, dessen Signale zuverlässig zu interpretieren und die notwendigen Hörzeichen im passenden Moment anzuwenden.
Auch der Hund muss sich erst an die neue Situation gewöhnen, die Sprechweise, den Gang und die Eigenarten seines neuen Menschen richtig deuten lernen. Nicht jedem Hund fällt es leicht, sich auf einen anderen Halter einzulassen, hängt er doch mit dem Herzen noch an seinem Ausbilder, mit dem er über mehrere Monate eine intensive Zeit verbrachte.
Einige Führhundeschulen züchten ihre Tiere selbst. Andere kaufen geeignete Welpen oder Junghunde aus fremden Zuchten auf. Bereits die Welpen werden auf bestimmte Eigenschaften, welche zur Eignung als Führhund erforderlich sind, geprüft. Bis zum Zeitpunkt der Ausbildung leben die jungen Hunde häufig bei Patenfamilien und werden dort zu guten Haus- und Familienhunden erzogen.
Gerade die Erziehung eines so jungen Hundes ist prägend für seinen weiteren Werdegang und erfordert viel Zeit und Geduld. Außerdem ist es für eine Patenfamilie sicher nicht leicht, ihren lieb gewonnenen Schützling nach einem Jahr wieder abzugeben. Nun erhält der zukünftige Blindenführhund in der Führhundeschule seine eigentliche Ausbildung. Die vorherige Prägung in familiärer Umgebung ist in jedem Fall wünschenswert, damit sich der Hund auf seine soziale Rolle im Leben des Blinden einstellen kann.
Dauer und Form der Ausbildung differieren in den verschiedenen Ländern und Führhundeschulen. Es gibt unterschiedliche Modelle, nach denen gearbeitet werden kann. Das grundlegende Prinzip, nämlich dass der Hund Freude an seiner Arbeit haben soll, muss jedoch der Leitfaden jeder Ausbildung sein. Das Tier soll seinem Besitzer Vertrauen entgegenbringen und sich durch dessen Anerkennung bestätigt fühlen. Natürlich muss der Hund eine gute Unterordnung aufweisen und gehorchen. Allerdings lernt er auch, z. B. wenn er ein Hindernis umgehen muss, selbstständig zu agieren. Grundsätzlich vollzieht sich die Ausbildung sehr sensibel und behutsam. Das gewünschte Verhalten des Tieres wird liebevoll belohnt, falsches Verhalten so korrigiert, dass es für den Hund negative Konsequenzen hat. Diese darf er allerdings nicht als Bestrafung durch seinen Menschen erleben, sondern als natürliche Umweltreaktion auf sein Verhalten und die daraus resultierende Situation. Wenn der Hund z. B. lernen soll, seinen Menschen einen Weg entlang zu führen, ohne ihn seitlich ins Gestrüpp oder auf einen Rasenstreifen zu zerren, simuliert der Ausbilder ein Stolpern oder Stürzen, wobei er den Hund spürbar anrempelt. Bewegt sich das Tier jedoch korrekt auf dem richtigen Pfad, wird es gelobt. Es erscheint ihm wesentlich angenehmer, ein Lob zu erhalten, als die negative Konsequenz durch das Stürzen des Menschen zu erfahren. Der Ausbilder des Hundes spielt also bereits im Training dem Hund die Rolle eines Blinden vor, da der Nichtsehende im Ernstfall auch nicht tadelnd einwirken kann, sondern stürzen würde.
Wozu ist ein Führhund aber nun tatsächlich in der Lage, wenn er seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und die Gespannprüfung mit seinem neuen Besitzer bestanden hat? Er führt seinen Menschen auf verschiedenartigen Wegen sicher geradeaus, zeigt Straßeneinmündungen an und weicht leicht zu umgehenden Hindernissen selbstständig aus. Dabei umgeht er nicht nur Boden- sondern auch Seiten- und Höhenhindernisse. Vor schwer zu bewältigenden Hindernissen stoppt der Hund. Somit erhält der Blinde die Möglichkeit, sich selbst einen Überblick zu verschaffen. Ein Stock kann zum Erkunden der Details hilfreich sein. Der blinde Hundehalter muss nun selbst entscheiden, welches Kommando er seinem Begleiter geben muss, um die Hürde gemeinsam zu meistern. Das Tier kann auf Befehl einen anderen Weg aufsuchen, oder das Hindernis direkt bewältigen, etwa durch Übersteigen. Es ist auch möglich, dass der Führhund den Befehl verweigert, wenn eine zu große Gefahr vom Hindernis ausgeht und ein Passieren ihn und seinen Besitzer gefährden könnte. In diesem Fall ist Ungehorsam erwünscht.
Personen werden von einem Führhund nicht als Hindernis bewertet. Er ist darauf eingestellt, dass Passanten ihm ausweichen. Nur so kann er seinen Menschen sicher geradeaus führen, ohne ihn dabei durch ständiges Personenslalom zu verwirren. Eine Ausnahme können Kinderwagen oder Rollstühle darstellen. Diese werden nicht als reguläre Personen betrachtet und werden unter Umständen als Hindernis umgangen.
Der Führhund reagiert auf die Richtungsbefehle "rechts" und "links" und hilft dabei, gewünschte Zielpunkte anzulaufen, z. B. Briefkästen, Ampeln oder Zebrastreifen, Treppen, Haus- oder Geschäftseingänge. In Gebäuden hilft er dabei, Ausgänge, Fahrstühle oder bestimmte Informationsschalter aufzufinden. Er sucht den Ein- und Ausstieg von Straßenbahn, Bus oder Zug auf und führt zu freien Sitzplätzen in diesen Verkehrsmitteln.
Beim Überqueren von Straßen müssen Halter und Hund zusammenarbeiten. Das Tier führt zur Überquerungssituation hin und stoppt. Hunde schauen nicht auf die Ampel, da die Anzeigen nicht im Wahrnehmungsfeld des Hundes liegen, sich also außerhalb ihres natürlichen Sichtmusters befinden. Die angebliche Farbenblindheit des Tieres ist also nicht die Ursache. Mensch und Hund beobachten nun gemeinsam im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Verkehr und schließlich entscheidet der Mensch, wann die Straße überquert wird. Der Blinde muss also mit seinem Gehör die Verkehrssituation richtig interpretieren, um dann seinem Hund den Befehl zum Überqueren zu geben. Hat der Blinde ein leise herannahendes Fahrzeug überhört oder eine Situation falsch gedeutet, verweigert der Hund den Befehl und bleibt so lange stehen, bis die Straße frei ist. Dann überquert er sie rasch und geradlinig.
Häufig benutzte Wege gehen Hund und Halter oft in Fleisch und Blut über und das Tier bewältigt sie fast automatisiert und ohne Anweisungen. Oft werden Personen oder Situationen mit bestimmten Bedingungen und Befehlen verknüpft. Da das Leben jedes blinden Menschen individuell gestaltet ist, ergeben sich auch zwischen ihm und seinem Hund ganz eigene kommunikative Muster. So können zu den üblichen Befehlen noch weitere Anforderungen hinzukommen, die beiden Freude machen, z. B. das Aufsuchen des Würstchenstandes oder des Springbrunnens.
Ein Führhund ist keine Maschine. Auch wenn er Freude an seiner Arbeit hat, braucht er Entspannungsphasen, in denen er einfach nur Hund sein darf. Im Dienst ist er nur dann, wenn er sein Führgeschirr trägt, wird es abgestreift, benimmt er sich wie andere Hunde auch. Er schnüffelt an Büschen und Häuserecken, tollt mit Artgenossen, wälzt sich im Dreck, frisst tote Mäuse, bellt und holt Stöckchen. Er verknüpft seine Führtätigkeit mit dem Geschirr und umgeht, sobald er es abgegeben hat, keine Hindernisse mehr. Man muss also davon ausgehen, dass er im Freilauf natürlich unter Absperrungen hindurchschlüpft und herabhängende Zweige unterläuft. Es kann auch ihm passieren, dass er beim Tollen auf die Straße springt oder auch mal die Ohren auf Durchzug schaltet. Ein Führhund ist also in seinem tierischen Dasein nicht eigenverantwortlicher als andere Hunde und braucht einen Menschen, der ihn vor Gefahren schützt und ein "Ohr" auf ihn wirft.
Blindenführhunde werden kastriert, sterilisiert oder mit Hormonen behandelt. Ein triebiger Rüde würde ohne diesen Eingriff jeder läufigen Hündin nachjagen und jede läufige Hündin würde dem Blinden unter Umständen hygienische Probleme bereiten oder ihrem Menschen regelmäßig eine Schar zuckersüßer Vierbeinerchen gebären. Außerdem erleben nicht zur Zucht vorgesehene Tiere häufig aufgrund ihrer geschlechtsbedingten Bedürfnisse mentalen Stress, welcher sich durch einen medizinischen Eingriff deutlich reduzieren lässt.
Viele Führhundbesitzer bestätigen, dass ihr Tier ihnen ein hohes Maß an Selbstständigkeit zurückgibt und dass das Laufen mit einem Hund entspannter und zügiger von Statten geht, als die Fortbewegung mit Stock. Da der Hund nicht locker bei Ruß geht, sondern immer einen spürbaren Zug erzeugen muss, erscheint das gemeinsame Vorankommen straffer. Durch die Umsichtigkeit des Hundes muss nicht jeder Schritt mühsam durch das Pendeln des Blindenstockes abgesichert werden. Das Führgeschirr überträgt alle notwendigen Impulse des Hundes auf den Halter. Richtungsänderungen werden somit für den blinden Menschen sofort spürbar und er passt sich den Bewegungen des Hundes an. Dieses Vertrauen ist vor allem in Situationen entscheidend, in denen dem Blinden die Orientierung, etwa durch Baulärm, zusätzlich erschwert wird. Wenn z. B. ein Presslufthammer wichtige Umweltgeräusche übertönt, ist der Nichtsehende vollkommen auf den Hund gestellt.
Ein Führhund sollte sich nicht von Lärm, Hektik und Stress aus der Ruhe bringen lassen. Nervöse, sehr unsichere blinde Menschen können auf diesem Wege leichter zu ihrem inneren Gleichgewicht finden. Gerade wenn man nicht sehen kann, wirken sich undurchdachte Panikreaktionen auf den Orientierungsprozess hinderlich aus. Was nützen ein paar gewonnene Minuten, wenn man unkonzentriert und nachlässig das eigene Leben oder das seines treuen Hundes riskiert. Bei sehr hektischen Menschen besteht die Gefahr, dass sich Ihre negativen Eigenschaften auf die Verhaltensweisen des Hundes übertragen. In einem solchen Fall muss der Hundehalter an sich arbeiten.
Ein Führhund kann dabei helfen, Sozialkontakte zu schaffen und Kommunikationsbarrieren zu überwinden. Man kommt über den Hund ins Gespräch und wer nicht den Mut hat, den Betroffenen direkt anzusprechen, nimmt Kontakt zum Hund auf. Es ist bekannt, das Tiere in der Lage sind, Menschen die Befangenheit zu nehmen. Kontakt zum Hund ist allerdings nur dann erlaubt, wenn dieser "Feierabend" hat.
Ein Führhund erfüllt nur dann seinen Zweck, wenn er der permanente Begleiter seines Menschen sein darf. Was nützt all das Engagement des Führhundewesens, wenn dem Hund der Zutritt zu bestimmten Gebäuden oder Verkehrsmitteln verwehrt wird. Bitte wundere dich nicht, lieber Leser, wenn dir einmal ein Führhund im Theater, in der Kirche, in der Gaststätte, im Kaufhaus, in der Arztpraxis oder im Flugzeug begegnet. Leider sind nicht alle Mitmenschen so nachsichtig und gewähren eine Begleitung durch diese liebenswerte Mobilitätshilfe auf vier Pfoten. Wenn möglich, muss der Blinde jene Orte eben meiden und sich Alternativen erschließen.
Ein im Dienst befindlicher Führhund sollte niemals von Passanten gelockt oder abgelenkt werden. Er arbeitet hoch konzentriert, ebenso wie sein Mensch. Auch Streicheln oder Füttern sind absolut untersagt. Gerade der Labrador Retriever würde für eine leckere Bockwurst sein Vaterland verraten und im Zweifelsfall sogar seinen Halter in Gefahr bringen. So verhielt es sich bei einem blinden Bekannten. Er hatte nicht mitbekommen, dass man seinem Hund ständig heimlich etwas zusteckte. Das Tier reagierte fortan mit hungriger Triebhaftigkeit, wenn jemand in seiner Nähe eine Packung Kekse öffnete oder sich ein belegtes Brot auswickelte. Eines Tages geschah es, dass auf der anderen Straßenseite einer der heimlichen Fütterer in den Fokus des Hundes geriet. Dieser verknüpfte mit dem Passanten schmackhafte Leckerlis und zerrte den Blinden vollkommen unvermittelt über die befahrene Straße.
Außerdem darf ein Hund im Führgeschirr nicht angesprochen oder angestarrt werden. Das Führhundgespann sollte stets zügig und in einem angemessenen Abstand umgangen werden. Dies gilt ganz besonders für lärmende Kinder und andere Hundebesitzer in Begleitung eines unentspannten Vierbeiners.
Möchte man Kontakt zum Blinden aufnehmen, kann dieser ruhig angesprochen werden. Es wird auch nicht von Erfolg gekrönt sein, dem Hund eine komplizierte Baustellensituation zu erläutern oder ihm die Fahrplanänderung vorzulesen. Natürlich erkennt ein Hund auch keine Buslinien und er durchschaut keine untrainierten Zusammenhänge. Auch er kann mal einen schlechten Tag haben und Ruhepausen benötigen.
Ein Führhund ist auf die Einhaltung bekannter Abläufe angewiesen. So muss er z. B. zu ganz bestimmten Zeiten fressen, da er mit vollem Magen nicht führen sollte. Er muss in Ruhe seine Geschäfte erledigen können und darf bei großer Hitze, Kälte oder Nässe nicht überstrapaziert werden. Auch er ist gestresst, wenn er mehrere Stunden in einer reizüberfluteten Umgebung seiner Arbeit nachgeht und möchte sich nach Dienstschluss zurückziehen dürfen.
Ein blinder Mensch ist zwar durch die Haltung eines Führhundes selbstständiger in seiner Mobilität, aber man darf deshalb nicht dem Irrtum unterliegen, dass das Gespann nicht auch hin und wieder auf Hilfe angewiesen ist. Hinzu kommt, dass auch ein Tier erkranken kann und kein liebender Hundehalter bringt es übers Herz, seinen treuen Helfer deswegen abzugeben und gegen einen neuen einzutauschen. Ähnlich verhält es sich mit alten Tieren. Unwissende Beobachter können in dieser Hinsicht sehr ungerecht sein. Ein Führhund ist z. B. nicht automatisch unerzogen, weil er vielleicht aufgrund seiner Artrose nicht mehr allein in ein Taxi springen kann.
Rolltreppen sind übrigens für einen Führhund tabu. Die Gefahr, dass er sich die Pfoten verletzen könnte, ist zu groß. Glassplitter auf Gehwegen sollten unbedingt entfernt werden. Wenn du beobachtest, lieber Leser, dass sich ein Blinder mit seinem Hund auf am Boden liegendes Glas oder scharfe Kronkorkenverschlüsse zu bewegt, informiere den Hundehalter bitte. Der Blinde sieht die Misere nicht und der Hund kann die Verletzungsgefahr nicht einschätzen.
Autos sollten möglichst nicht zu eng am Straßenrand geparkt werden. Häufig gelangt schon der blinde allein, ohne Führhund, nicht durch solcherlei Engpässe. Er muss dann auf die Straße ausweichen und bringt sich und andere in Gefahr. Gleiches gilt, wenn Hecken nicht ordnungsgemäß zurück geschnitten werden. Ein Fußweg muss sowohl vom Blinden allein, als auch vom Führhundgespann gefahrlos passiert werden können. Die entsprechende Durchgangsbreite und -höhe ist also stets zu gewährleisten. Auch ein Rollstuhlfahrer würde sich über diese Rücksichtnahme sehr freuen und natürlich auch die Muttis mit den Kinderwagen.
Leider ist nicht jeder Mitbürger ein Hundefreund, aber dennoch würde ich mir wünschen, dass der unermessliche Wert dieser Tiere von Jedermann geschätzt und respektiert wird. Ich weiß ja nicht, was du jetzt tust, lieber Leser, aber ich knuddel und knutsche noch mal voller Dankbarkeit alle Führhunde, die uns in diesem Kapitel begegnet sind und komm dann rüber zu dir, in den nächsten Themenblock…
Es ist uns nicht neu, geschätzter Leser, dass nicht alle blinden Menschen gleich "ticken" und dass sie, ebenso wie Sehende, unterschiedliche Vorlieben haben. Deshalb ist nicht jedes Hilfsmittel auf jeden Blinden übertragbar. Einige blinde Menschen orientieren sich z. B. mit Hilfe eines tastbaren Kompasses. Da aufgrund des fehlenden Sehens keine Fernziele anvisiert werden können, kann schnell das Gefühl für Raum und Richtung verloren gehen. Du, lieber Leser, erkennst am Ende der Straße die Kirche, hinter dir den hohen Baum oder auf der anderen Straßenseite den Torbogen. Aufgrund dieser Anhaltspunkte verlierst du nicht den Bezug zu deiner Umwelt. Ist ein Umschauen aber nicht möglich, kann die Orientierung an den Himmelsrichtungen helfen. Ich persönlich arbeite jedoch nicht mit einem Kompass, da mir der Umgang damit einfach nicht liegt. Ich kenne jedoch Betroffene, die darauf schwören und dieses Hilfsmittel konsequent mit sich führen.
Auch die Benutzung von Tastplänen ist nicht jedermanns Sache. Die Erstellung eines tastbaren Stadtplans ist anspruchsvoll. Da die Fingerspitzen nicht so feine Details aufnehmen können, wie das Auge, müssen die Informationen stark reduziert werden. Zu wenige Orientierungspunkte darf die Reliefkarte aber auch nicht enthalten, sonst erfüllt sie ihren Zweck nicht. Mir persönlich fällt es schwer, die Taststrukturen auf einer Relieffolie auf die reelle Situation zu übertragen. Das Auge hingegen kann sich leichter ein fotografisches Abbild verschaffen und die gesehenen Informationen aus einem Stadtplan auf die optische Gesamtsituation projizieren. Der Tastsinn kann immer nur einen kleinen Ausschnitt des großen Puzzles wahrnehmen und muss ihn mühsam in einen Kontext einreihen. Bei der Herstellung von tastbaren Orientierungsplänen kann deshalb auch immer nur ein ausgewählter Abschnitt dargestellt werden. Da Braillebeschriftungen sehr viel mehr Platz beanspruchen als schwarzschriftliche Hinweise, folgt die Beschriftung meist auf einem Extrablatt.
Mehrdimensionale Tastmodelle sind in meiner persönlichen Vorstellungskraft schon eher auf die Realität übertragbar. Wenn ich die Möglichkeit habe, den Aufbau eines großen Gebäudes oder Geländes mit Hilfe tastbarer Miniaturen nachzufühlen, kann ich mir räumliche Ausdehnungen und Verhältnismäßigkeiten besser vorstellen. So "begreife" ich im wahrsten Sinne des Wortes z. B. welcher Bezug zwischen mir und einzelnen Etagen oder Eingängen herzustellen ist, welches Gebäude sich gegenüber von einem anderen befindet oder in welchen Winkel- oder Kurvenverläufen sich ein Weg erstreckt. Manchmal ist die Kombination von Modellen und Karten sinnvoll. In beiden Fällen ist jedoch zu bedenken, dass es viel Mühe und Zeit kostet, sich mit Hilfe des Tastsinns ein inneres Bild zu verschaffen.
Auf Band gesprochene Wegbeschreibungen müssen auf einen ganz bestimmten Pfad zugeschnitten sein. Grundsätzlich ist es nicht ratsam, sich als Blinder während des Laufens auf ein akustisches Hilfsmittel zu konzentrieren, da es andere entscheidende Umweltgeräusche übertönen könnte. Was nützt eine plappernde Stimme auf Band, wenn ich das seitlich herannahende Auto nicht höre? Aus diesem Grunde ist auch Telefonieren während des Laufens für einen Blinden tabu. Schnell wird man unaufmerksam und verschafft sich eine Platzwunde am nächst besten Verkehrsschild. Selbst wenn der Gesprächspartner am anderen Ende es gut meint und sagt: "Geh einfach so, wie ich es dir sage…" kann er nicht einschätzen, welche Gefahrenmomente für den Blinden zusätzlich einzukalkulieren sind. Es ist also ratsamer, sich die Beschreibung in Ruhe anzuhören, und sich erst dann in Bewegung zu setzen.
Ich werde immer wieder gefragt, warum es keine Navigationssysteme für Blinde gäbe. Es sei doch heute so viel möglich und dürfe doch nicht das Problem sein. Das Engagement auf diesem Gebiet ist in der Tat sehr hoch. Allerdings wird die Hilfestellung, die ein Navigationssystem gewährleisten kann, vollkommen überschätzt. Vielleicht wird dir klar was ich meine, wagemutiger Leser, wenn du dich einmal in folgendes Gedankenexperiment begibst: Stell dir vor, du befindest dich in deinem Fahrzeug und genießt den Vorzug, ein Navigationssystem zu besitzen. Nun verbinde dir die Augen und fahr los. Man erwartet nun von dir, dass du gut zurechtkommst, da du ja alle nötigen Informationen angesagt bekommst. Ich versichere dir, du wirst kläglich scheitern. Was nützt die Aussage, dass du 300 Meter geradeaus fahren sollst, wenn du gar nicht siehst, wo geradeaus ist. Die Richtungsangaben funktionieren nur dann, wenn du den Straßenverlauf siehst, nur dann kannst du ihm auch folgen. Bei dem Versuch, nach 150 Metern in eine Linkskurve zu lenken, würdest du vermutlich ohne Sichtkontrolle in die Leitplanken rasen, mit anderen Fahrzeugen kollidieren, einige Bäume rammen, dich dreimal um die eigene Achse drehen und nicht mehr wissen, wo oben und unten ist? Ähnlich ginge es mir. Auch wenn mir ein Richtungsweiser ins Ohr säuseln würde, dass ich geradeaus und dann rechts entlang gehen soll, muss ich mir mühsam das Bewusstsein dafür erarbeiten, in welchem Winkel ich stehen muss und in welchem Verhältnis zur Umwelt ich mich bewegen muss um überhaupt auch nur ansatzweise geradeaus zu gehen. Auch im Wege stehende Hindernisse sind auf diese Weise nicht zu erkennen, etwa eine Baustelle oder ein Fahrzeug. Dafür wäre nun doch wieder der althergebrachte Blindenstock nötig, denn mit dessen Hilfe kann ich mich tastend von meinem Standpunkt überzeugen. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Navigationssystem oder durch Ultraschall verursachte Ortungssignale die natürlichen Umweltgeräusche überlagern würden. Der Blinde ist im Straßenverkehr ohnehin einer erdrückenden Lärmkulisse ausgesetzt, welche er konzentriert deuten und filtern muss. Kommen nun noch zusätzlich Reize durch ein akustisches Hilfsmittel hinzu, wird die gut gemeinte Erleichterung eher zur Erschwernis.
Erlaube mir zur Verdeutlichung dieser Problematik ein weiteres Beispiel, geduldiger Leser. Es gibt Blindenstöcke, welche die Existenz eines Hindernisses durch das Vibrieren tastbarer Stiftchen ankündigen. Dieser Mechanismus scheint jedoch nur dann sinnvoll, wenn ich mich auf einem freien Feld bewege und irgendwo ein einsamer Baum steht. Durch die Vibrationsreaktion weiß ich: "Aha, hier ist etwas im Weg". Laufe ich aber mit dem Stock durch die Stadt, bin ich permanent von Hindernissen umgeben. Jede mir entgegenkommende Person würde eine Vibration auslösen und im Falle eines Stadtbummels würde das bedeuten, dass die Stifte unentwegt reagieren. Die Information des Ultraschalls: "Achtung, überall um mich herum lassen sich Hindernisse in Körpermitte und Kopfhöhe verzeichnen", bringt mich also keinen Schritt weiter. Außerdem ist auch die Vibration ein zusätzlicher Reiz, welcher eher erschwerend, als erleichternd hinzukommt. Natürlich ist es großartig, dass engagierte Erfinder Ultraschall- oder Lasergestützte Stöcke auf den Markt brachten, aber der Praxistest eröffnet meist Tücken, welche die Planer nicht einkalkuliert haben. So muss z. B. der Stock stets korrekt ausgerichtet sein, da Ultraschall und Laser nur in einem definierten Rahmen reagieren. Wird der Stock in der Hektik des Verkehrsgeschehens leicht schräg gehalten, weicht die Erkennung ab. Ganzheitlich vibrierende Laserstöcke reagieren bei exakter Ausrichtung auf Erscheinungen, welche im Bereich der Körpermitte oder des Kopfes zu Konfrontationen führen könnten, geben aber keine Auskunft über deren genaue Beschaffenheit. So ist z. B. nicht zu erkennen, ob das angezeigte Hindernis ein Mensch ist, ob dieser auf der Stelle steht, sich vom Blinden weg oder auf den Blinden zu bewegt.
Die Idee, sogenannte Transponder in den Boden einzulassen, halte ich allerdings für durchaus sinnvoll. Diese Transponder sollen mit akustischen Informationen gespeist werden und immer dann reagieren, wenn sie ein Blindenstock tangiert. Es ist geplant, jene Informationsträger punktuell und gezielt zu positionieren, so dass sie für den Blinden hilfreiche Aufmerksamkeitsfelder darstellen. Bleibt abzuwarten, ob sich dieses Modell im Alltagstest bewehrt.
Taktile Adaptionen am Boden stellen bereits seit einigen Jahren wertvolle Orientierungs- und Mobilitätshilfen dar. Vielleicht hast du es ja schon einmal bewusst wahrgenommen, geschätzter Leser. Es gibt Rillenplatten, welche an Haltestellen oder auf Bahnhöfen als Leitsysteme für blinde Menschen dienen. Es ist wichtig, dass diese strukturierten Bodenelemente stets freigehalten und nicht von Passanten oder gar Verkaufsständen zugestellt werden. Der Blinde erspürt mit dem Stock die Rillen und orientiert sich am Verlauf der Riffelplatten. An verschiedenen Stellen befinden sich Noppenfelder, welche auf einen bestimmten Anhaltspunkt hinweisen, z. B. eine Richtungsänderung, eine Straßenüberquerung, einen Bahnsteig. In manchen Städten werden an Bus- oder Straßenbahnhaltestellen Strukturplatten verlegt, um den vorderen Einstieg zu kennzeichnen. Entscheidend ist, dass diese Leitsysteme möglichst standardisiert und nicht allerorts unterschiedlich gestaltet sein sollten. Sie müssen vom Blinden eindeutig zugeordnet werden können, sonst ist all die Mühe vergebens.
Neben den Riffelplatten sollte sich stets eine glatte Bodenstruktur befinden, sonst werden die Riffel nicht wahrgenommen. Wenn die Strukturplatten von anderen Struktursteinen gesäumt werden, ist mit dem Stock nicht erkennbar, wo sich das eigentliche Leitsystem befindet. Leider gibt es immer wieder Städte, die den Standard nicht konsequent einhalten. Damit das Leitsystem auch sehbehinderten Menschen hilfreiche Dienste leisten kann, sollte es einen hellen Kontrast zur Umgebung darstellen. Auch dies wird bedauerlicher Weise nicht in jedem Fall so umgesetzt und oft gehen die so wichtigen Hinweise im Städtegrau unter. Ich habe auch erlebt, dass Verkehrspläne oder die Glasscheiben der Wartehäuschen auf das Leitsystem ragen, so dass man es lieber umgeht, als es zu benutzen. Manchmal scheinen auch beim Straßenbau die Strukturplatten nicht gereicht zu haben und der Leitfaden endet irgendwo im Sankt Nimmerleinsland. Im Umkehrschluss gibt es Aufmerksamkeitsfelder, zu denen kein Leitsystem hinführt. Sie liegen dann einfach ohne einen Anknüpfungspunkt für den Blinden auf der freien Wildbahn. Schade um das schöne Geld. Eine Tücke sei noch genannt. Bei Nässe werden die strukturierten Bodenmerkmale oft sehr rutschig und bei Laub- oder Schneefall verschwinden sie vollständig. Wird im Winter mit Sand gestreut, setzen sich die Reliefstrukturen zu und sind ebenfalls nicht mehr spürbar.
Die meisten, für nicht sehende Menschen entscheidenden, Orientierungspunkte im öffentlichen Raum sind für Sehende nicht erkennbar. Erforderliche Wege werden vom Blinden anhand definierter Umwelteigenschaften auswendig gelernt. Merkmale wie Toreinfahrten, Bordsteinkanten, Bäume, Zäune, Mülltonnen, Unebenheiten am Boden und zugige Häuserecken oder schallende Unterführungen können zu wertvollen unsichtbaren Wegweisern werden. Manchem hilft sogar noch ein winziger Sehrest, z. B. für die Unterscheidung in helle oder dunkle, hohe oder flache Gebäude. Allerdings können die Orientierungsbedingungen für Sehrestler durch Blendung oder Dämmerung erschwert werden. Gerade sehr schwache visuelle Wahrnehmungen hängen von optimalen Sichtverhältnissen ab.
Auch bei der Überquerung einer Straße bedienen sich blinde Menschen vollkommen anderer Methoden als sehende es tun. Soll eine von einer Kreuzung abgehende Seitenstraße überquert werden, ist es oft hilfreich, ein Stück in jene Straße einzubiegen. Dort ist die akustische Reizüberflutung meist nicht so hoch, wie direkt am Kern des Geschehens. Vor der Überquerung nimmt der Blinde zunächst mit dem Stock Kontakt zur Bordsteinkante auf und prüft ihre Tiefe. Auch der direkte Raum um die Kante herum wird analysiert, etwa um festzustellen, ob sich eine Tiefe Pfütze oder ein parkendes Auto davor befindet. Parkende Fahrzeuge stellen in diesem Zusammenhang nicht selten eine Gefahr dar, da dem Blinden oft nicht bewusst ist, dass er aus einer Parklücke hervortritt und für herannahende Autofahrer in jener Lücke schlecht zu erkennen ist.
Das Verkehrsgeschehen verfolgt der Blinde mit den Ohren. Dabei unterscheiden sich die Geräuschkulissen von Asphaltstrassen und Kopfsteinpflastern. Das Herannahen eines Fahrzeuges kündigt sich bei Letzterem eher an und klingt länger nach. Sehr laute Fahrzeuge können leisere übertönen. So kann z. B. eine Kehrmaschine das Entfernungs- und Richtungshören des Nichtsehenden stark irritieren. Auch laute Musik aus Autofenstern kann störend wirken. Nicht selten lassen Fahrzeugführer den Motor ihres Wagens laufen, während sie kurz aussteigen oder sich mit einem Passanten unterhalten. Da ein blinder Mensch das Motorengeräusch mit einem fahrenden Auto verbindet, bleibt er wartend am Straßenrand stehen. Mir selbst geht es oft so, dass ich in solchen Fällen mehrere Minuten verharre, da ich nicht einschätzen kann, wohin sich dieses ratternde Fahrzeug denn nun bewegt. Bei Baufahrzeugen oder LKWs wirkt sich diese Unsicherheit noch stärker aus. Wer blinde Menschen nicht verunsichern möchte, sollte innerhalb einer Parkphase sein Fahrzeug stumm stellen. Hupgeräusche muss ein blinder Verkehrsteilnehmer übrigens großzügig ignorieren. Er kann nicht einschätzen, ob der Hinweis ihm galt und im Zweifelsfalle falsch handeln. Hupt z. B. jemand einer Bekannten Person nach, interpretiert der Blinde vielleicht hinein, dass dies ein O.K. zum Überqueren der Straße gewesen sein könnte. Und das würde tragisch enden. Hupen ist also überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich.
Das Überqueren einer Kreuzung ohne akustische Ampelregelung stellt eine große Herausforderung dar. Hier ist der Verkehrsverlauf nur dann gut mit dem Gehör nachvollziehbar, wenn sich genug Fahrzeuge auf der Straße bewegen. Zu wenig Verkehrslärm kann also paradoxerweise ebenfalls die Orientierung erschweren. Der Blinde muss nun zunächst heraushören, welche Art von Kreuzung er bewältigen muss. Es gibt X-Y- und T-Verläufe. So lernt er z. B. mit dem anfahrenden Parallelverkehr mitzulaufen, da er den Querverkehr schneidet. Eine wirkliche Gefahr können allerdings unaufmerksame Linksabbieger darstellen, da sie sich unabhängig von diesen Phasenverläufen bewegen. Sie sollten deshalb immer ein offenes Auge haben und nicht "blindlinks" um die Ecke rasen.
Akustische Ampeln können die Orientierung erheblich erleichtern. Sie kündigen sich in einigen Fällen durch ein Klopfgeräusch an, welches mit steigendem Verkehrslärm lauter wird. An diesem Geräusch erkennt der Blinde zunächst, wo sich die Ampel befindet. Leider ist nicht jedes Exemplar mit einem solchen "Lockruf" ausgestattet. Manche Ampeln können nun mittels eines Knopfdrucks aktiviert werden, andere sind automatisch geschaltet. Stellt sich die Ampel auf "Grün", ertönt in einigen Fällen ein Piepsignal, in anderen erfolgt eine Vibration, welche durch das Auflegen der Hand spürbar wird. Ist eine Straßenüberquerung nicht durchgängig absolvierbar, da sie durch eine zweite Ampelregelung unterbrochen ist, wird dies meist durch ein Tastsymbol am Ampelkasten angekündigt. Ein durchgängiger Pfeil zeigt, dass die Straße mit einem mal überquert werden kann, ein Pfeil mit einem Querbalken sagt aus, dass die Überquerung durch einen Zwischenstopp unterbrochen ist. Soweit die geniale Theorie. Leider sieht die Praxis nicht in jedem Fall so anwenderfreundlich aus. Da sich vielerorts die Anwohner durch das Piepen der Ampeln gestört fühlen, wurden die Töne entweder sehr leise ausgerichtet, oder sie verstummen nach zwei kurzen Signalen. In stark befahrenen Bereichen ist dann für einen Blinden kaum zu orten, ob "seine" Ampel, oder die weiter hinten piepte, oder ob vielleicht schon wieder auf "Rot" umgeschaltet wurde. Vibrationen sind, vor allem im Winter durch die dicken Handschuhe, nicht immer zuverlässig zu spüren. Manchmal klackt die Ampel für den Blinden auch zu früh, wenn sie für den Sehenden noch gar nicht umgeschaltet hat. Und dann gibt es leider noch immer die rücksichtslosen Raser, deren Interesse sich ausschließlich auf den eigenen Zeitdruck, nicht aber auf die körperliche Unversehrtheit ihrer Mitmenschen richtet. So rumpelt eben mal noch fix ein riesiger Lkw bei "Rot" über die Straße und nur die doppelte Aufmerksamkeit des Blinden, in diesem Fall war ich es, rettet Leben. Auch hier zeigt sich, dass all die ausgeklügelten Orientierungs- und Mobilitätshilfen nur dann einen Sinn machen, wenn sich alle Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten.
Ich selbst wohne leider an einer Straße, welche mit Hilfe blindentechnischer Querungsmethoden nicht zu bewältigen ist. Es erweist sich als nahezu unmöglich, vier stark frequentierte Autospuren mit partieller Autobahnanbindung und zusätzlich noch zwei Straßenbahnspuren zu "überschauen". Die zum "lebendigen" Erreichen des Haltestellenbereiches erforderliche Ampel befindet sich außerhalb jenes Haltestellenbereiches. Will ich zur Haltestelle gelangen, muss ich mich in mitten des Fahrgeschehens auf einem für Fußgänger unzulässigen Pfad bewegen. Dies führt im wahrsten Sinne des Wortes zu einer gefährlichen Gradwanderung, da ich mich mit dem Stock so nah am Verkehrsstrom befinde, dass er mich sogartig auf die Straße ziehen könnte. Leider sieht die Stadt an dieser Stelle aus Kostengründen keine baulichen Veränderungen vor. Außerdem lautete eine Begründung, dass in diesem Bereich zu wenige Unfälle geschehen, als dass Handlungsbedarf bestünde. Nun denn, kaum ein Passant würde vor Freude in Tränen ausbrechen, wenn er dauerhaft über Rom nach Leipzig wandern müsste, um eine Haltestelle zu erreichen.
Städtebauliche Adaptionen sind stark an die entsprechenden Zuständigkeiten und deren Kapazitäten gebunden. Aus Sicherheitsgründen ist es jedoch nicht zulässig, die bürgerliche Eigeninitiative zu ergreifen und selbst blindentechnische Anpassungen vorzunehmen. Aber ein Positivbeispiel aus meinem eigenen Umfeld ist dennoch zu verzeichnen. Um zur S-Bahn zu gelangen, war ich darauf angewiesen einen Weg zu passieren, welcher ohne Absperrung abrupt mehrere Meter in die Tiefe führte. Vor allem bei Schnee- oder Laubfall erkannte ich entscheidende Bodenmerkmale nicht und begriff oft zu spät, dass ich direkt an der "Klippe" stand. Ein Schritt zu weit nach vorn hätte mich auf die Bahngleise in die Tiefe stürzen lassen. Durch das Engagement des Behindertenbeauftragten der Stadt Halle gelang es, die Anbringung eines Geländers durchzusetzen. Allerdings vollzog sich dies nicht vollständig, so dass noch immer einige Stellen ungesichert sind. Mir geht es in meinem Bemühen um mehr Sicherheit nicht nur um mich, sondern um das Wohl aller. Leider muss bekanntlich immer erst etwas passieren, bis die Behörden schlau werden. Immer wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, bewegt sich etwas. Aber wer will schon freiwillig das erste Kind für diese Einsicht opfern?
Du hast also gelernt, geschätzter Leser, dass blinde Menschen durch die Absolvierung eines Orientierungs- und Mobilitätstrainings dazu in der Lage sind, sich gezielt, sicher und selbstständig fortzubewegen. Sie bedienen sich dabei so genannter Orientierungs- und Mobilitätshilfen. Dazu gehören z. B. der Langstock, der Führhund, ausgleichende Sinnesreserven und unter Umständen sogar ein kleiner Sehrest. Blinde Menschen sind hoch konzentriert und sehr angespannt, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen. Jeder undurchdachte Schritt könnte zu Unfällen oder schmerzhaften Verletzungen führen. Deshalb nimm es einem "Blindgänger" nicht übel, wenn sein Gesichtsausdruck etwas ernst oder in sich gekehrt wirkt, lieber Leser. Das bedeutet nicht, dass dieser Blinde bösartig ist und in jedem Fall in Ruhe gelassen werden will. Jeder konzentrierte Mensch wirkt unter Umständen etwas angespannt ohne dabei seinen Mitmenschen Unfreundlichkeit signalisieren zu wollen.
Wie gestaltet sich nun aber der Umgang mit einem Nichtsehenden in der Öffentlichkeit konkret? In keinem Fall bedeutet "Umgang" den Blinden sozial zu "umgehen". Ich werde sehr häufig von "Guckis" gefragt, wie sie sich einem "Blindgänger" gegenüber verhalten sollen. An jene Fragestellungen reihen sich dann meist Erkenntnisse wie: "Die Blinden wollen ja auch meist keine Hilfe" oder "Ich habe mal einen Blinden angesprochen, aber der hat so komisch reagiert". Ich sage dann immer den Leuten, dass ich auch schon mal einen Sehenden angesprochen hätte, der komisch reagiert habe. Das bedeute aber nicht, dass ich nun automatisch nie wieder einen Sehenden ansprechen würde. Natürlich sind Blinde keine besseren Menschen und es mag den ein oder anderen unfreundlichen Zeitgenossen unter ihnen geben, wie bei Sehenden eben auch. Beim Nächsten kann es schon wieder ganz anders sein und er ist möglicherweise hoch erfreut über die ihm angebotene Hilfestellung. Ich persönlich komme in vielen Situationen gut allein zurecht. Wird mir Hilfe angeboten, bedanke ich mich höflich und gebe zu verstehen, dass ich die Anforderung allein bewältigen kann. In anderen Situationen lauere ich ungeduldig auf einen Menschen, der mir seine Hilfe anbietet. Mir ist es lieber, ich werde dreimal zu viel als einmal zu wenig angesprochen. Aufgrund meiner selbstbewussten Wirkung gehen die Leute meist davon aus, dass ich keinen Kontakt wünsche. In manch brenzligem Augenblick leide ich jedoch sehr unter dieser Annahme, da auch ich in bestimmten Momenten sehr unsicher bin. Es gibt also nur das eine Patentrezept: Eine Frage ist keine Klage. Ich selbst bin sehr glücklich, wenn meine Mitmenschen Interesse an mir haben und mir nicht mit rücksichtsloser Ignoranz begegnen. Natürlich darf eine Hilfestellung dabei nicht zur Belästigung heranwachsen und eine gesunde zwischenmenschliche Distanzwahrung sollte von beiden Seiten nicht außer Acht gelassen werden. Es gilt also, die Mitte zwischen Ignoranz und Belästigung zu finden.
Möchtest du einem blinden Menschen über die Straße helfen, lieber Leser, frag ihn einfach, ob er diese Unterstützung wünscht. Wird er nicht angesprochen, sondern einfach am Arm gepackt und herübergezogen, kann ihm das einen großen Schrecken einjagen. Außerdem wollte er vielleicht gar nicht hinüber, sondern hat nur auf einen Bekannten gewartet. Miteinander reden ist also das oberste Gebot. Wünscht er die Begleitung, biete ihm deinen Oberarm zum Festhalten an. Manchen blinden Menschen genügt es auch, einen akustischen Hinweis zu bekommen, z. B. "Die Straße ist frei, sie können mit mir gemeinsam herüber gehen." Dann ist kein Körperkontakt nötig. Auf keinen Fall darf der Nichtsehende an seinem Stock über die Straße gezerrt werden. Die Stockhand muss ihm stets frei zur Verfügung stehen. Voranschieben sollte man den Betroffenen auch nicht, denn voran geht immer der Führende und nicht der Blinde. Auch an die Hand muss er nicht genommen werden. Allerdings ist es für den kurzen Moment einer Straßenüberquerung nicht nötig, präzise jedes Detail der Führtechnik zu bedenken. Meist muss es schnell gehen und der Betroffene wird auch nicht böse sein, wenn er nicht ganz korrekt aber dafür gut gemeint auf die andere Straßenseite begleitet wird. Kurze und aussagekräftige Anweisungen sind hilfreich, z. B. "Jetzt Stufe hoch". Diese knappen Bemerkungen werden vom Blinden keinesfalls übel genommen, denn man will ja beiderseits schnell und sicher zum Ziel gelangen. Deshalb sei dem Blinden auch nicht böse, lieber Leser, wenn er in seinem Anliegen zackig und kurz angebunden wirkt. Für ein Kaffeekränzchen ist eben an einer stark befahrenen Straße kaum Zeit.
Autofahrer haben ja bereits in den vorangegangenen Unterpunkten dieses Kapitels einige hilfreiche Hinweise zum Umgang mit blinden Passanten erhalten. Solltest du, aufmerksamer Leser, einen Blinden am Straßenrand sehen, verhalt dich einfach den Verkehrsregeln entsprechend. Auf dein Bremsen oder Zurufen darf er nicht reagieren, da er die Situation nicht überschaut, Auch wenn du ihm dein o.k. zum Überqueren gibst, kann hinter dir auf der anderen Spur ein Auto heranschnellen, welches eben nicht stehen bleibt. Erst wenn der Gesamtverkehr aufgrund einer definierten Regelung, z. B. einer Ampelschaltung, stoppt, oder wenn keine Fahrgeräusche zu vernehmen sind, überquert der Blinde. Manchmal ist es durch eine zu laute Lärmkulisse schwer herauszuhören, ob ein leises Fahrzeug naht. Sollte der Blinde in einem solchen Fall im begriff sein, einen Fuß auf die Straße zu setzen, wird er das Fahrzeug überhört haben und der Fahrer muss sofort bremsen. Blinde Menschen lernen im Mobilitätstraining, den Rücken zur Straße zu drehen, wenn sie unsicher sind. So signalisieren sie dem Autofahrer, dass sie jetzt keinesfalls über die Straße gehen. Herüberwinkende Gesten sind für den Nichtsehenden natürlich nicht erkennbar.
Und noch eine bescheidene Bitte an die lieben Autofahrer. Wie du ja schon weißt, aufmerksamer Leser, bewegen sich Blinde Menschen auf gewohnten Wegen sehr sicher. Sie beherrschen sie quasi in und auswendig. Parkst du dein Auto aber an einer Stelle, an die normalerweise keine Fahrzeuge gehören, wird der trainierte Pfad des Blinden unterbrochen und es besteht die Gefahr, dass sich der Betroffene am Auto verletzt. Viel entscheidender als mein Wohl ist für den Fahrzeugführer natürlich das Wohl seines geliebten Autos. Da hört man schon mal Sätze wie: "Pass auf, die Blinde macht dir einen Kratzer dran." Aber keine Sorge, der Blindenstock erzeugt in der Regel keine Kratzer am Lack.
Einige Autofahrer neigen dazu, ihre Großeinkäufe mitten auf dem Fußweg auszuladen, da dann der Weg zum Hauseingang nicht so weit ist. Ich weiß, wovon ich rede, da ich immer wieder "gern" mal über einen Bierkasten stolpere oder ein Netz Kartoffeln am Fuß trage. Bei allem Humor, wirklich witzig sind solcherlei Stolperfallen nicht in jedem "Fall". Auch wenn meine lieben Hausbewohner dieses Buch niemals lesen werden, bitte ich sie trotzdem auf diesem Wege ganz lieb darum, ihre Trollis, Zeitungsstapel und Einkaufsbeutel nicht in meiner gewohnten Einflugschneise zu platzieren. Vor allem auf Treppen können diese Dinge zu bösen Fußangeln werden.
Den gesundheits- und umweltbewussten Fahrradfahrern sei an dieser Stelle ein ganz eigener Abschnitt gewidmet. Zahlreiche Freunde und Bekannte aus meinem näheren und weiteren Umfeld sind auf den Drahtesel umgestiegen und sehen sich nicht selten vor einem Problem im Umgang mit blinden und sehbehinderten Passanten. Grundsätzlich sind Fahrräder schlechter zu hören als andere Fahrzeuge, vor allem dann, wenn die sie umgebende Geräuschkulisse deutlich lauter ist. Ein Presslufthammer hat, was sein akustisches Durchsetzungsvermögen betrifft, im Zweifelsfall die besseren Karten. In einer reizarmen Umgebung sind Fahrräder relativ gut einschätzbar. Hilfreich ist es immer, wenn der Fahrradfahrer klingelt, sollte er die Absicht haben, sich an einem blinden Menschen in Fußwegnähe vorbei zu bewegen. Manchmal erkennt der Blinde auch den ausgewiesenen Radweg nicht, da dieser oft nur durch einen sichtbaren Streifen, nicht aber durch eine tastbare Kante wahrnehmbar ist. Ein Klingeln macht visuell eingeschränkte Menschen darauf aufmerksam, dass sie entweder zur Seite, oder in einem unklaren Fall, sicherheitshalber stehen bleiben sollten. Leider kann ein Blinder nicht eindeutig zuordnen, ob das Klingeln ihm galt. Ich erlebe es oft, dass Kinder spielerisch ihre Fahrradklingel bedienen, obwohl aus verkehrstechnischen Gründen kein Anlass dazu besteht. Ich bleibe dann zunächst stehen und bin verwirrt, weil ich nicht weiß, ob Gefahr besteht oder nur jemand zum Spaß läutete. Häufig höre ich dann die dazugehörigen Kinderstimmen und kann zuordnen, dass es sich nur um Spaß handelte. Begleitende Eltern möchte ich darauf hinweisen, dass das Bedienen der Fahrradklingel ein Verkehrsschutzzeichen ist, welches auch nur zu diesem Zwecke angewandt werden darf.
Es kommt nicht selten vor, dass Radfahrer meinen Blindenstock nicht richtig zuordnen können und in ihrer rasanten Geschwindigkeit beinahe darüber fahren. Oft setzen sie voraus, von jedermann erblickt werden zu können. Ich erschrecke immer sehr, wenn ein Fahrrad rücksichtslos an mir vorbei rast. In nicht ganz eindeutigen Situationen sollte der Radfahrer lieber abbremsen oder sogar absteigen, damit es nicht zu Kollisionen kommt. Manchmal hilft auch eine direkte Anrede, z. B. "Vorsicht Fahrrad". Dann weiß ich ganz genau, dass ich gemeint bin.
Blinde Menschen selbst sollten natürlich nicht Fahrrad fahren, es sei denn, es handelt sich um ein Tandem. Einige "Blindgänger" aus meinem Bekanntenkreis genießen das Tandem fahren sehr, ich selbst habe allerdings immer zu wenig Vertrauen. In den Medien kursieren hin und wieder Geschichten über einen Wunderblinden, welcher allein mit seinem Rad durch die Natur fährt und mit Hilfe von Schnalzgeräuschen, welche er mit der Zunge erzeugt, seine Umwelt fledermausartig identifiziert. Hier handelt es sich natürlich um einen Ausnahmefall, der nicht auf sämtliche Blinde übertragbar ist. Ich jedenfalls würde mir nicht zutrauen, auf diese Weise durch Leipzig zu radeln. Lass es uns zunächst lieber erst einmal mit Bus und Bahn versuchen, geschätzter Leser.
Sollten wir einmal in die Verlegenheit geraten, lieber Begleiter, gemeinsam ein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzen, habe ich auch dafür einige hilfreiche Hinweise. Grundsätzlich bin ich sehr dankbar dafür, dass mir die Linie einer Straßenbahn oder eines Busses angesagt wird. Optimal ist es natürlich, wenn ein netter Sehender seinerseits auf mich zukommt. Ist dem nicht so, frage ich innerhalb des Haltestellenbereiches in eine Richtung, aus der ich eine Person wahrzunehmen glaube. Oftmals laufen jedoch Schritte einfach an mir vorbei ohne zu reagieren oder meine Mitmenschen haben mir aufgrund der eigenen Eile bereits den Rücken gekehrt und nehmen meine Anfrage nicht wahr. Sollte sich kein Aufschluss ergeben haben, muss ich in die Bahn oder den Bus hineinfragen. Ist es allerdings aufgrund einer Baustelle oder des aufdringlichen Verkehrslärms sehr laut um mich herum, kann ich nicht hören, was mir der Straßenbahnfahrer oder die Fahrgäste sagen. Manchmal muss ich einsteigen, um den Stimmen näher zu sein und dann kann es passieren, dass sich die Tür hinter mir schließt und ich in der falschen Linie lande. Habe ich jedoch die richtige Linie erwischt, helfen mir für die weitere Orientierung die Haltestellenansagen. Hören kann ich sie allerdings nur dann, wenn ich nicht gerade eine lärmende Schulklasse um mich herum habe. In S-Bahnen und Zügen wird häufig zusätzlich die Ausstiegsrichtung angekündigt, damit der Blinde nicht aus der falschen Tür auf die Gleise fällt und im Unglücksfall noch von einem anderen Zug erfasst wird. Damit solcherlei Dinge nicht passieren, ist es wichtig, dass die Ansagen für ihn deutlich hörbar sind und nicht durch Störfaktoren übertönt werden.
Beim Auffinden des Einstieges kann die Anwesenheit anderer Fahrgäste sehr hilfreich sein. In der Regel suche ich den Eingang auf, indem ich den Schrittgeräuschen meiner Mitmenschen und dem Öffnungsmechanismus der Fahrzeugtüren lausche. Dort wo sich eine Tür hörbar öffnet, orientiere ich mich hin. Bewege ich mich jedoch allein auf weiter Flur, muss ich das Verkehrsmittel oft mühsam von außen betasten, um den Einstiegsbereich zu finden. Bei Bussen und Straßenbahnen ist es manchmal möglich, sich anhand tastbarer Bodenmerkmale am Haltestellenbereich direkt am Fahrerhäuschen zu positionieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dort im Zweifelsfall vom Fahrzeugführer gesehen zu werden. Aber gerade im S-Bahnverkehr meiner Stadt ist diese Sicherheit nicht gegeben. Aufgrund der Einsparung von Zugbegleitern, welche nun nicht mehr den Außenbereich absichern und mit einem Pfiff das o.k. zum Losfahren geben, bewege ich mich auf gefährlichem Terrain. Kann ich die Tür nicht schnell genug finden, setzt sich der Zug in Bewegung, während ich noch Handkontakt habe. Ähnlich ging es mir einmal bei einem Bus. Ehe ich mir einen Überblick verschafft hatte, wo am Fahrzeug vorn und hinten ist, fuhr er los und ich geriet ins Straucheln. Einmal abgesehen davon hatte ich mit meiner suchenden Hand das gesamte Fahrzeug geputzt. Auch Automatiktüren können zu gefährlichen Fallen werden. Sie reagieren zwar auf Gegenstände, welche eine bestimmte Dicke aufweisen, aber den dünnen Langstock registrieren sie nicht. Während ich mich tastend in Richtung Einstieg orientierte, passierte es mir einmal, dass sich die Tür schloss und die Bahn meinen Stock mit sich riss. Die hektische Grundstimmung, welche häufig an Haltestellen oder Bahnsteigen herrscht, erlaubt oft kein strukturiertes Vorgehen. Züge, mit schwierigen Einstiegen oder Haltestellenbereiche bei denen die Gefahr besteht, mit Stock oder Fuß zwischen Bahn und Bahnsteigkante zu geraten, verunsichern sehr, vor allem dann, wenn rücksichtslos und ungeduldig von allen Seiten gedrängelt wird.
Öffentliche Verkehrsmittel stellen eine ausgewählte Anzahl von Behindertensitzplätzen zur Verfügung. Diese Plätze sind quasi für Betroffene reserviert und sollten barrierefrei erreichbar sein. Nicht selten lümmelt jedoch bereits ein Mitbürger auf diesen Stühlchen während der Gehandicapte unsicher durch die Bahn trudelt. Bitte versteh mich nicht falsch, lieber Leser, ich bin die Letzte, die auf einem Sitzplatz beharren würde. Ich hätte auch ehrlich gesagt gar nicht den Mut, lautstark um einen zu bitten. Ich habe nur oft das Problem, unfreiwillig im Wege zu stehen und hin und her geschubst zu werden, da ich nicht einschätzen kann, wer herein oder heraus möchte. Auch wenn ein Verkehrsmittel scharf bremst oder schwankt, habe ich keinen sicheren Halt und erwische nicht so schnell, wie ein "Gucki" den gewünschten Griff. Um die Orientierung nicht zu verlieren und um sich auf einen festen Anhaltspunkt beziehen zu können, empfinden blinde Menschen einen Sitzplatz also meist als hilfreich. Oft haben sie auch aufgrund des Stockes und eventueller mitgeführter Beutel und Taschen gar keine Hand frei, um sich richtig festhalten zu können.
Nun wirst du dich fragen, lieber Leser, wie man einem blinden Fahrgast nun einen Sitzplatz anbietet. Bei Verkehrsmitteln, die dem Blinden bekannt sind, weiß er, wo sich die Behindertensitzplätze befinden. Kennt er den Grundaufbau des Verkehrsmittels nicht, muss er sich zunächst grundlegend orientieren können. Der Kontakt zu Haltestangen ist die entscheidenste Sicherheit. Der feste Halt ist das erste, was gewährleistet werden sollte. Beobachtest du, lieber Leser, dass es dem Betroffenen nicht gelingt, sich angemessen zu positionieren, biete ihm ruhig an, seine Hand zu einem Griff zu führen. Ähnlich verhält es sich mit Sitzplätzen. Es ist empfehlenswert, die Hand des Tastenden auf der Rückenlehne des Sitzes zu positionieren. Ist dieser Kontakt hergestellt, kann der Blinde die Beschaffenheit des Platzes analysieren und sich entsprechend ausrichten. Über eventuelle Armlehnen sollte der Blinde informiert werden, denn es kann sehr schmerzhaft sein, sich unwissentlich auf eine solche zu setzen. Der Sitzplatz eines Blinden sollte sich möglichst in Türnähe befinden. Lange Suchmanöver im inneren des Verkehrsmittels verwirren, vor allem dann, wenn es sich bereits in Bewegung gesetzt hat. Hat der Blinde den Bezug zur Tür verloren, wird er beim Aussteigen in Stress geraten. Auch Gepäckablagen in Kopfnähe sollten ihm angesagt werden, damit er sich nicht beim Hinsetzen oder Aufstehen stößt oder gar verletzt. Ich erlebe es oft, dass ich auf der Suche nach einem Sitzplatz bin, mir die Leute aber nicht sagen, dass dort bereits besetzt ist. Ich möchte mir jedoch gern die Peinlichkeit ersparen, aus Versehen einem Opa ins Ohr, einer Lady in die Frisur oder einem Teenager auf den Schoß zu greifen. Es ist also immer sinnvoll, lieber Leser, dem Blinden kund zu tun, dass du existierst. In einer Reiz überfluteten Umgebung wird er dich nicht zuverlässig anhand deiner Körperwärme, deines Geruches oder deines Atems orten können. Wer sich nicht traut etwas zu sagen, kann ja hörbar hüsteln. Ich habe schon oft erlebt, dass sich meine Mitmenschen solcher Mittel bedienen. Das ist zwar nicht die eleganteste Variante der Kommunikation, aber sie funktioniert: Wenn ein Stuhl hustet, ist er wahrscheinlich besetzt.
Da nicht jeder Ort mit Hilfe blindentechnischer Mobilitätsfertigkeiten gut zu erreichen ist, sind Betroffene nicht selten auf die Nutzung eines Taxis angewiesen. Taxifahrer, lieber Leser, sind eine Wissenschaft für sich. Sie begegnen täglich innerhalb ihres Fahrzeuges auf engstem Raum den unterschiedlichsten Menschen und müssen sich auf deren Besonderheiten einstellen. Davor habe ich großen Respekt. Allerdings muss auch ich als Fahrgast mich auf die jeweiligen Persönlichkeiten der Taxifahrer einlassen. Da ich mich während der Fahrt quasi in einer kommunikativen Zwangssituation befinde, werde ich häufig mit den abenteuerlichsten Fragen konfrontiert, vor allem mit jenen, die sich um meine Blindheit ranken. Dies empfinde ich als absolute Inspiration, denn die Entstehung dieses Buches fußt auf genau dieser Art von Fragestellungen.
Einige Taxifahrer sind überhilfsbereit und stopfen einen mit Sack und Pack in die Wagentür. Dies ist mir eher unangenehm, denn ich komme oft noch nicht einmal dazu, meinen Stock zusammenzuklappen. Dann werde ich noch mit Tasche um die Schulter angeschnallt, wobei der wabernde Bierbauch des Taxifahrers auf meinem Schoß zum Liegen kommt.
Obwohl ich meist sehr genau die Straßenverläufe kenne und prägnante Stellen an Hand ihrer Kurvenverläufe oder holprigen Untergrundstrukturen einordnen kann, werden meine Wegbeschreibungen häufig vollkommen ignoriert, da ich ja als Blinde scheinbar unzurechnungsfähig bin. Selbst wenn ich freundlich darauf hinweise, dass wir auf der falschen Spur unterwegs sind, werden meine Einwände übergangen. Auf diese Weise landete ich einmal unfreiwillig am falschen Häuserblock und klingelte mitten in der Nacht eine verängstigte Omi statt meines erwartungsvollen Freundes aus dem Bett. Sie war ebenso verblüfft wie ich. Hin und wieder habe ich auch das Gefühl, dass der ein oder andere Taxifahrer besonders langsam fährt oder absichtlich den längeren Weg wählt, aber diese Ärgernisse sind eher die Ausnahme.
Nicht selten entsteht das Problem, dass mir der Fahrer eine Quittung oder das Wechselgeld reicht, ohne dies zu kommentieren. Es ist daher sehr hilfreich dem Blinden zu sagen, dass man ihm etwas hinhält. Mancher Taxifahrer sagt noch nicht einmal an, dass er bereits vor einem steht und die Wagentür aufhält. Ähnlich verhält es sich mit dem Ankunftsort. In solchen unkommentierten Fällen bin ich manchmal nicht ganz sicher, ob wir bereits angelangt sind, oder nur an einer Ampel stehen. Vor allem, wenn ich in Gedanken bin oder bestimmte Strecken keine spürbaren Merkmale aufweisen, kann ich nicht genau ausmachen, wo wir uns gerade aufhalten.
Für die Orientierung des Blinden ist es hilfreich, wenn ein Taxi auf der richtigen Straßenseite hält. Über Pfützen, Bordsteine oder Verkehrsschilder in Ein- oder Ausstiegnähe sollte er informiert werden. Beim Einsteigen wird eine Hand des Blinden zur Oberkante der Wagentür geführt, die andere zur Dachkante. Oft stellen blinde Menschen diesen Tastkontakt zum Fahrzeug selbstständig her. Auf diese Weise ist für sie erkennbar, in welcher Richtung das Auto steht und wie viel Platz der Kopf hat, ohne beim Einsteigen anzustoßen. Mir ist es einmal passiert, dass ein Taxifahrer während meines Tastmanövers die Fensterscheibe hochkurbelte. Er hatte nicht gesehen, dass ich blind bin und meine Finger waren hinterher nicht mehr so geschmeidig wie zuvor. Einmal fuhr ein Taxi auch einfach los, als ich noch nicht mal richtig eingestiegen war. In solchen Fällen habe ich immer die Befürchtung, meine Sehbeeinträchtigung hätte sich massiv auf den Taxifahrer übertragen.
Anschnallen muss man einen Blinden übrigens nicht, es sei denn, er ist körperlich gehandicapt und bittet darum. Auch das nett gemeinte Reichen des Gurtes ist eher verwirrend. Ich z. B. weiß genau, wo der Gurt hängt und greife gezielt an diese Stelle. Hält ihn mir jemand hin, registriere ich dies nicht und taste ins Leere. Für mich ist es viel einfacher, selbst an den gewohnten Platz zu langen, als verwirrt nach dem hingehaltenen Gurt zu spähen, von dem ich nicht genau weiß, wo er sich nun befindet.
Insgesamt bin ich allen netten Taxifahrern, welchen ich begegnen durfte, zu großem Dank verpflichtet. Ihr Lieben, ich weiß, dieser Job ist meist ein sehr undankbarer und dazu noch vollkommen unterbezahlt. Ich schätze euch sehr für die guten Gespräche, die ich nicht selten auch mit nach Hause nehme.
Wenn ich mit einem "Gucki" zu Fuß unterwegs bin, finde ich es sehr entspannend, mich führen zu lassen. Nicht, dass ich nicht auch allein gehen könnte, aber wenn ich frei neben einem Bekannten herlaufe und dabei in ein Gespräch verwickelt bin, muss ich nicht mehr nur auf die Umweltbeschaffenheiten, sondern auch noch auf ihn und das, was er sagt achten. Dies ist dann meist zuviel des Guten. Wenn ich uneingehakt mit jemandem durch die Stadt gehe, kann ich mich aufgrund meiner hohen Konzentration auf meine Umwelt also nicht unterhalten. Man sollte sich also stets im Vorfeld einigen, ob man als "Gespann" einen Weg absolviert oder als getrennte Einheiten.
Eine sehr effektive Führtechnik ist die Anwendung des so genannten Zangengriffes. Dabei umgreift der Blinde den Oberarm des Sehenden. Auf diese Weise ist der Führende immer einen halben Schritt voraus, da sich der Blinde quasi angekoppelt hat. Jede Bewegung des Vorangehenden überträgt sich so gut auf den Nichtsehenden. Bei einem Treppenaufgang neigt sich der Führarm leicht in die Höhe, bei einem Abgang in die Tiefe, bei einem Engpass wird er an den Körper herangezogen, bei einer Umgehung vom Körper weggedrückt. Würde sich jedoch der "Gucki" beim "Blindgänger" einhaken, wie es fälschlicherweise häufig passiert, liegt die Verantwortung beim Blinden. Dieser soll ja aber gerade nicht der Führende, sondern der Geführte sein. Auch das Voranschieben, z. B. in ein Geschäft hinein, ist ein absolutes Tabu. Der Blinde kann nicht einschätzen, wohin er tritt und hat immer lieber den Sehenden als Orientierung vor sich. Wer Körperkontakt meiden möchte, kann auch auf eine winzige Führhilfe zurückgreifen. Sie besteht aus einem kurzen Seil, welches an beiden Enden eine Kugel enthält. Greift nun sowohl der "Gucki" als auch der "Blindgänger" eine der Enden, sind beide eng miteinander verbunden, ohne sich berühren zu müssen. Falls du nichts dagegen hast, lieber Leser, suche ich nun doch den Körperkontakt und hake mich bei dir unter. So können wir auf unserem gemeinsamen Weg, ganz bequem noch ein wenig plaudern.
Hoppla, schon wieder eine Treppe. Zu sicheren Vorgehensweisen an Treppen würde ich gern noch einige kurze Anmerkungen machen. Hat man sich darauf geeinigt, dass der Sehende den Blinden führt, steht nun noch die Frage, ob der Blinde seinen Stock vollkommen unbenutzt lässt oder ihn sicherheitshalber trotzdem vor sich herpendelt. In erstgenanntem Fall müssen Stufen und andere Hindernisse unbedingt angesagt werden, denn der "Blindgänger" verlässt sich dann vollständig auf den "Gucki". Wenn man sich gut kennt und den gemeinsamen Plausch nicht stets und ständig durch Hindernisansagen unterbrechen möchte, ist auch die Einigung auf ein Tastsignal möglich. So kann der Führende z. B. kurz mit dem Arm zucken, wenn eine Stufe bewältigt werden muss. Der Hinweis "Stufe", egal ob durch ein taktiles oder akustisches Zeichen, muss allerdings noch die Aussage "hoch" oder "runter" beinhalten, denn eine falsch interpretierte Bodenunebenheit kann schnell zum Sturz führen.
Bei ganzen Treppen helfen Handläufe. Allerdings sollte der "Gucki" im Vorfeld deren Zustand prüfen. Verschmutzte oder rostige Geländer können für den Blinden sehr unangenehm sein. Außerdem ist sicher zu stellen, dass sich der Nichtsehende gerade an der Treppe ausgerichtet hat, denn sonst betritt er jede folgende Stufe in einem Schrägwinkel.
Betroffenen mit Sehrest hilft es, wenn die jeweils erste und letzte Stufe durch einen hellen Streifen markiert ist. In keinem Fall müssen Stufen vom Sehenden abgezählt werden. Entscheidend ist vielmehr, wo eine Treppe beginnt und wann sie endet. Untypische Stufenverläufe, etwa bei Wendeltreppen oder bei sehr maroden oder hohen Stufen, sollten extra kommentiert werden.
Eine besondere Art der Treppe ist die Rolltreppe. Es ist sehr wichtig, dass der Blinde vor dem Betreten einer solchen Treppe über deren Verlauf informiert wird. Mir ist es in der Hektik schon einige Male passiert, dass mich mein Begleiter ohne Vorwarnung mit sich auf die Rolltreppe zog, ohne dass ich es ahnte. Vor allem die Ausrichtung auf den Stufenelementen funktioniert nicht immer punktgenau und ein fester Handkontakt zur Umgebung ist dringend notwendig. Grundsätzlich machen Abwärtstreppen größere Angst, da sie einen bodenlosen Fall provozieren können.
Auch über das Betreten eines Fahrstuhls sollte ein Nichtsehender informiert werden. Hier wurde mir schon oft schwindelig, da ich in der Eile nicht immer durchschaute, dass ich mich in einem beweglichen Element befinde. Darüber hinaus sollte das Passieren von Türen angesagt werden. Wird eine Tür durchschritten, sollte der Blinde nicht, etwa zum Schließen der Tür, um die eigene Achse gedreht werden. Auch kompliziertes Manövrieren beim benutzen von Türklinken durch die Begleitperson kann erleichtert werden, in dem der Blinde z. B. gebeten wird, selbst nach der Klinke zu greifen. Nicht immer ist die Begleitperson an der richtigen Seite der Tür und kann sie bequem öffnen. Manchmal ist es auch sinnvoll, eine Tür erst ohne den Blinden zu öffnen, um dann geradlinig mit ihm hindurch zu gehen. Wenn es sich anbietet, kann der Blinde eine Tür auch selber schließen. Oft ist seine Position näher an der Klinke, als die des Sehenden. Allerdings kann es einem "Blindgänger" passieren, dass er eine Tür unabsichtlich zu stark zuschlägt, da er den Abstand zwischen Tür und Rahmen schlecht einschätzen kann. Auch ich kann diesen Abstand nicht in jeder Situation in Ruhe erfassen. Sollte ich also einmal eine Tür lautstark zuschlagen, lieber Leser, soll das keinen wütenden Abgang meinerseits signalisieren, sondern ist eher das Resultat einer gegenständlichen Fehleinschätzung. Das Führen durch Türen lässt sich in seinen Details schwer in Worte fassen und bedarf praktischer Übungen.
Lass mich nun noch das Problem der falschen Schutzengel aufgreifen, lieber Leser. Während die einen davon ausgehen, dass ein Blinder in jeder Situation vollkommen allein zu recht kommt, glauben die anderen, er tut es in keiner. Es gibt sehr hilfsbereite Passanten, welche mit ihrer Unterstützung manchmal mehr Schaden anrichten als Gutes zu tun. So habe ich es schon erlebt, dass mir Personen hunderte von Metern folgten, um mein Zurechtkommen besorgt zu beobachten. Und immer, wenn ich glaubte, ich hätte den falschen Schutzengel abgehängt, hörte ich ihn wieder sagen: "Vorsicht junge Frau, passen sie auf, gehen sie rüber…". Auf diese Weise führte ich schon so manchen unfreiwillig zu meiner Haustür oder zu meinem Arbeitsplatz. Wie bereits erwähnt, ist mir dreimal zu viel Hilfsbereitschaft tausend mal lieber, als einmal zu wenig, aber eine übertriebene Observierung macht mich sehr nervös und dann stolpere ich plötzlich an Stellen, an denen es eigentlich gar nix zum Stolpern gibt. Ich erinnere mich an eine Situation, in welcher ich mir gemeinsam mit einer blinden Bekannten den Weg zu einem Restaurante erfragte. Wir erarbeiteten uns schließlich den freundlich beschriebenen Pfad selbstständig und waren eine gute halbe Stunde unterwegs. Einige Meter vor dem Ziel angekommen, hörten wir plötzlich den Zuruf: "Gleich sind sie da". Unser Schutzengel war uns also die ganze Zeit über auf den Fersen geblieben. Dies tat mir sehr Leid, denn die wertvolle Energie, die er für uns investierte, wäre an dieser Stelle nicht nötig gewesen. Aber ich muss ehrlich sagen, wesentlich häufiger erlebe ich das Gegenteil. Deshalb danke ich jedem Zeitgenossen, der ein ehrliches Interesse an der körperlichen Unversehrtheit seiner Mitmenschen hat. Leider weiß man, gerade wenn einem die optische Kontrolle fehlt, nicht in jedem Fall, welcher Helfer einem wohl gesonnen ist und wer "ganz andere" Absichten hegt. Fremden Menschen "blindlinks" zu vertrauen wäre blauäugig. Ist man allerdings auf Hilfe angewiesen, darf einem das eigene Misstrauen nicht im Wege stehen. Da mir auf meinen Wegen im Laufe meiner Blindheit allerdings schon einige suspekte Gestalten begegneten, vermeide ich es, mich als Blinde in den Abendstunden allein durch die Stadt zu bewegen oder einsame Parks oder Friedhöfe, ohne Begleitperson, aufzusuchen. In manchen Situationen lasse ich auch lieber meinen Stock in der Tasche verschwinden, um mich nicht als Blinde, und somit als offensichtlich leichtes Opfer, auf den Präsentierteller anzurichten. Aber die kuriosesten Dinge passieren ja bekanntlich am helllichten Tage, an Orten, wo man am wenigsten damit rechnet.
Da die Welt grundsätzlich von Sehenden für Sehende gestaltet ist und ein Mensch generell nicht dazu geeignet ist blind zu sein, erleidet ein Nichtsehender ein permanentes Wahrnehmungsdefizit. Häufig müssen ihm Dinge, welche er nicht wahrnehmen kann, vom "Gucki" bildhaft in sein Vorstellungsvermögen hinein beschrieben werden. Sichtbare Zustände in Worte zu fassen empfinden die meisten Augennutzer jedoch als große Herausforderung. Die Sprache reicht nicht aus, um die sichtbare Welt "begreifbar" schildern zu können. Aber auf genau jene Schilderungen sind blinde Menschen nicht selten angewiesen, wollen sie doch ein Teil des Geschehens um sie herum sein. Wie funktioniert es aber nun, das anschauliche Beschreiben von optischen Gegebenheiten? Um diese Problematik näher zu beleuchten, konzipierte ich innerhalb meiner Öffentlichkeitsarbeit in der "Sensorischen Welt" des BFW Halle eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. Innerhalb des Seminars waren drei verschiedene Teilnehmer dazu angehalten, getrennt voneinander einer sehenden Probandengruppe verschiedene optische Erscheinungen zu beschreiben. Da sich die Probanden unter Augenbinden befanden, waren sie, um sich ein inneres Bild zu verschaffen, auf die möglichst anschaulichen Informationen von den Kommentatoren angewiesen. Das Ergebnis zeigte, dass jeder Beschreibende seiner subjektiven Wahrnehmung entsprechende Worte wählt und somit dem Nichtsehenden ein Stück dieser ganz persönlichen Wahrnehmung weitergibt. Jeder Beschreibende vermittelt also ein anderes Bild. Abgesehen davon ist es unmöglich, sich durch bloße Erläuterungen eines Sehenden ein realistisches Abbild einer Sache zu erschließen, wenn man blind ist. Der Blinde interpretiert, die ohnehin subjektiv gefärbte Beschreibung in sein ebenfalls subjektiv gefärbtes Vorstellungsvermögen und unter diesen Bedingungen kann man von Glück reden, dass menschliche Verständigung überhaupt funktioniert. Glücklicherweise gibt es grundlegende Anhaltspunkte, die für alle Menschen gelten und unter denen sich auch ein Nichtsehender etwas Konkretes vorstellen kann.
In jedem Fall ist zu bedenken, dass die Begriffe "hier" und "da" für die Orientierung Sehender geschaffen sind. Bei einem Blinden sind sie zu meiden. Ebenso wenig angebracht sind beschreibende Gesten, etwa das Zeigen einer Richtung mit dem Finger. Ein Nichtsehender erfasst gegenständliche Zusammenhänge über andere Wahrnehmungskanäle. So kann ihm z. B. eine Flasche auf dem Tisch durch ein Klopfgeräusch angedeutet werden. Besteht die Möglichkeit, nicht Sichtbares zu ertasten, sollte der Blinde über diese Option informiert werden. Da aber der Weg zur Eisdiele nicht mit den Händen zu erfassen ist, muss die Wegbeschreibung für den Blinden vorstellbare Navigationshinweise enthalten, welche eben nicht die Worte "dort drüben" oder "vorne rein" bemühen. Geburtsblinden Kindern müssen zunächst sogar die Begriffe "gegenüber von" und "parallel zu" vorstellbar vermittelt werden. Selbst mir ist mittlerweile nicht mehr in jeder Situation klar, dass ich mich im rechten Winkel zu einem bestimmten Haus befinde, oder in welchem Bezug ich mich zu einem sehr verschlungenen Wegverlauf bewege. Manchmal erscheinen mir gerade Strecken kurvig oder kurze Strecken extrem lang.
Ich persönlich erlebe es oft, dass mir meine Begleiter entweder überhaupt nichts von dem beschreiben, was um mich herum geschieht, oder zu viel. In solchen Momenten ist es wichtig, dass man vor gemeinsamen Unternehmungen, Absprachen trifft oder in der entsprechenden Situation Zeichen vereinbart. Hier liegt die Initiative oft ganz klar beim Blinden, denn der Sehende kann ihm ja nicht jeden Wunsch von den Augen ablesen. Beide Seiten dürfen nicht beleidigt sein, wenn einer von beiden ganz sachlich seine Befindlichkeiten äußert. Mir tut es nur immer weh, wenn ich unbedingt etwas für mich sehr Wichtiges wissen möchte und der "Gucki" sagt: "Das kann ich dir nicht beschreiben". Natürlich kann ein Sehender auch nicht wissen, was dem Blinden gerade wesentlich erscheint. Das kann auch kein Blinder erwarten oder gar verlangen. Wie so oft hilft es hier nur, miteinander zu reden und die Positionen klar zu machen.
Das permanente Ansagen unwesentlicher Dinge kann auf beiden Seiten zur Überforderung führen. Da der Blinde ohnehin immer hoch konzentriert auf seinen Wegen ist, kann ein konstanter Kommentator sogar eine absolute Reizüberflutung provozieren. Vielleicht helfen einige anschauliche Beispiele, lieber Leser. Sie sollen deutlich machen, an welchen Stellen Kommunikation erforderlich sein kann und an welchen sie nicht unbedingt nötig ist:
Grundsätzlich fragt der Nichtsehende von allein nach Dingen, die ihn interessieren. Wenn er aber von etwas nichts ahnt, ist ihm auch nicht bewusst, dass es etwas zu erfragen gibt. Zwischen Desinteresse und Unwissenheit liegt also ein großer Unterschied. Der Desinteressierte ist informiert und hat die Wahl, nicht interessiert zu sein. Der Unwissende hat diese Entscheidungsmöglichkeit schlicht weg nicht. Deshalb sollte man blinde Menschen auf ihnen unbekannte Dinge aufmerksam machen, z. B. die Eröffnung eines neuen Geschäftes auf dem Boulevard. Allerdings ist es ausgesprochen subjektiv, was jeder Einzelne als erwähnenswert empfindet. Jeder Betroffene legt auf andere Dinge Wert. Während ich mich bspw. durchaus für das aufwändige Designerkleid einer Schauspielerin interessieren könnte, würde ein blinder Bekannter sich eher das neue Auto seines Nachbarn beschreiben lassen. Ist ja bei "Guckis" auch nicht anders.
Bei Beschreibungen jeglicher Art sollte immer vom Ganzen zum Detail vorgegangen werden. Kehrt ein Blinder in eine Räumlichkeit ein, sollten ihm die Abstellmöglichkeiten seiner persönlichen Sachen, z. B. Tasche oder Mantel, angesagt werden. Wird ihm etwas abgenommen, muss er informiert werden, wo sich seine Habseeligkeiten befinden. So könnte man ihm z. B. sagen: "Ich hänge ihre Jacke am Kleiderständer auf, der steht links neben ihnen, etwa drei Meter von ihnen entfernt. Möchte man einem Betroffenen die Jacke bringen, sollte man ihn nicht nach der Farbe, sondern eher nach den Tasteigenschaften seines Kleidungsstückes fragen, so z. B.: "Ist die Jacke mit dem Fellkragen und den großen Knöpfen ihre?" Nicht jeder blinde Mensch orientiert sich in jedem Fall an Farben.
Wie bereits im Abschnitt über das Vorgehen in öffentlichen Verkehrsmitteln erwähnt, werden dem Blinden Sitzplätze angezeigt, in dem man seine Hand auf die Rückenlehne legt. Anschließend ertastet er sich selbst die Sitzfläche. Da ein Sitzplatz Sicherheit vermittelt, ist es vor allem in turbulenten öffentlichen Situationen hilfreich, ihm einen Stuhl anzubieten.
Das Wort "blind" oder "sehen" muss in keinem Fall im Gespräch vermieden werden. Natürlich kann man die Blindheit beim Namen nennen und kaum ein Blinder wird es einem wohl gesonnenen "Gucki" übel nehmen, wenn er "Wir sehen uns später" sagt.
Da blinde Menschen stets mit gespitzten Ohren durch die Welt gehen, hören sie tratschende oder lästernde Bemerkungen zu ihrer Person. Wer schlecht sieht, muss nicht automatisch auch schwer hören. Mir geht es oft so, dass ich an Passanten vorübergehe und dann getuschelte Sätze wie: "Meinst du, dass die wirklich richtig blind ist?", "Blind sein aber wie ein Grufti rum rennen." oder "Na ich würde mir den Strick nehmen wenn ich blind wäre." Dringen nicht selten in meine Gehörgänge. Liebe Flüsterer, solcherlei Aussagen tun weh. Lieber werde ich direkt angesprochen, vorausgesetzt, meine Gesprächspartner verhalten sich taktvoll und zeigen ehrliches Interesse. Mit einem offenen "Darf ich ihnen über die Straße helfen?" ist mir mehr geholfen, als mit anmaßenden Spekulationen hinter meinem Rücken. Hilfsbereitschaft kostet auch nicht mehr Energie als Lästern.
Rätselspiele, so im Stile von: "Wer bin ich?" sind auch nicht gerade nett. Blinde Menschen sind sehr dankbar, wenn man sie begrüßend beim Namen nennt, und sich ihnen anschließend mit dem eigenen Namen vorstellt. Ein unkommentiertes "Hallo" gibt mir persönlich weder Aufschluss darüber, ob ich überhaupt gemeint bin, noch, wer mich gerade angesprochen hat. Vor allem in lauter Umgebung ist die Stimme einer Person nicht anhand eines einzigen kurzen Wortes zu erkennen. Auch wenn blinde Menschen im Allgemeinen ein gutes Stimmgedächtnis besitzen, greift dies nicht in jedem Fall. Auch selten gehörte Stimmen können nicht unbedingt nach der zweiten Begegnung gleich zuverlässig zugeordnet werden. Hilfreich ist z. B. die Ankündigung: "Guten Tag Frau Sonntag, hier ist Herr Montag und ich reiche ihnen die Hand zur Begrüßung." Erlebe ich als Blinde keinen Aha-Effekt hilft es, wenn der Begrüßende mir von der Situation erzählt, in der wir uns zum ersten Mal begegneten, z. B.: "Wir hatten uns bei der letzten Fotoausstellung von Frau Pavarotti gesehen." Ähnliche Momente erleben auch Sehende, nämlich wenn sie telefonieren. Sie sind dann darauf angewiesen, ihren Gesprächspartner an der Stimme und am Namen wieder zu erkennen.
Wie gerade am Beispiel erklärt, ist auch das Reichen der Hand zu kommentieren. All zu oft wird mir verkrampft eine Hand hingehalten, welche ich nicht sehen kann. Ich ignoriere sie dann ungewollt und mein Gegenüber wird noch verkrampfter. Dabei würde ein einfacher Kommentar Abhilfe schaffen.
Natürlich ist ein Blinder nicht unmündig und möchte wie ein erwachsener Mensch behandelt werden. Viele Betroffene empfinden es als Bevormundung, wenn sie nicht direkt, sondern über ihre Begleitperson angesprochen werden, etwa auf Behörden oder in Geschäften. Blinde beißen nicht, jedenfalls nicht mehr als Sehende auch. Aber ich lass mich auch gern vom Gegenteil überzeugen. Ich erlebte einmal eine Situation, in der sich eine Seminarteilnehmerin von meinem Kollegen und mir verabschieden wollte. Sie reichte mir kommentarlos die Hand und ich reagierte nicht, da ich sie nicht wahrnahm. Da flüsterte jene Frau unbeholfen zu meinem Kollegen herüber: "Ach sie gibt wohl nicht die Hand?" In diesem Moment hätte ich am liebsten gesagt: "Nein, aber sie macht Männchen".
Grundsätzlich sollte man einem blinden Menschen nichts schweigend hinhalten, nicht die Hand und auch nicht das Wechselgeld in der Kaufhalle. Apropos Kaufhalle. Zwar ist es dem geübten Nichtsehenden möglich, Geldscheine und Münzen mit dem Tastsinn zu identifizieren, aber in der Eile kann es dennoch helfen, wenn ihm die Kassiererin das Wechselgeld in die Hand zählt. Auf dem Tresen abgelegtes Geld kann er oft nicht zuverlässig orten. Ungünstig ist es, das Kleingeld auf die Scheine zu legen. Vorteilhafter wäre, ihm beides separat zu überreichen. So kann er es ordentlich getrennt voneinander in Ruhe im Portmonee verstauen.
Das Weggehen oder Wiederkommen einer Person in kommunikativen Situationen sollte vorzugsweise von der entsprechenden Person selbst, oder notfalls von einem anderen Sehenden angesagt werden. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass der Blinde mit einem Abwesenden spricht oder einen Anwesenden ungewollt ignoriert. In ruhigen Räumen z. B. im eigenen Wohnzimmer entsteht dieses Problem natürlich nicht so häufig, wie in einer starken Lärmkulisse, etwa am Kneipentisch. Fühlt sich ein Blinder in einer von Reizen überfluteten Umgebung einmal nicht gleich angesprochen, kann eine leichte Berührung an der Schulter helfen. So weiß er im Zweifelsfall, dass er gemeint ist.
Ordnung und Pünktlichkeit sind für einen blinden Menschen oberstes Gebot. Minuten können endlos werden, wenn man nicht sehen kann. Beim Blinden entsteht in einer zu langen Wartephase eine große Unsicherheit, auch wenn für den Sehenden die Umgebung und Situation nicht problematisch wirkt. Für den Blinden gewohnte Gegenstände sollten dort verbleiben, wo er sie vermutet. Da öffentliche Räume für ihn ohnehin manchmal mangels Orientierung so etwas wie ein Buch mit sieben Siegeln darstellen, sollten wesentliche Anhaltspunkte erhalten bleiben, etwa der Standort eines Papierkorbes im Wartezimmer oder eines Kerzenständers in einem Kaffee.
Kommen wir nun zu einem, wie soll ich sagen, dringlichen menschlichen Bedürfnis, lieber Leser. Das Aufsuchen eines WC in der Öffentlichkeit und die damit verbundenen Komplikationen sollen nicht unerwähnt bleiben. Natürlich hat ein Nichtsehender mit dem konkreten Vorgang der Toilettenbenutzung kein Problem, dafür aber häufig mit den Gegebenheiten, die ihn überhaupt erst einmal zum Ziel gelangen lassen. Aufgrund der mangelnden Orientierung in unbekannten öffentlichen Gefilden, müssen elementare Bedürfnisse oft zurückgesteckt werden. Bin ich persönlich mit einer Begleitperson unterwegs, die ich nicht gut kenne, zu der ich gar eine geschäftliche Beziehung hege, ist es mir unangenehm, das "Toilettenthema" anzusprechen. Bin ich mit Männern verabredet, können mir diese nicht den räumlichen Grundaufbau des Sanitärtraktes im Damenbereich erläutern. Manchmal lässt sich dies allerdings nicht verhindern, da man sich als Blinder in einem solchen Bereich schon mal verzetteln kann. Ich möchte an dieser Stelle nur von meiner Person ausgehen. Ich empfinde großen Ekel, wenn ich mir in einer öffentlichen Toilette mit bloßen Händen einen Überblick über die zum Teil stark verschmutzten Umweltmerkmale verschaffen muss. Mir hilft es sehr, wenn ein Sehender vorher kurz checkt, ob eine Kabine passabel ist oder ob dort erstmal eine Reinigungskolonne durchwienern sollte. Bin ich mit Frauen unterwegs, ist dies ein geringeres Problem. Habe ich die Möglichkeit, ein Behinderten-WC aufzusuchen, bevorzuge ich diese Option, denn ich kann mich in diesem Terrain besser orientieren als in einem undurchschaubaren Trakt dessen hygienischen Zustand ich nicht einschätzen kann. Und noch ein Problem tut sich auf. Wenn ich gemeinsam mit einer Begleitperson in einem Lokal zwei Plätze besetze, kann ich nicht mal eben allein verschwinden, während der andere meinen Stuhl frei hält. Wir müssen gemeinsam losgehen und wenn wir zurückkommen, sind inzwischen meist beide Plätze von anderen Gästen belegt worden.
Abschließend, geschätzter Begleiter, möchte ich dich gern noch in ein wundervolles Theaterstück einladen. Diese Belohnung hast du dir verdient. Manche Veranstalter kultureller Events gestatten dem Blinden und seiner Begleitperson eine Teilermäßigung des Eintrittspreises. Das liegt daran, dass der Blinde aufgrund seiner visuellen Einschränkung nicht im vollen Umfang das Angebot genießen kann und die Begleitperson als Kommentator agieren muss, obwohl sie selbst vielleicht gar kein Interesse an der Veranstaltung hat. Nun ist es auch hier schwer einzuschätzen, in wie fern dem Blinden das Geschehen auf der Bühne oder Leinwand erläutert werden kann. Grundsätzlich sind Hinweise entscheidend, die zum Verständnis des Stückes erforderlich sind. Dass gerade jemand singt, muss nicht erläutert werden, denn das hört der Nichtsehende selbst. Lacht aber das Publikum an einer bestimmten Stelle über einen optischen Gag, muss der Blinde über diese Situation aufgeklärt werden. Traurig bin ich persönlich immer dann, wenn ich wie "Klein Dummchen" neben meinem Begleiter sitze und nicht am Geschehen teilhaben darf. Um herumsitzende Besucher nicht zu stören, sollten Erläuterungen natürlich möglichst unauffällig gegeben werden. So, gespannter Leser, lass uns nun das Theaterstück genießen. Siehst du, der Vorhang öffnet sich. Die Inszenierung trägt den Namen: "Messer, Gabel Schere, Licht". Ja, du hast richtig erkannt, das ist die Überschrift des nächsten Kapitels…