Es war einmal ein Fischer
(Alexandra)
Es war einmal ein Fischer,
der hatte das schönste Kind.
Es war all sein Glück, all sein Kummer,
alalileilalileilalileila,
denn seine Tochter war blind.
Des Nachts lief sie ans Ufer
und sang mit Wind und Meer
und wer ihre Lieder hörte,
dem ward das Herz so schwer,
lalalileilalileilalileila,
dem ward das Herz so schwer.
Da kam eines Tags ein Fremder,
kam in den Fischerort,
er küsste ihr die Tränen
von den blinden Augen fort,
er küsste ihr die Tränen
von den blinden Augen fort.
Er bat sie, werd die meine,
seine Hand war kalt und bleich,
und führte sie ins tiefe Meer
hinab bis in sein Reich,
lalalileilalileilalileila
hinab bis in sein Reich.
Ach Vater, lieber Vater
ich bitt dich, weine nicht.
Auf Erden war's so dunkel,
nun ist mir ewig Licht,
auf Erden war's so dunkel,
nun ist mir ewig Licht.
Spreche ich mit Sehenden über meine Blindheit, fallen mir oft zwei extreme
Reaktionen auf: entweder mein Gesprächspartner behandelt das Thema, als
habe es nichts mit ihm zu tun, als sei Blindheit ein exotisches Phänomen,
welches er aus seinem Leben vollkommen ausklammern kann, oder er begreift, dass
es von heute auf morgen auch ihn betreffen kann, und dann kommt ihm spontan die
Idee, dass in einem solchen Fall nur noch der Strick helfen würde. Das sagt
man mir dann auch unverblümt und ich frage mich dann immer, ob ich mir
komisch vorkommen muss, weil ich gerade mal keinen Strick um den Hals trage.
Ich bin eine große Freundin der Tabuthemen und nehme keinerlei
Rücksicht auf die blütenreine Scheinheiligkeit samtbehandschuhter
Unwahrheiten. Schon häufig habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein Blinder
so lange als imposant oder faszinierend empfunden wird, wie er lebensbejahend den
Klang des puren Optimismus in die Welt flötet. Geht es ihm aber schlecht,
spricht er das aus, was ihn unglücklich macht, dann wird er unbequem für
seine Umwelt und verliert an Zauber. Mutet man dem Sehenden nun zu, sich mit der
Blindheit auseinanderzusetzen, darf der diesen Gedanken dann auch schlimm
finden, unvorstellbar, unerträglich, tödlich. Vom Blinden selbst
möchte man so etwas aber weniger gern hören, von ihm wird oft erwartet,
dass er über seiner Behinderung steht, nicht jammert und dem Sehenden
fröhlich und stets freundlich dessen Berührungsängste nimmt.
Die Augennutzer sind oft schwer beeindruckt, wenn sie mich optimistisch strahlend
durchs Leben wandeln sehen, aber der hinterfragende Mensch durchschaut, dass
dies manchmal nur die halbe Wahrheit sein kann. Wenn ein Sehender darüber
nachdenken darf, sich umzubringen, wenn er sein Augenlicht verlieren würde,
warum soll ich als Betroffene nicht auch hin und wieder einen solch finsteren
Gedanken haben? Menschen sind verschieden, reagieren auf ähnliche
Situationen persönlichkeitsentsprechend vollkommen unterschiedlich. Deshalb
lassen sich auch hier keine generellen Aussagen treffen, aber ich gehe fest davon
aus, dass ein erblindender Mensch nicht stets und ständig die pure Euphorie in
Person sein kann und sich schon dann und wann dem einen oder anderen
depressiven Gedanken hingibt. Und genau aus diesem Grund möchte ich
diesen Gemütszustand nicht totschweigen. Selbstverständlich ist die
Blindheit eine Belastung, die Körper, Geist und Seele immens strapaziert und
natürlich liegt es nahe, dass Sucht oder Suizid nicht vollkommen
auszuklammern sind. Vermutlich sind späterblindete Menschen die
potentielleren Opfer, da sie aufgrund des Verlusts in eine Krisensituation geraten, die
ein Geburtsblinder nicht in dieser Form erlebt, da er sein Lebenskonzept von
Kindesbeinen an blind erstellte. Wem aber im Laufe seines Daseins ein gravierender
Einbruch widerfährt, erlebt einen symbolischen Todesfall. Für ihn ist
nichts mehr so, wie es einmal war, das Buch seiner Identität muss in allen
Grundsätzen überarbeitet werden. Das soll aber nun auf keinen Fall
heißen, dass ein blind geborener Mensch keine emotionale Belastung erlebt, ist er
doch täglich mit den Einschränkungen konfrontiert, die ihm aufgrund
seiner Schädigung widerfahren. Der Schmerz ist jedoch im Vergleich zu einem
Späterblindeten andersartig gefärbt, da die Ausgangsvoraussetzungen
sich unterscheiden.
Und nun beginne ich , aus meinem ganz persönlichen Nähkästchen
zu plaudern. Ich möchte den Interessierten die Augen öffnen, auch wenn
ich Gefahr laufe, meinen Ruf als stets optimistische "Vorzeigeblinde" zu
ruinieren.
Die folgende Schilderung maßt sich keinesfalls an, für andere blinde Menschen
zu sprechen. Ja, natürlich habe ich grenzwertige Gedanken gehegt, in
Situationen, in denen mir meine Blindheit unerträglicher als der Tod schien
oder gefühlsmäßig dem Tod gleichzusetzen war. Ich schau einfach an
dieser Stelle ein wenig in die Vergangenheit zurück, um jene Stimmungslage
besser verdeutlichen zu können. In der Blüte meiner Jugend lernte ich im
Wartezimmer meines Augenarztes einen jungen Mann kennen, der später zu
einem meiner besten Freunde wurde. Genauer gesagt wurde er zu meiner besten
Freundin, denn wie sich im Nachhinein herausstellte, war er schwul. Hinzu kam, dass besagter Kumpel so etwas wie ein
Seelenverwandter für mich wurde, da er ein ähnliches Schicksal teilte.
Damit meine ich nicht, dass er sich wie ich für die Männerwelt
interessierte, sondern dass er unter Retinopathia Pigmentosa litt, einer
Augenkrankheit, welche die Netzhaut betrifft und bei ihm zu einem sich immer weiter
verengenden Tunnelblick führte. Es tat unbeschreiblich weh, mit anzusehen,
wie ein für mich so wichtiger Mensch kurz vor dem Abitur einen immer
größeren Teil seines Augenlichts verlor: erst bemerkte er die Nachtblindheit,
dann die Gesichtsfeldeinengung, dann den Verlust des Farb- und Kontrastsehens
und schließlich der gesamten Sehschärfe. Was blieb, nannte man Blindheit. Er
war talentierter Skateboarder, Breakdancer und Graffitikünstler und musste
unter großen emotionalen Schmerzen diese Hobbys aufgeben. Ich bedauerte ihn
sehr, konnte es kaum ertragen, ihn stolpernd und tastend durch die Welt tapsen zu
sehen. Alle hatten auf ihn gestanden, auf seine Leichtfüßigkeit, sein
Imponiergehabe, seine Blicke. Und nun zwang ihn die Blindheit in eine Rolle, die
mich befremdete. Ich selbst war immer froh darüber, nicht wie er unter einer
Augenerkrankung zu leiden, die einmal zur Erblindung führen könnte.
Und dann kam der Tag meines seelischen Todesurteils. Ich erinnere mich, als sei es
gestern gewesen und ich fühle ihn noch heute, den Zustand der alles
erstickenden Ohnmacht. Das war ein Gefühl, als säße ich auf dem
elektrischen Stuhl, um plötzlich zu begreifen, dass nun für immer alles
vorbei sein würde. Eine gänzlich unempatische Augenärztin
konfrontierte mich in einer Eiseskälte mit einer Diagnose, die mir das Genick
brach: Retinopathia Pigmentosa. Ich hatte sie also auch, jene "Pest", man
hatte mir nur nie eindeutig etwas davon gesagt. Und spätestens zu diesem
Zeitpunkt wurde mein bester Kumpel zu mehr als nur einem Freund, er war der
einzige Mensch, der mich wirklich verstehen konnte. Wir telefonierten täglich
und tauschten uns aus, lachten Tränen über peinliche Dinge, die uns
aufgrund unserer Sehbehinderungen passiert waren. Niemand konnte mich so zum
Lachen bringen wie er, und doch hasste ich ihn, weil er mir vorspiegelte, wo ich
einmal ankommen würde. Seine Krankheit schritt rasant fort, während
meine vorerst stagnierte. Wir wurden beide zu Teenagern, die in jeweils sehr
exzessiven Jugend-Subkulturen versuchten, vor der psychischen
Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen zu fliehen. Mein Seelenverwandter
verbrachte sein Verdrängungsdasein im nächtlichen Untergrund der
Partydrogenwelt und zog sich so manches synthetische Gift durch die Nase. Ich, mit
der Angst im Nacken, dass auch der Kerzendocht meines Augenlichtes in einigen
Jahren niedergebrannt sein würde, suchte nach dem Sinn meines Daseins in
der Straßenpunk- und Junkieszene. Nur wer weiß, wie es sich anfühlt, wenn
der giftige Geschmack des Verlusts einem die Kehle zerfrisst, kann wahrhaftig
begreifen, was es heißt, zu leben und was es heißt, zu sterben. Ich wusste, dass es
die Umstände nicht erlauben würden, jemals wieder wie die
"Anderen" zu sein und ich gab mir deshalb auch keine große Mühe
damit, es zu versuchen. Meine Diagnose machte mich schnell erwachsen, kritisch
und anspruchsvoll. Ich wollte die Tiefen des menschlichen Seins ergründen,
mich an der Erkenntnis der Wahrheit betrinken, jeden Abgrund sezieren, um mein
Schicksal zu verstehen. Mit der oberflächlichen Sauberwelt konnte ich mich
nicht identifizieren. Ich war fasziniert von den Menschen, die wie ich kleine oder
große Tode sterben würden, die existierten, um zu verlieren. Und was passte
da besser, als sich ein klischee-punkiges "Born to lose" auf die Stirn zu
schreiben und nach den Brüdern und Schwestern zu suchen, deren
Seelenstimmen auch "No future for me" schrieen. So wurde ich zur
Punkerin und verbarg meinen kreischenden Daseinsschmerz hinter der rebellischen
Fassade der Pogo-Kultur.
Da standen wir nun in den Ruinen unserer Träume mit einer Gravur in unseren
Seelen, die "für immer blind" hieß. Irgendwann schlossen wir dann
einen Vertrag, wir konzipierten täglich daran herum. Dieser Vertrag
verpflichtete uns zu unserem gemeinsamen Suizid, sobald wir beide blind sein
würden. Wir wollten das Leben bis zum erträglichen Maximum auskosten,
um zu gehen, bevor wir fremdbestimmt von einer Krankheit unsere Identität
verlieren würden. Unsere Ideen waren umfangreich, aber es ging uns nicht um
einen theatralischen Abgang, sondern um eine saubere Lösung. Keiner von
uns wollte nach einem misslungenen Sprung vom Hochhaus im Rollstuhl enden. Wir
wollten auch verhindern, dass der eine springt, während der andere sich
spontan umentscheidet. Aneinanderketten schien deshalb ratsam. In diesem
Zusammenhang fällt mir eine Filmszene aus dem Streifen "Erbsen auf
halb sechs" ein: Ein erblindeter, vormals erfolgreicher Theaterregisseur wird
zunächst mit seinem Schicksal nicht fertig. Seine Hilflosigkeit und die daraus
resultierende zunehmende Verbitterung zerreißen ihn. Er stößt gegen jedes
erdenkliche Hindernis, spricht ins Leere und fällt beim Suizidversuch eine
Etage tiefer auf den gedeckten Tisch, in einen Erdbeerkuchen, statt in den
tödlichen Abgrund. Wie dem auch sei, mir scheint, als habe ich jenes Vorhaben
nicht durchgezogen, denn Tote können keinen Text mit der Überschrift
"Ich würde mir den Strick nehmen" zusammenschustern. Auch
meine beste "Freundin"macht einen sehr lebendigen Eindruck und unser
vertragliches Hirngespinst moderte unerfüllt vor sich hin, um irgendwann ganz
zu zerfallen.
Was uns davon abhielt, unseren Plan umzusetzen? Es waren die Dinge, welche
einen Menschen gewöhnlich doch an das Leben binden. Die Verantwortung
für diejenigen, von denen man geliebt und gebraucht wird, der Wunsch, auf
dieser Welt noch etwas zu bewegen, zu bewirken, zu hinterlassen und der eigene
Anspruch an den inneren Kampfgeist.
Natürlich gibt es immer wieder Situationen, in denen man sich nicht
entscheiden kann, ob man an sich selbst oder am Rest der Welt scheitert, in denen
man "blindlings" schon ein Bein über das
Brückengeländer schwingt, in denen man aufhört zu denken und
einen scheinbar nichts mehr halten kann, aber diese Verzweiflungsmomente sollten
niemanden davon abhalten, eine lebensbejahende Grundeinstellung zu hegen. Jeder
Mensch kann in eine Situation geraten, in der er zum Opfer, zum Mörder oder
Selbstmörder werden könnte. Aber keine Sorge, blinde Menschen
gehören nicht zu den klassischen Selbstmord-Risikogruppen. Nun ja, hin und
wieder hat sich sicher mal einer freiwillig mehr oder weniger erfolgreich aus dem
Leben verabschiedet, aber das tun auch andere Leute. Sehende Selbstmörder
würde ich gern bitten, mir vor ihrem Abgang noch ihr Augenlicht zu
vermachen, ich kann es gut gebrauchen, wär´ schade drum ...
Ich möchte festhalten, dass es schon jene Schlüsselmomente gibt, in
denen man keinen Ausweg mehr sieht, in denen alles über einem
zusammenzubrechen scheint. Welche Momente das sein können, werde ich
versuchen aufzuschlüsseln.
Grundsätzlich ist ein blinder Mensch zu einer hohen Frustrationstoleranz
gezwungen. Jeder Handgriff, jeder Schritt, nahezu jede Handlung erfordert einen
Mehraufwand an Konzentration, an Energie, an Motivation. Schon beim
Zähneputzen, Schminken, Frisieren und Rasieren, beim Bestreichen einer
Brotscheibe, beim Aufbrühen der Tasse Tee, beim Abstimmen der Kleidung,
beim Überqueren einer stark frequentierten Straße, bei der Aufnahme von
Informationen, in der zwischenmenschlichen Kommunikation, beim Einkaufen, bei
der Haushaltsführung, im Berufsalltag, bei Freizeitaktivitäten, um nur
einige kleine und größere Details zu nennen. Eine Sekunde der
Unaufmerksamkeit kann unschöne Folgen haben: Zahnpastareste im Gesicht,
verbrühte Finger, schmerzhafte Konfrontationen mit Hindernissen oder gar
einen tödlichen Unfall. Diese permanente Anspannung sorgt nicht selten
für seelische und körperliche Blockaden. Frust entsteht immer dann,
wenn die Erfüllung eines Bedürfnisses entweder behindert wird oder
unmöglich ist. Die daraus resultierende Aggression kann von Betroffenen in
den seltensten Fällen angemessen veräußerlicht werden, und so entsteht
ein Gefühlsstau. Blinde Menschen sind oft Künstler des
Überspielens, des Ausgleichens oder Verdrängens und es ist für
einen Außenstehenden schwer zu ergründen, welchen Belastungsmomenten
ein Betroffener ausgesetzt ist. Eine Situation allein ist nicht das Problem, sie kann
durch Erfolgserlebnisse kompensiert werden, aber die Anhäufung negativer
Erfahrungen kann das Fass zum Überlaufen bringen. Ein Beispiel: Schon der
Morgen beginnt mit einem hohen Konzentrationsanspruch. Während ein
Sehender so nebenbei zu sich kommt, muss man als Blinder hellwach sein. Alles
muss an Ort und Stelle stehen, sonst beginnt das große Suchen und das wäre
dann schon mal der erste Frust. Hat der Besuch vom Wochenende die
Haarbürste flüchtig an die falsche Stelle verfrachtet und bricht man sich
dann noch fünf Fingernägel ab, weil die Tür im falschen Winkel
stand, um anschließend die Erdbeermarmelade, die man mit dem Pflaumenmus
verwechselt hat, auf der Bluse zu platzieren, dann fehlt es nur noch, dass man die
Kaffeedose umstößt, weil man ja irgendwie in Hektik geraten ist - und das
Chaos ist perfekt, ehe der Tag begonnen hat. Klar, auch einem Sehenden passieren
Missgeschicke, aber er kann sie schneller beseitigen. Er erblickt die verlegte
Haarbürste, er sieht die halboffene Tür, er erkennt die Aufschrift der
Streichprodukte, er überschaut, wo sich ein Fleck befindet und ob er ihn
hinreichend behandelt hat und er kann beobachten, in welche Ecken sich das
Kaffeepulver verteilt. Tritt man nun den Weg zur Arbeit an und landet mit dem Fuß
beim Verlassen des Hauses im Wischeimer der Reinigungskolonne, kann man sich
prompt noch mal umziehen, um die Bahn zu verpassen, die einen rechtzeitig zum
Arbeitsplatz gebracht hätte. Nutzt man öffentliche Verkehrsmittel, geht
man ohnehin immer überpünktlich los, denn es könnten ja
unvorhergesehene Hindernisse im Weg stehen und das Überqueren einer
vierspurigen Straße ohne blindentaugliche Querungshilfen kann schon mal eine
Viertelstunde in Anspruch nehmen, immer mit der Angst im Nacken, diese Straße
zum letzten Mal überquert zu haben. Dann fehlen nur noch ein paar Kinder, die
einem scherzhaft die falsche Linie ansagen, und man landet da, wo man noch nie
war, knutscht dort die ein oder andere Wand, fragt ins Nirwana, wenn man sich nach
dem Weg erkundigt und könnte sich an dieser Stelle gefühlsmäßig
zumindest schon mal eine winzige Zyankalipille vorstellen. Am Arbeitsplatz warten
dann meist die hochkarätigen Gäste, die betreut werden wollen, und die
möchten bestimmt keine lädierte Seminarleiterin begrüßen, die sich
die Augenbraue am Verkehrsschild aufgeschlagen hat und anschließend durch das
unfreiwillige Passieren einer tiefen Pfütze wie eine begossene Pudeldame
aussieht. Was tut man nicht alles für den schönen Schein? Darf ja keiner
was merken, und so tritt man dann vollkommen gebeutelt seinen Dienst an und hat
eigentlich schon einen harten Nebenjob hinter sich, den ein Sehender im Halbschlaf
erledigt. Plagt einen zusätzlich noch der niedrige Blutdruck, kann man dem
Zufall danken, der verhindert, dass man einen Schlenker bekommt und sich
unfreiwillig die nächstbeste Treppe hinabmurmelt. Das klingt überspitzt?
Geschätzter sehender Freund, es gibt diese Tage und dann fehlt nur noch ein
kleiner Auslöser, der das I-Tüpfelchen setzt. Und wohin dann so spontan
mit der angestauten Wut? Ich persönlich bin nicht der Typ, der wild auf jedes im
Weg stehende Auto einprügelt und ich schreie meinen Schmerz auch nicht
hysterisch in den Raum, wenn ich mir das Knie aufschlage. Wie sähe das denn
auch aus in der Öffentlichkeit. Also schluckt man runter, immer und immer
wieder, setzt die Smile-Maske auf und alles ist schick für die anderen. Shit
happens, einen Tag später lacht man herzhaft mit Freunden drüber,
solange bis man einen Krampf im Gesicht hat und findet es plötzlich gar nicht
mehr so unangenehm, doch noch ein wenig weiterzuleben.
Jeder blinde Mensch wird Phasen haben, in denen er an seine Grenzen gerät
und bei jedem werden sich diese Phasen anders auswirken. Es ist ja bekannt, dass
Menschen, die den puren Sonnenschein ausstrahlen, innerlich unter
Umständen sehr unglücklich sein können. Hinzu kommt, dass eben
nicht nur die Persönlichkeit entscheidend ist, sondern auch die jeweilige
Tagesverfassung, Stimmung und Befindlichkeit. Deshalb darf man es einem Blinden
auch nicht verübeln, wenn er gestern noch unbekümmert über
einen deftigen Behindertenwitz lachen konnte und heute übersensibel darauf
reagiert. Wenn jemand gerade sehr dünnhäutig ist, kann ihn eben ein
kleiner Riss zum Bluten bringen, auch wenn er sonst gewöhnlich ein dickes Fell
zu tragen scheint. Ein Vater, dessen Kind vor ein paar Tagen von einem
Kinderschänder zu Tode gequält wurde, wird bestimmt nicht mitlachen,
wenn einer seiner Tischgenossen einen Witz über Triebtäter in die Runde
wirft. Im Gegenteil, er wird vermutlich sehr emotional reagieren und zutiefst getroffen
sein (siehe auch Kapitel "Galgenhumor oder Political Correctness").
Es ist fast schon naiv, davon auszugehen, dass die Verarbeitung eines
schwerwiegenden Verlusts irgendwann vollkommen abgeschlossen ist und dass der
Betroffene dann vollständig über seinem Schicksal steht. Auch der
selbstbewussteste Blinde erlebt hin und wieder einen Einbruch, auch wenn es einmal
in fünf Jahren ist, da ihm permanent von seiner Umwelt widergespiegelt wird,
was er nicht mehr kann. Er unterliegt einer permanenten Konfrontation und diese
Konfrontation ist das eigentlich Schmerzhafte, nicht die Blindheit an sich. Die
Auslöser für einen möglichen Zusammenbruch sind dabei ganz
individuell belegt. Für den einen ist es unerträglich, wenn sich bei einer
Familienfeier die ganze Sippschaft den halben Nachmittag Fotos anschaut,
während er außen vor bleiben muss, ein anderer leidet, wenn im Fernsehen
sein Lieblingsfilm läuft, den er nun nicht mehr sehen kann, ein wieder anderer
wird möglicherweise am Jahrestag seines Autounfalls, welcher die Blindheit zur
Folge hatte, melancholisch, und der nächste bricht vielleicht vollkommen
unvermittelt in Tränen aus, weil er Silvester das Feuerwerk nicht mehr sehen
kann. Ich persönlich habe meine schwachen Momente, wenn ich mich in
Gefahrensituationen befinde, die ich nicht spontan überschauen kann, oder
wenn ich mir eine neue Klamotte kaufe, die ich nicht im Spiegel bewerten kann, wenn
ich meinen Hund nicht beim Toben mit anderen Hunden beobachten kann, meinem
Freund nicht in die Augen schauen kann oder in Momenten, in denen ich aufgrund
meiner Blindheit Isolation erfahre. Ich leide, wenn mir bestimmte Kinofilme
vorenthalten bleiben, wenn ich einen interessanten Bildband in die Hände
bekomme, den ich nicht mehr sehen kann, wenn ich im Eiskaffee sitze und mir nicht
die Menschen anschauen kann, die am Boulevard entlang flanieren, wenn ich bei
Konzerten meine Stars auf der Bühne nicht sehe, wenn ich dringend eine
Aufschrift entziffern muss, die unsichtbar für mich ist, wenn ich nicht mitlachen
oder mitmachen kann, weil mir das Geschehen um mich herum ein Rätsel
bleibt, immer dann, wenn mir bewusst wird, dass ich dieses oder jenes Problem jetzt
nicht hätte, wenn ich wieder sehen könnte, wenn ich das Gefühl
habe, dass niemand meine Sprache spricht, wenn sich Menschen ein Urteil
über meine Blindheit erlauben, ohne zu wissen, wovon sie reden, wenn nicht
gesehen wird, dass man als Blinder durchaus ein ernstzunehmender
Gesprächspartner ist, den man nicht über dessen Begleitperson
ansprechen muss, wenn andere sich als arrogante Samariter aufspielen und für
ihre in Szene gesetzte Toleranz gebauchpinselt werden wollen, wenn die
Behörden mir immer und immer wieder Steine in den Weg legen, wenn mir
meine Behinderung wegen meines gekonnten Kompensierens nicht geglaubt wird.
Ja, so kann man sich auch in den Abgrund schreiben. Wenn ich noch ein paar
Sachen aufzähle, die mir die Suppe versalzen, werde ich doch noch depressiv.
Das erspare ich uns allen und krieg mich ganz fix wieder ein.
Ich muss allerdings trotzdem etwas ungemütlich bleiben, weil ich auch die
eventuell hinzukommenden erschwerenden Krisenmomente nicht ausschließen
kann, die einem ohnehin schon gebeutelten Menschen widerfahren können. Es
gilt zu bedenken, dass mit einer Blindheit auch andere zusätzliche
Verlusterfahrungen verbunden sein können, z. B. die Trennung des Partners,
der Tod eines geliebten Menschen, eine verbaute berufliche Karriere, schwere
Nebenerkrankungen oder weitere Behinderungen. Somit muss die Psyche nicht nur
ein Schicksalsphänomen ertragen, sondern mehrere, die zudem schon jeweils
für sich genommen sehr schwerwiegend sein können. Niemand vermag,
in einen anderen Menschen hineinzuschauen und kann sich eben genau deshalb kein
anmaßendes Urteil über die Problembewältigungsstrategie eines anderen
erlauben. Die Augennutzer mögen uns verzeihen, dass auch wir, die ihr
Augenlicht verloren haben, den einen oder anderen melancholischen Moment
erleben und nicht immer für jeden Spaß zu haben sind. Erstaunlicherweise
erwarten häufig diejenigen Zeitgenossen vom blinden Mitmenschen stets gute
Laune, die sich selbst "den Strick nehmen" würden, wenn sie
ihrerseits in der gleichen Situation wären.
Nicht jeder schafft es, allein oder gemeinsam mit seinen Lieben den eigenen Kopf
wieder aus dem Sand zu ziehen. Deshalb kann professionelle Hilfe sehr ratsam sein.
Ich lege jedem Betroffenen ans Herz, sich vertrauensvoll an einen guten
Psychologen zu wenden, wenn er an sich selbst beobachtet, dass er sich in einem
bedenklichen seelischen Zustand befindet, auch wenn das nie mein Weg war und ich
auch hier meinen kritischen Senf dazugeben muss (aber nur einen kleinen
Löffel). Der Rat des Psychologen lautet nicht selten, dass man sich neue Ziele
stecken solle, neue Hobbys suchen müsse, neue Fundamente schaffen
könne und dann auch neue Erfolge feiern würde. Das tue ich zur
Genüge, aber wahre Konflikte kommen meist ausgerechnet in den Momenten
auf, in denen das nicht funktioniert, nämlich in Akutsituationen, in denen es der
Rahmen nicht erlaubt, alternative Verhaltensmuster zu entwickeln oder umzusetzen,
z. B. wenn man sich wegen der Rücksichtslosigkeit anderer das Kinn zum
dritten Mal an einem Sperrmüll-Container aufgeschlagen hat, wenn man
anzüglich belästigt wird und aufgrund des Orientierungsmangels nicht
flüchten kann oder wenn nahezu alles, was man in die Hände nimmt, nur
für Sehende gemacht ist. An dieser Stelle finde ich persönlich keinen
Trost in den Argumenten, dass ich ja aber jetzt dafür tolle Bücher
schreiben könne, Gesangsunterricht nehme und Theater spiele. Das
nützt mir irgendwie in diesen Fällen rein gar nichts, denn ich lege
dennoch Wert auf körperliche und seelische Unversehrtheit und auf
Gleichberechtigung.
Mal ganz im Ernst und wir sind ja unter uns: Es muss doch jeder nur an sich selbst
denken und an Themen, die auf einen selber niederschmetternd wirken
würden. Klar kann man über den Dingen stehen, aber irgendeiner
unserer Konstrukteure hat sich ausgedacht, dass Menschen fühlende Wesen
sind und solange das so ist, werden Seelenrisse entstehen und, wenn man zu stark
reißt, braucht man das richtige Flickzeug, um die Wunden zu vernähen und
manchmal hilft eben kein Flickzeug mehr, weil die Risse zu tief sind, der Faden zu
schwach ist oder weil man zu "blind" war, den helfenden Nähkasten
zu entdecken oder weil andere zu "blind" waren, die Seelenrisse ihres
Mitmenschen zu erkennen.
Ich kann auch hier wieder nur von mir sprechen. Mir hilft es sehr, wenn ich mich
verstanden fühle, wenn jemand ein tröstendes Netz spannt, sobald ich
falle, wenn ich das Fell meines Hundes streichle, wenn ich in den Armen eines
geliebten Menschen liege, der beruhigend meine Verzweiflung wegstreichelt, wenn
mir jemand Wertschätzung für mein Bemühen entgegenbringt und
mich daran erinnert, dass ich durchaus eine Existenzberechtigung habe. Manchmal
hilft ein Tränenausbruch, denn er kann im Nachhinein sehr befreiend wirken.
Und dann fange ich all meine Tränen auf und verwandle sie symbolisch in
glitzernde Kristalle, welche ich auf eine lange Optimismus-Kette fädle. Ich trage
bereits unzählige dieser unsichtbaren Ketten um den Hals und wenn jemand
traurig ist, dann schneide ich ein Stück davon ab und knote ihm ein Armband
daraus. Also geschätzter Freund, nimm mal lieber den Strick vom Hals,
glitzernde Armbänder sind schicker!
"Nimm" dir dein Leben.
Nimm es dir nicht weg, nimm es in die Hand!