Hinter den sieben Bergen



Zur Behinderungsverarbeitung

Wie wir uns wahrnehmen, ob wir uns annehmen, mit allen Gesichtern, die wir haben, und ob wir uns selbstbewusst behaupten können, hängt auch davon ab, wie wir lebensverändernde Einschnitte bewältigen. In diesem Beitrag möchte ich die sieben Phasen beschreiben, die wir durchlaufen, wenn wir eine Behinderung "erwerben". Das ist mir deshalb so wichtig, weil wir verstehen müssen, dass diese Stufen auf dem Weg, hin zum erfüllten selbstbestimmten Leben, einfach dazu gehören. Als Beispiel wähle ich die Erblindung, es lassen sich aber auch alle anderen Behinderungsformen einsetzen, die einen betroffenen Menschen aus der so genannten "Bahn" werfen können. Für Sie als Lesende soll erkennbar sein, dass Sie "hinter den sieben Bergen", die als Synonym für die sieben Phasen stehen, wieder Lebenssinn und Freude erfahren werden.

Immer wenn ich mit erblindeten Menschen zum Thema "Behinderungsbewältigung" zusammen kam,

war die Sozialpädagogin in mir unglücklich über die Tatsache, nicht die passende Heilsalbe für die Verarbeitungsschmerzen der Kursteilnehmer, die weibliche Form sei stets eingeschlossen, in der Tasche zu haben. Die Blinde in mir wusste sehr wohl, in welchen Phasen die Betroffenen gerade steckten und was sie da durchmachten, auch wenn ich schon eine andere Blinde war als sie, eine angekommenere. Oft musste ich in meinen eigenen Büchern nachschlagen, mich in Situationen zurücklesen, die ich in den jeweiligen Phasen durchlebt hatte. Mir war bewusst, dass ich irgendwie viel weiter war als die Erblindungsneulinge, ich kannte all diese Gefühle, wusste auch, dass für sie bald alles nicht mehr so schmerzlich sein würde, aber ich fand keinen Rahmen, besagte Prozesse zu erklären. Im Laufe meiner Arbeit wurde ich dann mit dem Modell der Behinderungsverarbeitung konfrontiert und fand mich und meine Teilnehmer in jeder der darin beschriebenen Phasen wieder. Ich bedauerte sehr, dass ich diese Aufbereitungen noch nicht kannte, während ich selbst erblindet war. Ich hätte mich so viel besser verstanden und mich auch besser erklären können. Deshalb ist es mir so wichtig, Menschen, die Veränderungen erleben, das Modell ist nämlich auch auf andere Einschnitte übertragbar, diesen Verarbeitungsverlauf zu skizzieren. Ich kann heute sagen, dass jene ersehnte Heilsalbe, in Form der Bewältigungsphasen, in jedem von uns selbst steckt. Wir müssen ihr nur Zeit geben. Es gibt verschiedene Modelle mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten (etwa die Trauerspirale nach Erika schuchardt), die sich jedoch im Wesentlichen ähneln. In der folgenden Ausführung gehe ich nun näher auf die "sieben Berge" ein und auf das, was Sie dahinter erwartet.

Phasen im Überblick:

  1. Wir sind schockiert
  2. Wir wehren ab und verleugnen
  3. Wir brechen emotional auf
  4. Wir betrauern den Verlust
  5. Wir suchen nach Sinn
  6. Wir nehmen die Schätze mit
  7. Wir orientieren uns neu

Das fühlen wir oft in der ersten Phase:

Wir erleben einen Schock. Wir sind mit einer unfassbaren Diagnose konfrontiert. Wir empfinden Leere, Verwirrtheit, können keine klaren Gedanken fassen, wir sind wie angewurzelt. Wir fühlen uns wie in einem Alptraum, wie in einem schlechten Film. Wir wollen nicht glauben, dass uns das passiert.

Das fühlen wir oft in der zweiten Phase:

Wir wehren ab und verleugnen. Manchmal ignorieren wir die Diagnose oder wir zweifeln sie an. Wir tun so, als wäre alles in Ordnung. Vielleicht fahren wir sogar noch Auto, obwohl das höchst gefährlich ist. Wir machen einfach weiter wie bisher. Wir suchen andere Ärzte auf, in der Hoffnung, dass die es besser wüssten. Mit Hilfsmitteln wollen wir nichts zu tun haben, lieber brechen wir uns die Knochen. Wir benötigen unsere gesamte Kraft für Vertuschungsstrategien, zählen zum Beispiel alle Treppenstufen. Wir überspielen vor den Mitmenschen.

Das fühlen wir oft in der dritten Phase:

Unsere verdrängten Gefühle brechen aus. Wir sind wütend, verzweifelt, aggressiv uns selbst oder anderen gegenüber. Unsere Vertuschung, unser Selbstbetrug funktioniert nicht mehr. Wir werden zornig auf uns oder die böse Welt. Wir sind neidisch, weil andere noch sehen können. Wir haben Angst, fühlen uns gelähmt. Wir erleben Zusammenbrüche. Wir zeigen vielleicht auch Gleichgültigkeit, Apathie, Gefühlsleere, Verzweiflung, Trauer, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Wir fühlen uns unvollkommen oder lästig, werden selbstmitleidig oder weinerlich. Wir sind leicht gereizt, freuen uns über nichts. Alles Schöne ist scheinbar nur für Sehende gemacht. Wir sind deprimiert, können nicht mehr. In dieser Phase kann uns psychologische Hilfe erheblich unterstützen, damit wir nicht auf "dumme Gedanken" kommen.

Das fühlen wir oft in der vierten Phase:

Wir betrauern aktiv, was wir verloren haben. Wir beginnen erst durch die Würdigung unseres Schmerzes auch den Verlust zu akzeptieren und können uns zunehmend von unserem "gestorbenen" Sinn verabschieden. Wir lassen diesem Prozess die nötige Zeit. Vielleicht rufen wir immer wieder Erinnerungsbilder aus dem sehenden Leben ab und entwickeln Abschiedsrituale. Wir wollen viel reden, damit wir loslassen können. Aus dem Verharren wird ein langsames Entwickeln. Wir nehmen unsere Einschränkungen immer mehr an und beginnen zu handeln. Wir kümmern uns um unsere Blindheit, schauen nun weniger schmerzbelastet was noch geht und was wir neu lernen müssen. Wir sagen uns, was alles noch möglich ist und nicht ständig, was nicht mehr da ist. Wir gestalten unser Lebensumfeld der aktuellen Situation angemessen. Wir nehmen Termine wahr, organisieren uns alles Nötige. Wir erkennen, was uns ausmacht, dass wir keine Opfer sind. Unser Umfeld sollte diesen sensiblen Prozess positiv mitgestalten, Verständnis für unsere Wahrnehmung und unsere Bedürfnisse entwickeln und umgekehrt.

Das fühlen wir oft in der fünften Phase:

Wir geben der Blindheit einen Sinn. Wir öffnen durch sie neue Türen, erschließen uns neue Möglichkeiten. Wir befassen uns mit Dingen, die wir vielleicht nie kennen gelernt hätten. Wir treffen vielleicht besondere Menschen, lösen uns von falschen Freunden, trennen uns von Unwichtigem. Wir lernen, Dinge innerlich klarer zu sehen, weil wir uns mit konkreten Lebensfragen auseinandersetzen mussten. Wir haben vielleicht Zeit für neue Hobbies, werden kreativ, entwickeln andere Leidenschaften. Unsere Ansprüche, Wünsche und Bedürfnisse verändern sich möglicherweise. Bei allem was wir tun, sollten wir stets in uns hinein hören und auf ein gesundes Maß achten.

Das fühlen wir oft in der sechsten Phase:

Wir machen uns unser Erbe aus dem sehenden Leben zu nutze. Es gibt Schätze, Menschen und Fähigkeiten, die uns nicht verloren gehen. Alles was noch da ist und uns gut tut, nehmen wir mit. Manches wird uns auch beim Erlernen eines neuen Berufes helfen. Wir kennen die Welt der Blinden und der Sehenden und haben nun einen sehr weiten Horizont. Wir können einen großen Teil unseres alten Wissens retten und mit neuem kombinieren. Das können wir als besondere Kompetenz betrachten. Wir sind Mittler zwischen den Welten und können auch selbstbewusster und souveräner auftreten.

Das fühlen wir oft in der siebten Phase:

Wir haben einen Ausweg aus der Krise gefunden. Unser Leben ist neu organisiert. Wir können glücklich mit unseren Grenzen und Möglichkeiten leben, manchmal sogar Grenzen verschieben. Wir haben neue Räume betreten und zahlreiche innere Lichtschalter entdeckt. Wir sind nicht passiv leidend sondern aktiv gestaltend. Wir fühlen uns erfüllt und selbstbestimmt.

Die sieben Phasen müssen nicht zwingend genauso verlaufen. Einige davon können übersprungen oder parallel erlebt werden. Manchmal fallen wir in eine Phase zurück oder bleiben stecken. Bei fortschreitenden Sehbehinderungen, die zwischenzeitlich stagnieren, kann die Verarbeitung nach jedem neuen Schub von vorn beginnen. Auch zusätzliche Einschnitte, wie die Trennung eines Partners, der Verlust eines Arbeitsplatzes oder weitere Erkrankungen können dazu führen, dass wir zurückfallen. Unsere Reaktionen sind normal und alle Menschen, die unerwünschte, gravierende Veränderungen verarbeiten müssen, tun dies in charakteristischen Phasen. Sie sind also mit ihren Gefühlen nicht allein. Nehmen Sie sich in jeder Phase liebevoll an und verstehen Sie, warum Sie gerade so denken. Ich darf Ihnen verraten, Blindheit ist nicht schlimm, das ist sie nur, solange Sie sie schlimm finden. Dass Sie das anfangs tun dürfen ist wichtig, das gehört zur Verarbeitung und ich würde mich eher um Sie sorgen, wenn Sie gleich mit Phase sieben beginnen würden. Würdigen Sie Ihren Schmerz und lassen Sie ihn anschließend in Ruhe heilen. Das kann er nämlich nur dann. Haben Sie Geduld mit sich und lassen Sie Ihren Verarbeitungsphasen wirklich die Zeit, die sie brauchen.

Wenn Sie Beratung zu diesem Thema suchen und sich mit Unterstützung auf Ihre persönliche Entwicklungsreise begeben möchten, empfehle ich Ihnen die Seite: www.Captain-Handicap.de