Abschied von der "Sensorischen Welt"

Bereits innerhalb der Praxissemester, während meines Sozialpädagogikstudiums, zeichnete sich ab, dass das Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte in Halle einmal mein berufliches Zuhause sein würde. Das war im Jahre 2000 und ich war blutjunge Praktikantin. Seither durfte ich als Mitarbeiterin in der "Sensorischen Welt" unzählige Konzepte entwickeln und umsetzen, Seminare gestalten, Rehabilitanden und Gäste des Hauses begrüßen. Ich bin dankbar für all die wertvollen und inspirierenden Begegnungen.

Viele Jahre gab es im wahrsten Wortsinn "nichts zu sehen", denn wir trafen uns in vollkommener Dunkelheit und das sorgte nicht selten für einen echten "Sinneswandel". Sehenden ermöglichte ich lebenspraktische Einblicke in die Wahrnehmungswelt blinder und sehbehinderter Menschen und half dabei, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen. Mit Betroffenen arbeitete ich daran, ausgleichende Sinnespotentiale zu schärfen und zu schulen und selbstbestimmt mit der eigenen Behinderung umzugehen. So entdeckten wir gemeinsam die farbenfrohe Vielfalt des Unsichtbaren und verstanden einander blind.

Besonders freute ich mich über die Zuschriften und Erfahrungsberichte, die mich oft nach unseren Veranstaltungen erreichten. Wer kann den Zauber eines "Sinneswandels" besser beschreiben, als die Besucher selbst? Eine der besonderen Schilderungen möchte ich meinen Lesern gern zur Verfügung stellen. Ein großes Dankeschön an Claudia Buchholz für die bunten Worte und ihr Einverständnis zur Veröffentlichung. Gleichzeitig möchte ich mich nun, nach 16 Jahren, von der "Sensorischen Welt" und dem BFW Halle verabschieden, um genau der Mensch bleiben zu können, für den mich meine Gäste geschätzt haben.

Foto: Frau Sonntag am Telefon von Frank Schumann

Erfahrungsbericht
Von Claudia Buchholz

Ich hatte schon lange den Wunsch, mir dieses Erlebnis zu gönnen. Wie es sich wohl anfühlt, nichts mehr sehen zu können? Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, wie dort die Simulationen gestaltet sein würden. Aber das ist ja gerade das Schöne, nicht zu wissen, was auf einen zukommt und sich dennoch darauf einzulassen.

Mir wurde beschrieben, wo ich hinzugehen hätte und dass eine Frau Sonntag mich dann in Empfang nehmen würde.

Ich bin also guter Dinge zum Termin gestiefelt. Es hatte geschneit und es war wieder einmal ein so unglaublich trüber und düsterer Tag. Das ging nun schon seit Wochen so. Die Sonne war überhaupt nicht mehr zu sehen und jeder Tag war dunkel und grau. Das Ganze schlug mir schon lange sehr aufs Gemüt – un-GEMÜTlich halt.

Als ich dort ankam, hörte ich, wie jemand eine Tür mir gegenüber aufschloss und heraus trat Frau Sonntag. Eine große, schlanke Frau und eine sehr attraktive Erscheinung: Anfang 40, komplett in Schwarz gekleidet, in einem hübschen Strickkleid mit Stiefeln. Ihre langen dunklen Haare fielen auf ihre Schulter. Eine knallrote Baskenmütze bildete den absoluten Blickfang. Das einzig Weiße - der Blindenstock. Sie begrüßte mich sehr freundlich und bat mich mit angenehm-ruhiger Stimme, ihr zu folgen.

Foto: Frau Sonntag unterm Sternenhimmel von Frank Schumann

Während sie mit leichten Schritten und ihrem Stock vor mir her ging, fiel mir auf, wie anmutig und sicher sie sich bewegte. Beim Abbiegen strich sie mit der Hand über die weiße Wand und ich bemerkte ihren knallroten Nagellack. Wow, eine blinde Frau, die Wert auf ihre Optik und Wirkung nach außen legt. Toll.

Wir gingen gemeinsam in einen kleinen Raum mit ca. 5 Stuhlreihen à 6 Stühlen. Wie im Kino. Ok, dachte ich, dann ist wohl doch nix mit Irrgarten, so wie ich es von anderen gehört hatte. Na gut, dann sitze ich halt und bekomme sicher Geräuschanimationen vorgespielt. Frau Sonntag stand an der Tür und ich setzte mich hin. "So", meinte sie, " ich mache jetzt das Licht aus und Sie gewöhnen sich erst einmal an die Dunkelheit, bevor wir durch den Parkour gehen."

Nun wird es stockdunkel und wirklich nirgendwo fällt ein Fetzen Licht herein. Es ist mir nicht unangenehm. Wir unterhalten uns weiter und meine Sinne gewöhnen sich langsam an die Situation. Meine Augen sind offen, aber haben nichts zu tun. Ich mag solche Momente. Ein Sinnesorgan wird vollkommen ausgeblendet und die anderen Sinne sollen und dürfen nun mehr wahrnehmen.

Nach einigen Minuten Smalltalk fordert mich Frau Sonntag auf, zu der Tast-Wand zu gehen. Hier finde ich an einer Wand Vertiefungen, in denen ich verschiedene Gegenstände aus verschiedensten Materialien erfühlen soll. Sie würde in der Zwischenzeit den Raum vorbereiten, durch den ich dann gehen soll. Gut, ich taste mich zu der besagten Wand und lege los. Es gibt 12 Löcher in der Wand. Ich stecke beherzt meine Hand in die einzelnen Löcher und taste: ein Küchensieb, einen flauschigen Mantelgürtel, einen Apparat mit Kabeln, Steine, Kastanien, einen Teddy, ein großes Holzstück und solche Dinge. Nebenbei höre ich, wie Frau Sonntag den Raum verlässt und nach nebenan geht. Dann vernehme ich einige Geräusche. Wasser, Poltern und sie schaltet einige Dinge an. Ich bin sehr gespannt, was auf mich zukommt.

Aber zuvor soll ich Frau Sonntag beschreiben, was ich in der Tast-Wand entdeckt habe. Ich zähle auf, was dort alles versteckt war. Sie bestätigt mir, dass ich ein sehr sensibler und feinfühliger Mensch bin. Darüber freue ich mich sehr, denn genauso hätte ich mich auch beschrieben. Sie meint, es gäbe Menschen, die da so durchpoltern und bei den Dingen, die ertastet werden sollen, gar nicht wissen, was genau sie da in den Händen halten. Sie sagt, gerade Kinder in ihrer Plastikwelt haben es oft verlernt, zu fühlen, zu tasten. Sie können Steine von Hölzern nicht unterscheiden. Sie haben Probleme beim Berühren, Fühlen und Spüren. Wie traurig ist das. Gerade Kinder, die uns Erwachsenen doch da so viel voraus haben sollten, da sie noch nicht so zugemüllt sind und nur rational an die Dinge heran gehen, gerade Kinder haben hier schon Defizite.

Wie schön und wertvoll ist es, wachsam durchs Leben zu gehen, immer zu fühlen und zu spüren, was um einen herum geschieht. In meinem Lieblingsfilm heißt es: "Es ist nie nichts los." In jedem Moment passiert um uns etwas: Geräusche, Düfte, Temperaturveränderungen….

Der Raum ist nun für mich vorbereitet. Ich taste mich in völliger Dunkelheit nach nebenan und erwarte meine Aufgabenstellung. "Sie beginnen mit dem Parkour im Wald. Ihre Aufgabe ist es, vom Wald in das Dorf und dann in die Stadt zu gehen. Dort bildet ein Springbrunnen auf dem Marktplatz das Zentrum. Da ist Ihr Ziel.", erklärt Frau Sonntag. Den Brunnen höre ich bereits weit entfernt plätschern. "Ich bleibe immer in Ihrer Nähe und lasse Sie nicht allein", sagt sie beruhigend zu mir.

Gut, dann geht es los. Ich spüre unter meinen Füßen einen weichen Boden, es duftet nach Wald und ich höre Vogelgezwitscher. Da ein Käuzchen und ein Knarren, dann irgendwann eine Kettensäge. Steine unter meinen Füßen geben mir Halt. Ich fühle mich sicher und gut. Der Boden ändert sich und plötzlich höre ich einen Schrei. Ich kann ihn nicht deuten und bin sehr erschrocken. "Sind Sie in der Nähe?", frage ich verunsichert. Frau Sonntags Stimme beruhigt mich und dann erkenne ich auch, dass es Hundegebell sein soll. Ich entspanne mich wieder etwas und gehe weiter meinem Ziel entgegen….

Meine Gedanken danach

Es ist wichtig, wirklich einmal inne zu halten, alles vorurteilsfrei auf sich wirken zu lassen. Es ist schön und wichtig, loszulassen und sich der Situation zu stellen, nicht mehr sehen zu können. In diesen Momenten bin ich so voller Dankbarkeit und verweile in Demut. Die Erfahrung, seinen Sinnen zu vertrauen und sich zu vertrauen, ist unendlich wertvoll. Jemandem zu vertrauen, sich auf eine Situation einzulassen und zu vertrauen, ohne zu wissen, was genau einen erwartet.

Schön ist es, dann jemanden an seiner Seite zu haben, wie bei mir Frau Sonntag. Ich wusste, sie ist da und ich bin nicht allein. Ich wünsche jedem Menschen eine "Frau Sonntag" an die Seite. Für den einen ist es Gott, für den anderen ist es etwas und jemand anderes, an dem er sich festhält: der Partner, die Eltern, Freunde, der Glaube an jemanden, an etwas, der Glaube an sich selbst. Einfach losgehen, mit diesen Sicherheiten, das ist spannend.

Parkour - ist unser ganzes Leben nicht ein Parkour?

Wir wissen doch so oft nicht, was uns hinter der nächsten Tür, Ecke, Kreuzung erwartet. Wir tasten uns so durch, stolpern, straucheln, landen in einer Sackgasse. Wer nimmt schon bewusst wahr, was noch so um ihn herum passiert. Die Momente sind so gefüllt mit Düften, Geräuschen, Geschmack, doch wir rennen einfach so herum und bekommen oft nur so wenig von diesen Dingen mit.

Wie fühlt sich der Boden an, über den wir gehen? Welche Temperatur spüren wir? Wie fühlt sich die Situation an? Ist mir unwohl dabei, oder fühle ich mich dennoch sicher auf meinem Weg. Was höre ich? Was fühlen meine Hände, ist da ein Hindernis? Sich auf Situationen einlassen. Vertrauen, sich, dem Weg und demjenigen, der bei einem ist. Loslassen. Einfach losgehen, du siehst ja sowieso nichts, also brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen, was kommt. Das hilft dir in dieser Situation überhaupt nicht. Im Hier und Jetzt sein. Sich auf seine Sinne verlassen. Sie spüren und den Weg bewusst gehen.

Ich spürte keine Angst. Was mich eher verunsichert, sind Schreckmomente. Der helle Schnee draußen auf der Straße reflektierte. Ich war total geblendet. Noch kurze Zeit zuvor kam mir der Tag so dunkel vor und nun wirkte alles viel heller…

Ich hatte nur noch den Wunsch, einen Kaffee zu trinken, Musik zu hören und Zeit zu haben, die Eindrücke zu verarbeiten. Ein Luxus- sich Zeit nehmen zu können, um das Erlebte sacken zu lassen. Man muss und sollte es nicht sofort bearbeiten oder gar bewerten. Warum? Ist es nicht schön, einfach mal das Gefühl und den Eindruck wirken zu lassen? Was und wie fühle ich, was passiert da gerade in mir und mit mir.

Eine berühmte Dame hat einmal gesagt, in Momenten, in denen ihr etwas Außergewöhnliches passiert, stellt sie sich grundsätzlich erst einmal die Frage: "Wie finde ich denn das?". Somit behält sie sich immer die Freiheit, nicht sofort zu urteilen und zu beurteilen.

Das ist Freiheit! Ich allein entscheide, wie ich die Dinge an mich herankommen lasse und wie ich sie bewerte. Ich allein lege die Bedeutung dieser Ereignisse für mein Leben fest. Niemand anderes. Ob ich an Herausforderungen wachse oder scheitere, das entscheide ich allein.

Hinterher den Weg betrachten

Mein Freund Branko sagte einmal, das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Das war genau DAS.

Im Anschluss knipst Frau Sonntag das Licht an und ich kann alles genau betrachten. Ich bin überrascht, wie sich meine Wahrnehmung von der Wirklichkeit unterscheidet. Der Parkour ist liebevoll gestaltet, aber viel kleiner als gefühlt. Ein Geschirrtuch über der Leine hat mir vorhin wie ein schwerer Vorhang den Weg versperrt. Jetzt, während ich das schreibe, muss ich schmunzeln. Ist nicht im Nachhinein so manches scheinbar unüberwindbare Hindernis in unserem Leben eigentlich auch nur ein Geschirrtuch, was da so auf der Leine im Wind baumelt?

Das Ziel, der Brunnen auf dem Marktplatz in der Stadt. Ich höre ihn ganz oft, bin oft in der Nähe und doch scheint er weit entfernt, mit Hindernissen dazwischen. Als ich meine, direkt vor ihm zu stehen, strecke ich meine Hände aus – ins Nichts. "Werden ihre Hände denn schon nass?", fragt Frau Sonntag. "Nicht? Na dann sind Sie auch noch nicht ganz angekommen." "Hm", denke ich, " ich kann ihn doch so deutlich hören." Dann drehe ich mich und gehe noch eine Stufe hoch. Da fühle ich einen frischen Windhauch und es plätschert nun ganz dicht.

Ziel erreicht….