Schwarzes Tuch
(Dirot)
Nimm das schwarze Tuch
Binde es vor deine Augen
Es ist die Eintrittskarte in meine Welt
Sagte sie
Nimm das schwarze Tuch
Und du wirst die Sonne
Auf die Art sehen, wie ich sie sehe
Sagte sie
Für sie ist jeder Tag
Als ob sich Sonne und Mond berühren
Trotzdem sieht sie mehr, als wir
Nimm das schwarze Tuch
Und du wirst Vertrauen lernen
Vertrauen in dich selbst
Sagte sie
Nimm das schwarze Tuch
Und du wirst in das Innerste sehen
So wie die Menschen wirklich sind
Sagte sie
Für sie ist jeder Tag
Als ob sich Sonne und Mond berühren
Trotzdem sieht sie mehr, als wir
Ich tat es
Sah, die Bilder hatten schon immer gelogen
Warf sie zu Boden, kein Tag zu früh
Und sie hat keine Hand gerührt
Als meine Welt in Scherben fiel
Tritt ein, lieber Leser, und fühl dich eingeladen. Nimm Platz auf meinem berühmt
berüchtigten Ohrensessel mit dem Lammfell und lehn dich zurück. Wenn du
wüsstest, wer hier schon alles gesessen hat … Ich hoffe, die Raumtemperatur ist dir angenehm.
In der Aromalampe verdampft extra für dich ein sinnliches Duftgemisch mit dem
vielversprechenden Namen "Carpe Noctem". Das Thema, welches wir zu besprechen
haben, passt schließlich auch besser in die geheimnisumwobene Nacht. Welche Musik soll ich
auflegen? Lass uns etwas Klassisches hören. Sieh mal, ich habe uns eine Flasche Wein
bereitgestellt. Bedien dich ruhig. Ich habe die bordeauxfarbenen Kristallgläser gewählt, sie
liegen gut in der Hand. Nimm den ersten Schluck und scheu dich nicht, mir all die Fragen zu stellen,
die dich zu mir geführt haben am heutigen Abend. Ich habe dir versprochen, dass du kein Blatt
vor den Mund nehmen brauchst, denn ich weiß es zu schätzen, wenn jemand sein Anliegen
offen ausspricht. Wir sind ja unter uns …
Ausgerechnet die Fragen, die den meisten Sehenden am brisantesten unter den Nägeln
brennen, werden aus falscher Scham nicht mir, sondern den Menschen in meinem Umfeld gestellt,
weil man mir ja nicht zu nahe treten will. Und wer sich mit seiner Neugier auch an mein Umfeld nicht
herantraut, beantwortet sich die brennenden Fragen selbst, irgendwie, aber dies meist falsch. Du,
lieber Leser, wirst jenen Fehler nicht machen, denn du bist der Einladung zu unserem "Blind
Date" gefolgt. Und nun legen wir sie auf den Tisch, die Rätsel, die sich rund um die wohl
größte Triebfeder des menschlichen Daseins ranken. Du fragst mich, ob ich einen Partner habe
und ob er auch blind ist. Falls er nicht blind ist, willst du wissen, wie er mit meinem Handicap umgeht,
wie ich ihn kennengelernt habe, ob ich ihn jemals gesehen habe. Wenn ich ihn kennengelernt habe,
als ich bereits blind war, erkundigst du dich danach, woher ich denn überhaupt wissen kann, wie
er ausschaut, ob er mein Typ ist, woher ich generell weiß, ob jemand attraktiv ist oder nicht. Wenn ich
dir sage, dass ich im Laufe der Beziehung erblindet bin, fragst du mich, ob mein Partner deswegen
über Trennung nachgedacht hat. Tat er es nicht, hast du großen Respekt vor ihm, weil er
trotzdem mit mir zusammengeblieben ist. Hat er mich allerdings erst weit nach meiner Erblindung
auserwählt, wirst du dich fragen, ob so ein sehender Mann vielleicht einen Helferkomplex hat,
wenn er sich auf eine blinde Frau einlässt. Keine deiner Fragen nehme ich dir übel, denn
du stellst sie mir interessiert und lässt dich nicht spekulierend hinter meinem Rücken
über mein Privatleben aus.
Ich werde dein verheddertes Fragenknäuel der Reihe nach mit dir gemeinsam aufdröseln
und du brauchst nicht peinlich berührt sein und gar rot zu werden … Letzteres sehe ich ja
ohnehin nicht … Also, lass uns beginnen …
Am Anfang steht natürlich das Kennenlernen. Schon hier baut sich eine Hürde auf.
Kontakte zu knüpfen heißt Flirten und Flirten ist ein Phänomen, welches von der visuellen
Kommunikation, also von Augenkontakt und sichtbarer Körpersprache, dominiert wird. Es ist
also wenig erfolgversprechend, wenn ich mich in irgendeine Disco setze um die männlichen
Leckerbissen anzuzwinkern, die sich vor mir auf der Tanzfläche präsentieren. Ich weiß ja
gar nicht, dass sie existieren. Erschwerend kommt hinzu, dass Lärm bekanntermaßen alles
andere als konzentrationsfördernd ist, und ich kann in solchen Situationen mein fehlendes
Sehen nicht einmal mit den Ohren ausgleichen. Die Stimmen der Leute kann ich durch die laute Musik
oft nicht fixieren. Ich befinde mich dann akustisch in einem unberechenbaren Fliegenschwarm,
welcher mich taub-blind macht und mich kommunikativ vollkommen abschneidet. Ein Austausch
kommt hier unter den Sehenden meist nur deshalb zustande, weil man sich gegenseitig optische
Signale sendet. Was die Ohren in der Lärmkulisse überhören, können die
Augen abfangen. Werde ich jedoch angesprochen, dringt dieser Annäherungsversuch oft gar
nicht erst in mein Bewusstsein, weil die Anrede im Krach untergeht und weder die Sprechrichtung
noch die Sprechentfernung für mich klar herauszufiltern ist. Könnte ich sehen, würde
ich erkennen, dass jemand interessiert vor mir steht und mich anvisiert, da er sein Gesicht auf mich
richtet und mir möglicherweise ein Getränk anbietet. Da mir meine Blindheit nicht sofort
anzusehen ist, kommt es nicht selten zu Missverständnissen, weil ich einen
"Kontaktknüpfer" ungewollt vollkommen ignoriere, wenn er sich optisch in Szene
setzt. Im besten Falle wird er mich unnahbar finden und im schlechtesten Fall für vollkommen
arrogant halten und zurücklassen. Weiß er aber im Vorfeld, dass ich nicht sehen kann, ist in der
Regel die Berührungsangst so hoch, dass er es nicht wagt, einen Schritt auf mich zuzugehen.
Selbst wenn er es wollte oder den Mut aufbringen würde, hätte er noch immer keine
Ahnung, wie er es am günstigsten anstellen soll.
Meistens läuft das dann so ab, dass sich der Interessierte, sobald ich den Club verlassen habe,
an Freunde von mir heranpirscht, um sie über mich zu interviewen. Die Rettung ist in einem
solchen Fall oft die virtuelle Interaktion, da die Schüchternen unter den Bewerbern sich,
ausgestattet mit meiner E-Mailadresse, häufig im Nachhinein in Schriftform an mich wenden.
Nicht selten landet dann ein elektronisches Brieftäubchen in meinem Computer und ich lese
Zeilen wie: "Hi, hab dich gestern da und da gesehen, hab mir aber nicht getraut, dich
anzusprechen, hab deine Mailaddi von dem und dem bekommen." Und wenn sich der Mutige
mir gegenüber auf dem Schriftweg mehr oder weniger weit aus dem Fenster gelehnt hat, treffe
ich mich dann in einer mir bekannten Umgebung mit ihm. Es verunsichert mich , wenn ich mich in
fremden Gefilden einem unbekannten Mann anvertrauen soll. Erleichternd kommt hinzu, dass ich in
einer mir vertrauten Umgebung relativ selbstständig handeln kann, und der Typ nicht in die
Situation gerät, mir unbeholfen und vollkommen überfordert irgendwelche Hilfestellungen
leisten zu müssen. Kennt man sich besser, ist das kein Problem. Dann scheue ich mich auch
nicht davor, mich in einer Gaststätte von meinem Begleiter zur Toilette führen zu lassen.
Einige Männer haben es sich zur Gewohnheit gemacht, über meine sehende
Begleitperson an mich heranzutreten. Sie nehmen dann erst mal das Gespräch mit jenem
Dritten auf, um sich mit ihm über mich zu unterhalten, während ich daneben sitze. Klinke
ich mich dann ein, finden wir langsam zueinander. In der nächsten Situation trauen sich solche
Gesprächspartner aber wieder nur über meine Begleitung in meine Nähe, um mir
mitzuteilen, dass sie mich inzwischen schon mindestens dreimal irgendwo erblickt haben, aber ich sei
alleine gewesen, und sie hätten nicht gewusst, ob ich angesprochen werden wolle. Solche
Momente machen mich sehr traurig. Bestimmte Leute treten immer nur dann in meine Welt, wenn sie
einen sehenden "Dolmetscher" ausfindig machen können, der ihre
Berührungsängste überbrückt. Ich komme mir oft wahnsinnig allein vor, da ich
zwar unter Dutzenden bekannter Menschen bin, die mich jedoch nicht ansprechen. Dann fühle
ich mich wie ein ausgestoßener Engel, der nicht in ihrem Reigen mittanzen darf. Ich komme mir vor
wie hinter einem Schaufenster, in das alle hinein, ich aber nicht herausschauen kann. Einige
Kandidaten tippen mich auch einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen, und erwarten, dass ich sie
erkenne; andere reichen mir lautlos die Hand und wundern sich, dass ich nicht reagiere. Ist ein
vermittelnder Sehender in der Nähe, kann er dem Gehemmten hin und wieder anleitend
über die Hürde hinweghelfen, indem er mir z. B. sagt: "Vor dir steht Marc, er
möchte dir gern die Hand geben." Damit erzieht man den Ängstlichen allerdings zur
Bequemlichkeit, da er sich auf der sozialen Handlungskompetenz eines anderen ausruht.
Ich empfehle den berührungs-phobischen Männchen dann immer, sich vorzustellen wie es
ihnen erginge, wenn ich sie mit verbundenen Augen in einen lauten Club setzen würde. Auch
du, lieber Leser, kannst ruhig einmal versuchen, dich in eine solche Szenerie hineinzudenken. Du
wirst schnell einige hilfreiche Ideen für den angemessenen Umgang mit einem nicht Sehenden
entwickeln. Ich möchte einfach so behandelt werden, wie du gern behandelt werden
würdest, in meiner Lage. Spricht dich niemand an, wirst du dich einsam fühlen, dein
Selbstbewusstsein wird leiden, weil du dich isoliert fühlst. Die Besitzer der dich umgebenden
Stimmen kommen nicht auf dich zu, weil sie sich nicht trauen. Du hingegen kannst die Unsichtbaren
deinerseits nicht kontaktieren, da du sie nicht sehen und auf sie zugehen kannst. Hörst du eine
Frage oder Begrüßung ohne direkte Anrede, wirst du nicht wissen, ob du gemeint bist, wirst dich
vielleicht sogar irrtümlich in ein fremdes Gespräch einmischen, im Glauben, du seiest der
Angesprochene. Bist du dann aber wirklich gemeint, wirst du vielleicht schweigen, weil dir der Sender
nicht klar zu verstehen gibt, dass du der Empfänger bist. Ich vermute mal, du wärst
wahnsinnig glücklich und erleichtert, wenn dich jemand beim Namen nennt oder dir seine Hand
auf die Schulter legt, sich gut wahrnehmbar vorstellt und dir wegen der lärmenden Kulisse so
lange ins Ohr brüllt, bis du sein Anliegen verstanden hast. Ich jedenfalls bin sehr dankbar, wenn
die Leute einen zweiten Versuch starten, falls ich sie beim ersten überhört habe.
Orientierender Körperkontakt ist hilfreich. Bringt mir z. B. jemand ein Glas Wein, ist es sinnvoll,
es nicht einfach unbemerkt vor mich auf den Tisch zu stellen um zu warten, bis es zu Essig wird,
sondern es mir mit einem aufschlussreichen Kommentar in die Hand zu drücken.
Rätselraten ist wahnsinnig unentspannend. Wenn ich ständig auf der Lauer nach für
mich nicht eindeutig wahrnehmbaren Signalen liegen muss, dann sind zwei Stunden Party für
mich unter Umständen Schwerstarbeit und alles andere als feierabendliche Entspannung. Oft
erfahre ich erst hinterher, wer alles da war, wer mich interessiert oder uninteressiert angeschaut hat,
was um mich herum passierte. Für mich entsteht also im Nachhinein oft ein vollkommen anderer
Eindruck von einer Situation. Da ich weder Blicke senden noch ernten kann, kann ich mich und
meinen "Marktwert" schwer kalkulieren, denn ich erkenne nicht, wie ich wirke. Die
Chancen, welche sich für eine sehende Frau ergeben, kann ich also in diesem Rahmen gar
nicht erst ergreifen, da ich nicht um meine Möglichkeiten weiß und keinen
Anknüpfungspunkt finde.
Selbst wenn ich im Vorfeld darüber informiert bin, dass ein Typ da ist, für den ich mich
interessiere, durchschaue ich die Rahmenbedingungen nicht, sehe nicht, mit wem er da ist, wie er
drauf ist, wann ein günstiger Moment zum "Anbeißen" wäre. Manchmal ist eine
Freundin hilfreich, die mir seine Körpersprache übersetzt. Schon häufig haben
Freundinnen mein Bild korrigieren müssen, welches ich mir von einer Situation gemacht hatte.
Wenn ich z. B. glaubte, ein Mann sei vollkommen uninteressiert, beschrieben sie mir seine neugierigen
Blicke und sein aufmerksames nonverbales Verhalten im Bezug auf mich. Umgekehrt funktioniert
dieses Prinzip allerdings auch. Einer meiner auserkorenen Traumexemplare vermittelte mir mit seinem
Händedruck und seiner Stimme großes Interesse, soll aber, laut Aussage meiner Freundin, bei
der Begrüßung total an mir vorbeigeschaut haben, einer anderen Lady mit kurzem
Röckchen hinterher. Natürlich wähle ich mir in solchen Fällen nur Freundinnen
aus, denen ich absolut vertrauen kann. Eine blinde Frau erzählte mir einmal, dass ihre sehende
Bekannte sie als Instrument bemühte, um Männer kennen zu lernen, in der Rolle der
Aufopfernden. Interessierte sich dann ein Herr für die Blinde, wusste die Sehende dies zu
unterbinden, indem sie einfach falsche Informationen weitergab, um sich den Süßen dann selbst
zu angeln.
Natürlich gibt es auch Kandidaten, die sehr schnell über ihren Schatten springen. Nicht
selten sind allerdings unter diesen "kontaktfreudigen" Anbändlern besonders
aufdringliche Herren, die entweder der untersten Schublade oder einer erheblich höheren
Altersklasse entspringen. Da diese oft komplexbehafteten Exemplare sich nicht an eine sehende Frau
herantrauen, sind sie im Glauben, sich "wenigstens" einer Blinden gegenüber
vollwertig fühlen zu können. Oft vermuten sie, ich habe noch nie einen Mann gehabt und
würde ausgerechnet auf sie warten, um mir zeigen zu lassen, was sie so drauf haben. Manche
unter ihnen stehen wiederum auf diese Opfer-und-Jäger-Spielchen und spekulieren auf die
Wehrlosigkeit einer nicht sehenden Frau. Sie wollen einen als Reh im Tigerkäfig. Wieder andere
sind fasziniert von der Aura der Blindheit und wollen von der Andersartigkeit kosten. Oft werden
solche Leute handgreiflich und verderben einem den Tag. Das passiert in der Straßenbahn, im Park,
in Kneipen, vor der eigenen Haustür und hartnäckige Stalker besuchen einen sogar am
Arbeitsplatz. Hier ist die uneindeutige Körpersprache blinder Frauen der Übeltäter.
Eine sehende Lady würde bestimmte Abwehrsignale schon aus der Distanz senden und von
Vornherein die Fronten klären. Ich bemerke den Zudringlichen aber meist erst dann, wenn er
bereits meine Grenzen überschritten hat. Setzt sich z. B. jemand neben mich und fixiert mich,
bleibe ich unbeeindruckt sitzen, da ich seine Blicke schlecht bemerke. Eine sehende Frau würde
aufstehen oder ein Stück wegrücken. Nähert sich der Zudringliche dann mit der
Hand, weiche ich noch immer nicht zurück, da ich ihn erst bemerke, wenn er mich bereits
berührt. Wenn ich die Anwesenheit eines Menschen erst aufgrund seines Atems registriere, ist
er schon viel zu nah, und ich befinde mich unfreiwillig in seinem Bann. Auch Verfolger, die
zunächst aus der Distanz agieren, kann ich mangels visueller Kontrolle nicht erkennen und
führe sie oft unwissend bis zu meiner Haustür. Manche Männer akzeptieren nicht,
dass ich sie, nachdem sie mir über die Straße geholfen haben, auch gern wieder loswerden
würde. Ich diskutierte diese Problematik häufig mit blinden und sehbehinderten Frauen. Es
gibt immer wieder Geschichten, die ich hier nicht theatralisch erwähnen möchte, die aber
zutiefst erschüttern. Nur dieses eine Beispiel: Eine blinde junge Frau stieg im falschen Glauben,
es sei das gerufene Taxi, in einen Privat- PKW. Sie erlebte eine Spritztour des Grauens, denn der
falsche Taxifahrer fuhr sie in irgendeine Wohnung, bestellte sich noch ein paar Freunde und filmte die
aufgezwungenen sexuellen Handlungen an der wehrlosen Frau. Aber er besaß den
"Anstand", sie an die Stelle zurückzufahren, an der er sie aufgegriffen hatte, zeigte
ihr sogar noch ihre Orientierungskante am Bordstein. Die Polizei konnte mit den Angaben einer
Blinden wenig anfangen, da die Körpergerüche der Täter, deren fragmenthafte
Tasteigenschaften und der Klang ihrer Stimmen incl. Wortwahl weniger hilfreich waren als es die
Farbe des Wagens, die Aufschrift des Nummernschildes oder die äußere Erscheinung der
Männer gewesen wären. Sie hatte zwar jede Stufe des Treppenhauses gezählt, in
das man sie entführt hatte, aber sie konnte den Ort des Geschehens eben nicht nach optischen
Anhaltspunkten rekonstruieren.
Nun, lieber Leser, ich wollte dir nicht die Laune verderben. Keine Sorge, du brauchst keinen
Verfolgungswahn zu entwickeln. Ich sperre mich schließlich auch nicht im Keller ein, nur weil es leider
immer mal wieder ein unangenehmes Erlebnis mit einem noch unangenehmeren Weggefährten
gibt. Wäre ja auch irgendwie schade, wenn ich mich nur noch im grauen Schlabberlook nach
draußen traue, um mich als Frau unkenntlich zu machen. Ja, streng genommen könnte man
schon hin und wieder paranoid werden, so als gebranntes Kind, aber ich will mir meine
Lebensqualität wahren.
Lehn dich zurück, geschätzter Gast, und sprich mit mir noch ein wenig über das
Kennenlernen. Wo lernst du denn gewöhnlich deine Partner kennen? Es gibt unzählige
Situationen, in denen es passieren kann, und so geht es auch uns blinden Leuten. Es muss ja nicht
immer dieses klassische Beispiel in der Disco sein, welches ohnehin eher für
Äußerlichkeiten geschaffen ist. Sehr wahrscheinlich ist es doch, sich durch Freunde oder
Bekannte, durch Geschäftskontakte, durch gemeinsame Hobbys, durch Anzeigen oder
über das Internet kennen zu lernen, vielleicht auch im Urlaub, beim Bäcker, im
Wartezimmer oder an der Bushaltestelle. Wo die Liebe hinfällt, kann niemand von uns so genau
bestimmen. Leider gibt es auch unter blinden Menschen sehr einsame Seelen, denen ich von ganzem
Herzen einen lieben Schatz wünsche. Die Umstände machen es manchem nicht so
einfach. Es kommt immer darauf an, was für eine Person man ist, wo man sich bewegt, wie aktiv
man ist, mit welchen Leuten man verkehrt, welche Möglichkeiten sich einem bieten und welche
Herausforderungen man selbst sucht.
Ich habe meine Partner meist durch Freunde kennen gelernt, auch nach meiner Erblindung. Woher ich
weiß, wie der jeweils Auserkorene aussieht? An dieser Stelle kommt wieder die beste Freundin ins
Spiel. Bin ich irgendwo unterwegs, um interessanten Männern zu begegnen, ist auch oft eine
Person an meiner Seite, die mir so das ein oder andere "Exemplar" beschreibt. Meinen
letzten Wunschkandidaten beispielsweise erachteten fünf Freundinnen als optisch geeignet.
Den entscheidenden Eindruck verschaffe ich mir allerdings unabhängig davon. Ich wähle
ja meinen Partner nicht nach dem Geschmack meiner Freunde aus. Aber es tut schon gut zu wissen,
dass ihn andere Frauen auch irgendwie schnuckelig finden. Hinzu kommt, dass ich aus meiner
sehenden Zeit eine ganze Menge an Vorstellungen oder Ansprüchen mitgenommen habe, die
ich nach meiner Erblindung nicht ablegte. Ich stand vorher nicht auf solariumgegrillte, bodygebuildete,
blonde Lackaffen mit dicken Autos und ohne Hirn (mit Hirn wäre schon wieder was anderes).
Warum sollte ich das also jetzt tun? Natürlich sind einige Attribute seit ich blind bin
entscheidender geworden, und andere unwichtiger, aber grundsätzlich gehe ich nach meinem
gewohnten "Beuteschema" vor. In dieses Schema spielt die Stimme, die Intelligenz, die
Ausstrahlung, das Outfit, die Figur, die Frisur, das Gesicht und nicht zuletzt auch der
Körpergeruch mit hinein. Was die Augen nicht sehen, müssen die anderen Sinne
erkunden. Da diese wesentlich tiefer greifen, gelingt es einem blinden Menschen auch ohne optischen
Analysator, die Erscheinung eines anderen zu inspizieren. Leidenschaft ist Sinnlichkeit und ist nicht
allein an die Augen gebunden. Im Gegenteil, wer sich wirklich fallen lässt, schließt die Augen,
um zu genießen und sich nicht von störenden Einflüssen ablenken zu lassen. Das soll nun
aber nicht heißen, dass ich die erotischen Schwingungen, die durch das Sehen ermöglicht
werden, nicht vermisse. Ich war als Sehende sehr fixiert auf optische Reize und es gab für mich
kaum etwas Intensiveres, als einem Mann tief in die Augen zu schauen, ihm auf den Po zu starren
oder seine Bewegungen zu beobachten, wenn er lasziv auf der Tanzfläche in die Musik versank
oder in sein Auto stieg, sich eine Zigarette anzündete oder mir lächelnd zuwinkte.
Aber wenn sich die Augen verschließen, öffnen sich die Pforten des Unsichtbaren und wer sie
durchschreitet kann atemberaubende Eindrücke gewinnen. Dahinter ist auch die Erotikbranche
gekommen und zahlreiche Stories und Kataloginhalte ranken sich um "Spielarten", in
denen verbundene Augen als ein reizvoller Zustand beschrieben werden. Im wahren Alltag will jedoch
keiner von den Experimentierfreudigen blind sein.
Ich muss zugeben, dass ein optischer Eindruck nicht mit Hilfe des Tast-, Hör-, Geruchs- oder
Geschmacksinns zu ersetzen ist. In meiner Veranstaltungsreihe "Menschen ohne
Gesichter" konfrontierte ich meine sehenden Teilnehmer unter der Augenbinde mit ihnen
unbekannten Personen. Sie durften mit diesen Personen reden, deren Händedruck
erspüren und deren Gangart erlauschen. Die Teilnehmer waren nach dem Ablegen ihrer
Augenbinden hochgradig überrascht, da sie sich die vorher unsichtbaren
Gesprächspartner vollkommen anders vorgestellt hatten. So ist auch mein Bild manchmal sehr
verzerrt, wenn ich von einem Menschen nur seine Worte, eine Hand und ein Stück Jackett
ärmel, den Klang seiner Schuhe und die Sorte seines Parfüms kenne.
Ich unterhielt mich einmal in einem Lokal eine gute halbe Stunde lang mit einem sehr imponierenden
Mann, dessen Stimme und Intellekt mir einen Typen suggerierten, den ich mir wie einen Banker
vorstellte. Nach unserem Gespräch erfuhr ich, dass es ein Transvestit war. Das erklärte
dann auch die Stöckelschuhe, die mich in seinem Zusammenhang etwas irritiert hatten. Wenn
ich jemanden menschlich interessant finde, ist die Optik zweitrangig. Wer mich mit seiner
Ausstrahlung für sich gewinnt, könnte im Grunde nackt und mit nichts als einer Pappnase
und grünen Schwimmflossen bekleidet vor mir stehen, ich würde ihn ebenso ernst
nehmen, wie im edelsten Designerzwirn. Andersherum kann mich eine Person mit einer unattraktiven
Aura wenig beeindrucken, auch wenn sie optisch bewertet der absolute "Hingucker"
wäre. Dieses Phänomen kann man sich zunutze machen.
Aufgesetzte Autoritäten z. B. haben nur eine sehr schwache Wirkung auf mich, da ich ihr
Schlips-und-Kragen-Selbstbewusstsein mit Möchtegern-Attitüde nicht wahrnehme. Ich
erkenne nur das, was sie wirklich sind, ohne ihre optische Verkleidung. Während andere vor
Ehrfurcht erstarren, amüsieren mich oft die hinter der Maske steckenden lispelnden und
stotternden Stimmchen und die nervös am Schlüsselbund nestelnden Finger. Das wirkt
dann alles andere als autoritär und prominent. Solche Leute stelle ich mir dann eher in befleckter
Feinripp-Unterwäsche vor als in "Dolce Gabbana".
Manchmal kann ich hören, ob jemand groß oder klein ist, das verrät die Höhe aus
der er spricht. So kam es aber auch schon vor, dass ich einen sehr kleinen Mann für einen
Sitzenden hielt und bei einem sehr großen vermutete, er stünde auf einer Empore. Nicht selten
kann ich auch eine Information über die Körperfülle meines Gegenübers
erlangen. Ist jemand sehr beleibt, höre ich das unter Umständen an seiner Atmung, am
schwerfälligen Gang oder spüre es beim zufälligen Anstoßen.
Auch Kleidungsstücke können etwas über einen Mitmenschen verraten, wenn sie
hörbar sind. Cordhosen oder Lederjacken beispielsweise, kann man zum Teil
heraushören.
Die wenigsten blinden Leute stürzen sich mit den Fingern ins Gesicht ihres Tischnachbarn, um
sich ein Bild von ihm zu machen. Ich betaste äußerst selten das Antlitz meiner Mitmenschen,
denn auch ich habe Berührungsängste, wenn es um das Überschreiten von
Distanzzonen geht. Bei manchen Leuten interessiert mich das Aussehen auch weniger, verlockende
Angebote lehne ich allerdings ungern ab. Der erste Mann, dessen Gesicht ich intensiv ertastete, hatte
die Initiative selbst übernommen. Es war der Sänger einer amerikanischen Gothic-Band
(ein absoluter Megaschnuckel) und er zeigte meinen Händen auf einer kuscheligen Couch im
Backstage-Bereich Details, von denen ich nicht mal zu träumen wagte. Nein lieber Leser, nicht
was du jetzt denkst … Ich rede von Lippen, Händen, Wangenknochen und Augenbrauen, Stirn
und Nase, Hals und Ohren, Schmuck und Haaren.
Sehr aussagekräftig sind Umarmungen für mich. Hat der Süße lange Haare, fallen
sie auf meine Schulter, sind sie kurz geschoren, kratzen sie eventuell an meiner Wange entlang,
trägt er Ohrringe, spüre ich den kühlen Schmuck unter Umständen auf meiner
Haut, ist er schlank, fühle ich mit meinen Händen seine Rippen.
Da ich mich in der Öffentlichkeit hin und wieder von Männern führen lasse,
verrät mir schon der Oberarm, an dem ich mich festhalte, wie ich mir das Kerlchen, das dran
befestigt ist, körperlich vorstellen muss. Natürlich können all diese Details nur
Puzzleteile sein und nicht selten bleibt mein Gegenüber ein großes optisches Geheimnis
für mich. Aber die Attribute, die ich von ihm kenne, wirken umso intensiver. Viele Dinge muss ich
im Nachhinein bei meiner Begleitperson erfragen, welche sich für mich immer alles ganz genau
einprägen muss. Gute Freunde checken schon vorher sehr genau, was ich hinterher wissen will.
Häufig verrät mir eine meiner neuen männlichen Bekanntschaften jedoch von ganz
allein etwas über das eigene Aussehen und ich kann aus gemeinsamen Gesprächen
vielfältige Informationen über Stil und Auftreten gewinnen.
Einige Menschen wären sehr beunruhigt, wenn sie wüssten, wie viel ich über sie
weiß. Wenn ich eine Person interessant finde, lasse ich sie mir häufig von so vielen Leuten
beschreiben, bis ich mehr über sie sagen kann als ein Sehender. Beschreiben kann allerdings
nicht jeder und objektiv schon gar nicht. Aber es gibt Wortkünstler auf dem Gebiet der
Wiedergabe optischer Eindrücke. Diese Menschen zeichnen dann ein lebendiges
Gemälde in meinen Kopf, denn sie kennen meine Sprache und finden die richtigen
Bezeichnungen.
Kürzlich erlag ein sehender Mann dem Irrglauben, ich könne sein Gesicht ohne große
Probleme mit Ton nachformen, weil ich ja blind bin und Blinde können so was. Weit gefehlt, das
können sie leider nicht. Ein ertastetes Gesicht vermittelt einen total anderen Eindruck als ein
gesehenes. So kann z. B. eine Nase im Dunkeln überdimensional groß wirken, passt aber bei
Licht ganz gut zum Rest des Gesichtes. Haut kann sich sehr porös und unrein anfühlen,
kann aber gesehen sehr ebenmäßig wirken.
Es gibt also einen tatsächlichen Widerspruch zwischen Gefühltem und Gesehenem. So
kann z. B. ein Bauch übertrieben dick wirken, wenn man ihn fühlt, auch wenn er sich
für das Auge unauffällig in den Rest des Körperschemas einfügt. Die haptische
Erfassung eines Menschen ist nicht mit der optischen zu vergleichen. Optimal ist immer die
Kombination aus beidem. Das gelang mir bei meinem ehemaligen Partner ganz gut. Ihn hatte ich
sehend kennen gelernt und nachdem ich erblindet war, verknüpfte ich meine optischen
Erinnerungen an ihn mit meinen noch bleibenden Sinneseindrücken. Ich wusste auch genau,
wie er in welcher Situation schaut, wie er sich gebärdet, welchen Bewegungsablauf er
ausführt. Ich kannte ja noch jeden seiner körpersprachlichen Ausdrücke. So
würde es dir auch gehen, lieber Leser. Du hast ja abends im Schlafzimmer auch nicht immer die
volle Festbeleuchtung an und weißt auch in finsterer Nacht noch, wie dein Partner aussieht, weil du
seine visuelle Erscheinung innerlich abgespeichert hast.
Nach Jahren der Blindheit würde dein Bild vermutlich verblassen oder in deinem Kopf
würde dein Schatz vielleicht noch so faltenfrei aussehen wie damals, aber deine
Vorstellungskraft wird sich in jedem Fall an das klammern, was du einst sehend wahrnahmst.
Ein erblindeter Projektpartner erzählte mir einmal, dass er während der Petticoat-Zeit sein
Augenlicht verlor und dass in seiner Vorstellung noch heute die jungen Mädels wie einst in
Petticoats herumlaufen. Andere Outfits junger Mädchen sind ihm ja optisch nie bewusst
geworden.
Auch geburtsblinde Menschen haben eine Vorstellung von der "Beschaffenheit" ihres
Partners. Jeder ist anders veranlagt und hat einen anderen Fetisch, wird auf dies oder das achten,
genau wie es auch Sehende tun. So wird es blind geborene Männer geben, die auf zierliche,
knabenhafte Frauen stehen, oder andere, die auf gut gepolsterte üppige Damen abfahren,
einige schwören auf kurze, andere auf lange Haare, die einen auf rauchige Stimmen und andere
auf mädchenhafte. Ich selbst kann mir übrigens keinen Blinden als Partner vorstellen.
Natürlich könnte er mich besser verstehen als jeder Sehende, jedenfalls was unser
gemeinsames Handicap betrifft, aber ich weiß es zu schätzen, hin und wieder einen
Augennutzer zur Hand zu haben. Würde ich mich in einen Blinden verlieben, wäre das
auch o.k., da ich aber an jenen Betroffenen die selben Unsicherheiten erkenne, die ich an mir selbst
nicht leiden kann, wirken blinde Männer auf mich oft weniger erotisch als sehende.
Sehen hat für mich etwas sehr Reizvolles und ich finde es total faszinierend zu wissen, dass
mich ein Typ mit seinen Augen anschaut. Die Hand voll blinder Männer, die ich im Laufe meines
Lebens an meiner Seite wähnte, mögen mir diese Erkenntnis verzeihen.
Nun stünde noch die Frage im Raum, ob der sehende Partner über Trennung nachdenkt,
wenn seine bessere Hälfte im Laufe der Beziehung erblindet. Mein damaliger Freund hat das
nicht getan. Ich allerdings zog es schon eher in Erwägung. Anfangs ertrug ich die Tatsache nur
schwer, dass er mir all das vorlebte, was ich aufgeben musste. Er sah die Welt, die anderen Leute,
Schaufenster, Bilder, Filme, Zeitschriften … Alles, woran ich hing, verschwand vor meinen Augen. Ich
war es gewohnt, sehr frei zu sein, und ertrug keine unterwürfige Abhängigkeit. Meine
eigenwillige Persönlichkeit musste sich jedoch den Gesetzen der Blindheit unterordnen. Ich
wollte nicht schwach sein, mir gegenüber und meinem Freund gegenüber. Die Menschen
in unserem Umfeld sahen meist nur, dass sich der Sehende furchtbar rührend um die
Erblindende kümmert, aber kaum jemand erkannte, was ich leistete, was ich für ihn tat,
dass ich noch ein vollwertiger Mensch war. Ich kam mir oft vor wie ein Püppchen ohne Augen,
das man dekorativ herumführen konnte, dem man aber außer "Püppchen sein"
nichts zutraute. Einige glaubten sogar, mein Partner habe mich angezogen, frisiert und geschminkt.
Dabei war ich eine studierte selbstbestimmte Frau mit einem hohen Anspruch an das Leben. Das war
mir aber nicht auf die Stirn geschrieben. Man sah eben nur, dass mir mein Schatz liebevoll das Essen
auf den Teller drapierte und mir einen Fleck aus der Hose schrubbte, wenn ich mich mal irgendwie
bekleckerte. Ich war oft sehr verärgert, da unsere Bekannten stets ihm von weitem zuwinkten
und ich immer wie klein Dummchen nachfragen musste, wer das denn war. In mir entstand das
Gefühl, dass er meine Sozialkontakte bestimmte, mich dahin setzte, wo er wollte, und mich
reden ließ, mit wem er wollte. Diese Unterstellungen tun mir im Nachhinein sehr leid, denn er hat mich
nie bewusst verletzen wollen. Meine Bekannten redeten dann häufig mit ihm statt mit mir, da er
ja sehen konnte. Das machte mich traurig, denn er hatte bestimmte Kontakte nur durch mich
knüpfen können und nun nahm er mir meine Kommunikation weg. Jedenfalls empfand ich
das so. Aus heutiger Sicht bin ich ihm für viele Dinge unbeschreiblich dankbar. Wir haben uns
gegenseitig aus unseren "Gefühlstälern" geholfen und wissen es beide zu
schätzen. Ich erinnere mich gern an unsere gemeinsamen Ausflüge. Er zeigte meinen
Händen unzählige schöne Dinge und scheute sich nicht davor, mir Menschen und
Bauwerke zu beschreiben, mir die gesamte Schmuckabteilung zu erläutern, dutzende
Kleiderstangen nach meiner Größe zu durchwühlen oder mir im Restaurante die 20-seitige
Speisekarte dreimal in Folge vorzulesen. Überhaupt las er viel vor, wir statteten gemeinsam
meine CD-Sammlung und meine Teesorten mit Punktschriftmarkierungen aus und übten mit mir
das blinde Kochen. Wir waren in fast jeder Hinsicht ein eingespieltes Team und wenn wir gemeinsam
unterwegs waren, reichten kleinste Impulse von ihm, und ich wusste, dass eine Treppe vor uns lag
oder dass ein Passant im Weg stand. Unzufrieden war ich immer dann, wenn er auf das negative
Verhalten der Leute aggressiv reagierte. Ich wollte mir selber aussuchen, wie ich einen Konflikt
handhabte, und er brachte mich aufgrund seiner aufbrausenden Art oft in eine unangenehme Lage.
Ich hoffte immer, die Situation harmonisch regeln zu können. Wenn ein Sehender dafür
Respekt bekommt, dass er seinen blinden Partner nicht verlassen hat, dann sollte dem blinden aber
der gleiche Respekt gebühren.
Auch ein Sehender hat Besonderheiten, die der Blinde tolerieren muss, und es ist häufig
anstrengend, mit einem Augennutzer zusammen zu sein. Augennutzer reden über unsichtbare
Dinge, verstellen Gegenstände, bringen überhaupt hin und wieder die gesamte Ordnung
durcheinander, können nicht im Dunkeln arbeiten und leben in einer völlig anderen
Wahrnehmung mit anderen Prioritäten. "Die Sehenden sind taub in den Augen der
Blinden" (Tom Manegold). Ein "Gucki" ist eben auch behindert auf seine Art. Somit
ist die Beziehung für beide Seiten eine Herausforderung, kann auf beiden Seiten zu Problemen
führen, aber auch eine wertvolle gegenseitige Ergänzung darstellen.
Ja, lieber Leser, jetzt nehme ich einen großen Schluck Wein, denn der folgende Programmpunkt trifft
einen sehr wunden Punkt. Wir sind beim Helferkomplex angelangt, welcher einem nicht behinderten
Partner ja gern einmal unterstellt wird. Und so erging es auch meinem aktuellen, wie nennt man das,
Lebensabschnittsgefährten. Man trug besorgt die Überlegung an ihn heran, dass er ja
bekannt für sein Helfersyndrom sei. Ich werde dabei komplett gering geschätzt, denn ich
werde vermutlich von manchen Leuten als personifizierte Behinderung wahrgenommen. Man reduziert
mich auf meine Blindheit, ohne meine darüber hinausgehenden Eigenschaften überhaupt
erst zu sehen. Es spielt für diese Engstirnigen dabei keine Rolle, wie ich mein Leben meistere,
ob ich erfolgreich bin, einen gewissen Intellekt besitze, vielleicht auch ganz annehmbar aussehe und
in der ein oder anderen Hinsicht auch für einen Sehenden eine Bereicherung sein kann. Man
kürt den Sehenden zum heiligen Samariter und dabei wird mir mehr als nur ein wenig schlecht
(und das liegt nicht am Wein). Ein Partner, der mir auch nur ansatzweise vermittelt, dass ich ja froh
sein könne, dass er sich um mich kümmert, der kann auf der Stelle den Abflug machen.
Ich weiß, wer ich bin, und ich weiß, was ich kann, und ich brauche keine Almosen. Natürlich
lässt sich nicht leugnen, dass eine solche Beziehung auf eine besondere Weise geprägt
ist. Einige Dinge sind mit Sicherheit für beide komplizierter, aufwändiger, anstrengender,
aber in einer anderen Hinsicht wieder wesentlich intensiver und wertvoller, eben bereichernd.
Ich selbst habe immer den Kontakt zu Menschen gesucht, die anders sind, die Ecken und Kanten
haben, die mich inspirieren. Ein Sehender ist nicht automatisch perfekt und unbehindert, nur weil er in
der Lage ist, visuell wahrzunehmen. Keiner meiner Partner kann von sich behaupten, ein geschliffener
Diamant gewesen zu sein, und das ist gut so. Geben und Nehmen sollte in einem gesunden
Verhältnis stehen. Ich kann auf keinen Fall für meinen Freund sprechen und werde seine
Sicht der Dinge an dieser Stelle nicht darstellen können. Er wird es wahrscheinlich hin und
wieder schon etwas hinderlich finden, dass er mit mir weniger flexibel sein kann, dass viele Dinge
eben geplant und geordnet sein müssen und dass er in bestimmten Situationen die
Verantwortung für meine Sicherheit übernehmen muss. Aber in sehenden Partnerschaften
muss es auch Absprachen geben, muss man aufeinander eingehen und kompromissbereit sein, egal
aus welchen Gründen dies im Einzelfall erforderlich ist. Die anfangs besonderen
Umstände normieren sich und sind irgendwann eben ganz selbstverständlich so wie sie
sind. Wäre das nicht so, würde kaum eine zwischenmenschliche Beziehung über
längere Zeit bestehen können.
Es ist schon spät geworden, geschätzter Gast. Langsam werde ich müde. Aber da ist
noch diese eine Antwort, die ich dir nicht vorenthalten möchte. Du willst wissen, wie er nun
aussieht, mein ultimativer Traummann. Ich muss dir sagen, dass es zahlreiche faszinierende
Eigenschaften gibt, die einen Mann interessant machen können und ich möchte fast
behaupten, dass ich seit meiner Erblindung sensiblere Antennen für diese Eigenschaften
ausgebildet habe. Es muss eine Schwingung entstehen, und egal, welches Bild eines Traummanns
ich mir in den Kopf gebrannt habe, es kann sein, dass der Typ, in den ich mich verliebe, rein gar nichts
mit diesem Bild zu tun hat. Grundsätzlich stehe ich auf große, schlanke, dunkelhaarige Jungs
mit tiefer Stimme, langen Wimpern, schönen Händen, großen Nasen und sinnlichen
Lippen. Extravagante Frisuren und Outfits, die sich irgendwo zwischen Grufti und Punk bewegen, sind
immer spannend. Stilvolle Männer imponieren mir. Dabei geht es nicht um Schönheit, wie
sie die Allgemeinheit versteht, sondern um Faszination an leicht morbiden Akzenten. Feminin
wirkende Männer mit fragiler Ausstrahlung find ich sehr anziehend. Schmuck ist schnuckelig,
egal wo und wie viel. Aber auch der sportlich-maskuline Militärtyp mit raspelkurzen Haaren ist
nicht uninteressant. Schnürstiefel und schmal geschnittene Hosen, die fast über die
Hüftknochen rutschen, find ich schick, ebenso wie enge Longsleeves und Lederjacken, alles in
schwarz, wenn’s geht. Jugendliche eher schmächtig-knabenhafte Exemplare können
ebenso lecker sein wie gestandene Männer. Intelligenz ist ein unschlagbarer Erotikfaktor.
Animalisch riechen sollte der Auserkorene möglichst auch nicht. Meine Nase ist extrem sensibel
und manche Gerüche können den bezauberndsten Prinzen zu einem hässlichen
Monster mutieren lassen. Zu viel künstlich aufgetragener Duft aus dem Parfümregal
überwältigt allerdings auch eher im negativen Sinne.
Olfaktorisch lecker find ich irgendwas zwischen Weichspülerduft, Kaffee davor und Zigarette
danach, Lederjacke und einem Hauch von Bruno Banani. Und wer hätte es gedacht,
ausgerechnet für mich sind die Augen eines Mannes wohl fast das wichtigste Attribut. Nicht nur
Form und Farbe sind entscheidend, sondern auch das, was sein Besitzer damit ausdrückt.
Über die Augenfarbe kann ich mich informieren und sie mir vorstellen, die Form kann ich
ertasten, die Art der Blicke erahnen. Kenne ich die Verhaltensweisen eines Menschen und die taktilen
Eigenschaften seines Augenbereiches (Augenbrauen, Wimpern, Lider, Kontur und Einbettung), kann
ich in meiner Fantasie darauf schließen, wie er vermutlich mit seinen Blicken arbeitet. Und du, lieber
Leser, solltest du aussehen wie eine Mischung aus Marilyn Manson, Ville Valo und Bill Kaulitz, dann
bleib heute Nacht bei mir. Solltest du nicht so aussehen aber trotzdem ein Mann sein, dann schmeiß
ich dich jetzt raus. Bist du eine Frau, kannst du gern noch ein Stündchen sitzen bleiben und bei
einer zweiten Flasche Wein noch ein wenig mit mir über Männer plaudern …