Als ich 2014 für die Sendung "Selbstbestimmt!" ein Interview mit Gustl Mollath führte, der ganze sieben Jahre unschuldig in der Psychiatrie festgehalten wurde, ahnte ich noch nicht, dass ich als Inklusionsbotschafterin einmal mit einem ganz anderen Problem konfrontiert sein würde: mit Menschen, die nicht in die Psychiatrie hineingelassen werden. Warum? Weil sie eine zusätzliche Behinderung haben, mit der man sich innerhalb der Einrichtung überfordert sieht: aus Personalmangel, aus mangelnder Kompetenz (Berührungsängste) oder aufgrund mangelnder Therapieangebote. So fallen etwa bei Blindheit visuelle Methoden und Informationen aus und die Therapien erfordern ein anderes Herangehen.
Wozu noch ein Artikel zum Thema, obwohl ich doch schon mit dem Beitrag "Inklusion trifft Depression" Anstöße zu diesem Schwerpunkt gab? Da er bei relevanten Tagungen bislang unbesprochen blieb. Sehr interessiert und aufmerksam las ich die Dokumentation der ISL zum Symposium auf dem WPA. Vielen Dank allen Aktiven für das Engagement! Ich wünsche mir, zukünftig auch den Schwerpunkt "Psychiatrie und Menschen mit Behinderungen" vertreten zu sehen, wenn also zusätzlich zur psychiatrischen Diagnose eine weitere Behinderung vorliegt, die dazu führt, dass eine angemessene therapeutische Unterstützung in einer Tagesklinik oder offenen Station abgelehnt oder unzureichend umgesetzt wird. Die Teilhabe an notwendiger medizinischer und therapeutischer Versorgung sollte auch vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention neu argumentiert werden. Ein eigentlich längst bestehendes Wunsch- und Wahlrecht ist hier oft gar nicht erst gegeben. Eine Mitaufnahme einer Begleitperson in diesem Kontext ist nicht immer sinnvoll oder realisierbar, da sich Betroffene innerhalb der Therapien möglicherweise von konfliktverursachenden Angehörigen distanzieren möchten, eine vertraute Begleitung nicht über Wochen oder Monate rund um die Uhr innerhalb eines Klinikaufenthalts zur Verfügung stehen kann oder sich andere Patienten durch die Begleitperson in den Therapiestunden gestört fühlen.
Selbst in Einrichtungen, die "den Versuch wagen", und eine behinderte Person aufnehmen, scheiden sich manchmal die "Geister" innerhalb des Teams. Ein Teil öffnet sich inklusiven Konzepten und findet kreative Lösungen, ein Teil sperrt sich und lässt Patienten mit "unbequemer" Behinderung innerhalb wichtiger Hilfsangebote gar nicht erst zu. Leitlinien und Verfahrensanweisungen als Standards, aber auch Weiterbildungen zur Überwindung von Vorurteilen und Kommunikationshemmungen wären hier sehr wichtig. Therapiepläne müssen bei Menschen mit Sinnesbehinderung oder Lernschwierigkeiten entsprechend angepasst werden. Taktile oder akustische Orientierungshilfen, feste Ansprechpartner für den behinderten Patienten, generelle Barrierefreiheit, dies sind leider noch Türschließer, schon beim Erstgespräch am Telefon. Sie lösen oft regelrechte Panik bei Pflegenden oder Therapeuten aus.
Zum "Schutz" geschützter Stationen darf ich sagen, dass es hier keine mir bekannten Ablehnungserfahrungen gibt. Absurderweise sind also die "Geschlosseneren" die Offeneren, was Patienten mit zusätzlichen Behinderungen betrifft. Die Hürde, sich in eine geschützte Klinik zu begeben, liegt allerdings sehr hoch. Grundsätzlich gilt zudem in der psychiatrischen Versorgung der durchaus sinnvolle Grundsatz "ambulant vor stationär" und dies sollte auch für Patienten mit Behinderung angestrebt werden. Ich möchte Betroffene in Notlagen ausschließlich dann zur Aufnahme in eine geschützte Station ermutigen, wenn die Auseinandersetzung mit einer Tagesklinik oder einer offenen Station, die sich bestimmten Behinderungen nicht öffnet, sehr aufreibend ist und zur Verstärkung des psychischen Leidens führt. Auch können die geschützten Stationen den Weg zu einer offenen Station innerhalb eines Klinik-Komplexes bahnen, der Betroffene ist somit schon bekannt und die Kommunikation wird "hoffentlich" in seinem Interesse intern geregelt.
Nochmals mein Aufruf an alle Engagierten: Was können wir tun, damit Patienten mit Behinderungen von offenen Kliniken (auch Rehakliniken anderer Fachgebiete, etwa Orthopädie oder Herzerkrankungen) nicht abgewiesen oder unzureichend behandelt werden, weil man sich dort zwar in der jeweiligen Kernkompetenz, nicht aber mit zusätzlichen Behinderungen auskennt? Eine solche Zurückweisung kann bei psychischen Belastungen im schlimmsten Fall zu einem Suizid führen. Patienten mit Behinderung sind keine Patienten zweiter Klasse und Personal und Therapieangebote sollten auch ihnen zur Verfügung stehen, selbstverständlich zu zumutbaren Bedingungen auch für das Personal. Diese Bedingungen müssen geschaffen werden! Das allgemeine Psychiatriewesen fühlt sich für den Doppel-Whopper "Psyche und Behinderung" nicht zuständig, obwohl auch Menschen mit Behinderung in eine psychische Notlage geraten können. Wo die einen mehr oder weniger hineingezwungen werden, werden die anderen gar nicht erst aufgenommen. Das ist wahrlich "verrückt". Abgelehnt haben Einrichtungen auch großer Träger wie der AWO oder der Diakonie, verschiedene Universitätskliniken zeigten sich sehr befangen und weniger "schön" präsentierten sich bspw. die Schön-Kliniken, um nur einige zu nennen.
Wer ist nun aber bei all den Unzuständigen zuständig? Leider bin ich von zahlreichen Ansprechpartnern auf Allgemeinplätzen zurückgelassen worden, die keinem Ratsuchenden mit Behinderung an der Basis helfen.
Es ist unverantwortlich, dass bestimmte Personengruppen ungehört bleiben, weil sie keine Lobby haben, weil sie doppelt geschwächt sind und sich nicht äußern können. Dabei ist diese Doppelbelastung besonders erheblich für Betroffene. Es liegt nahe, dass man gerade in den ersten Phasen der Behinderungsverarbeitung in eine psychische Krise geraten kann (nicht muss). Zu den sieben Phasen der Behinderungsverarbeitung (Hinter den sieben Bergen) veröffentlichte ich ebenfalls bei "Kobinet" einen Beitrag. Besonders die dritte Phase, das Aufbrechen der Gefühle, kann von Gedanken wie: "das Leben ist so nicht mehr lebenswert, ich will mit dieser Behinderung keinem zur Last fallen, da kann ich mir gleich den Strick nehmen" geprägt sein. Sucht und Suizidgedanken sind hier nicht selten und psychologische und psychiatrische Hilfe muss greifen, wenn sie erforderlich ist. Eine Ablehnung oder unbeholfenes Verhalten des Klinikpersonals können die selbstablehnenden Gedanken Betroffener noch verstärken. Auch unabhängig von der Behinderungsverarbeitung/Krankheitsverarbeitung kann ein Mensch mit Behinderung in eine Krise geraten, etwa durch Mobbing am Arbeitsplatz oder den Verlust eines geliebten Menschen. Auch hier können Rat und Hilfe erforderlich werden und Kompetenzen müssen rasch greifen, auch in Wohnortnähe/Gemeindenähe der Betroffenen. Barrierefreie Kliniken (wenn überhaupt vorhanden) liegen manchmal einige Bundesländer weit vom vertrauten Umfeld entfernt und lösen den Hilfesuchenden von seinen Bezugspersonen und Sicherheiten.
Die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die zusätzlich von einer Behinderung betroffen sind, sind mir wichtige Anliegen. Um diesen Diskurs weiter anzustoßen, werde ich bei "Outbird" einen literarischen Text zu diesem Thema veröffentlichen, ein kritisches Psychiatriemärchen, denn manchmal sind Kunst und Literatur schneller als Institutionen und Gesetze! Ich danke allen Mitstreitern, Ärzten, Therapeuten, Pflegenden und Akteuren, die weibliche Form sei stets eingeschlossen, die sich bereits für die Inklusion geöffnet haben. Da sind tolle Leute unter euch und die brauchen wir!