Hier für die Neugierigen, die schon ganz ungeduldig durch’s Schlüsselloch schauen, eine erste Kostprobe zum aktuellen Buchprojekt "Hinter Aphrodites Augen":
Die Blinde
"Ich hörte Dinge, die nicht hörbar sind:
die Zeit, die über meine Haare floss,
die Stille, die in zarten Gläsern klang, -
und fühlte: nah bei meinen Händen ging
der Atem einer großen weißen Rose."
Rainer Maria Rilke
Der Blindheitsbegriff im Allgemeinen kommt oft etwas leidenschaftslos daher. Er wird nicht selten mit der Karikatur eines gebeugten alten Mannes verknüpft, die schwarze Sonnenbrille und den weißen Krückstock nicht zu vergessen. Der einzige Farbtupfer scheint die gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten zu sein. Modisch ganz schön gewagt, oder?
Darüber hinaus wirkt das Blindheitsthema ein wenig wie aus Plastik. Wer etwas tiefer in die Materie eintaucht, assoziiert es mit Punktschriftmaschinen und synthetischen Computerstimmen, mit Schulungen in lebenspraktischen Fertigkeiten oder Mobilitäts- und Orientierungstrainings. Das klingt wichtig, ist es auch, aber duftet irgendwie nicht wirklich nach der weißen Rose, welche Rilke in seinem Werk "Die Blinde" versinnbildlicht.
Auf der zwischenmenschlichen Ebene wird Blindheit häufig als bedauernswerter Zustand empfunden, welcher mit Gestraftheit, Hilflosigkeit und Vereinsamung einhergeht. Nicht selten erfüllt ein blinder Mensch auch die Rolle des befremdlichen Außenseiters, dessen Lebensführung ein unerforschtes Mysterium zu sein scheint. Auch kein Charisma, was besonders verlockend anmutet.
Dabei kann Blindheit ausgesprochen ästhetisch, attraktiv, sinnlich, schillernd, spannend, leidenschaftlich, genussorientiert und weiblich sein. Ich muss das wissen, denn ich bin blind und ich bin eine Frau.
Als ich noch sehend war und blinden Frauen begegnete fragte ich mich oft, wie wohl "hinter" ihren Augen die Schönheit aussehen möge. Ich entwickelte eine große Angst vor meiner bevorstehenden Erblindung, da Schönheit für mich ausschließlich optisch wahrnehmbar schien. Schließlich gelang es mir zunehmend, meine Blindheit und mein Frausein miteinander zu vereinbaren.
Im Rahmen meiner sozialpädagogischen Beratungstätigkeit am Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte in Halle wurde mir bewusst, dass sich auch andere erblindende Frauen mit dem Verlust ihres Augenlichts um ihre Definition von Schönheit beraubt fühlten. Oft hängt die eigene Tagesform davon ab, ob Frau sich im Spiegel gefällt. Gefällt sie sich gut, geht sie selbstbewusst und im Einklang mit sich und der Welt auf ihre Mitmenschen zu. Sitzen der Rock oder die Bluse, der Lidstrich oder die Frisur nicht perfekt, wird sie unsicher und gebärdet sich auch so. Der Spiegel dient der Korrektur optischer Unzulänglichkeiten und gleicht dass innere und äußere Selbstbild aufeinander ab. Aber was ist eine Frau ohne ihr Spiegelbild? Keine Frau mehr?
Abgesehen davon, dass Frau befürchtet, durch ihr Handicap die eigene Weiblichkeit zu verlieren, wird sie auch von ihrer Umwelt plötzlich als Neutrum wahrgenommen. Ein Behinderten-WC ist schließlich "unisex", da gibt es kein männlich und weiblich mehr, oder? Frau fürchtet nun, auf ihre Blindheit reduziert zu werden. Die Leute reden nicht mehr über "die Temperamentvolle", "die Gutaussehende" oder "die Erfolgreiche", sondern über "die Blinde".
Blind geborene Frauen erleben diesen Identitätswandel nicht, da sie nicht zwischen den Welten switchten. Nun lässt sich darüber streiten, ob das ein Vor- oder Nachteil ist. Auch wenn sich die kognitiven Voraussetzungen beider Personengruppen unterscheiden, sind sie in ihrer unterschiedlichen Färbung doch gleichermaßen ernst zu nehmen. Eine spät erblindete Frau ist sich sehr bewusst darüber, was sie verloren hat. Eine geburtsblinde Frau hingegen kann nicht auf optische Erinnerungen zurückgreifen und empfindet dies nicht selten als Manko. Ich begleitete zahlreiche Körpersprachekurse für blinde und erblindete Betroffene sozialpädagogisch und thematisierte mit den Teilnehmerinnen die Bedeutung nonverbaler Botschaften in der sehenden Welt. Die eigene Haltung, die Gangart, der Gesichtsausdruck, die Kleidung, die Figur, die Frisur, die Art sich zu schminken und die daraus resultierende Ausstrahlung bestimmen dabei die Außenwirkung einer jeden Frau.
Im vorliegenden Buch haben sich sowohl geburtsblinde als auch spät erblindete Frauen ihrem ganz persönlichen Schönheitsempfinden gestellt. Einige unter ihnen fanden durch die intensive emotionale Auseinandersetzung mit ihrem Textbeitrag erstmals einen Zugang zu ihren verdrängten Ängsten und Bedürfnissen. Ich bin sehr dankbar für diese offene Auseinandersetzung. Insgesamt 21 blinde Frauen zwischen 20 und 66 Jahren aus ganz Deutschland, aus der Schweiz, aus Österreich, aus Dänemark, aus Norwegen und aus England fanden den Mut zu ihrer eigenen und einzigartigen Weiblichkeit. Wobei sich hier die Frage stellt, ob Blindheit angesichts des multimedialen Blendwerks der heutigen Gesellschaft nicht sogar einen tiefgründigeren und wahrhaftigeren Zugang zur eigenen Schönheit zulässt. Nicht zuletzt besteht der Auftrag dieses Buches darin, dem Leser genau diese Kontroverse bewusst zu machen.
Innerhalb meiner Öffentlichkeitsarbeit lege ich großen Wert darauf, Integration durch Kommunikation und schließlich auch Kommunikation durch Integration zu fördern. Sozialer Umgang bedeutet nicht, einander sozial zu umgehen. Ich sehe mich als Mediatorin zwischen blinden und sehenden Menschen und möchte dabei helfen, Vorurteile und Berührungsängste auf beiden Seiten abzubauen. Die Autorinnen dieses Buches haben es geschafft, sich nicht nur sich selbst, sondern auch der Öffentlichkeit zu stellen. Dafür verdienen sie meinen Respekt und meine Wertschätzung. Die Aussage einer erblindeten Rehabilitationsteilnehmerin wurde zum gemeinsamen Motto: "Wir werden den Blindenstock salonfähig machen!". (Marlis Reinhardt)
Da der Charme jeder einzelnen Autorin erhalten bleiben soll, wurden die Textbeiträge stilistisch nicht verändert. Es blieb den Mitwirkenden selbst überlassen, welche Informationen sie über sich preisgeben und auf welche Weise sie sich einbringen wollten, ob autobiografisch, lyrisch oder mit einem Foto. Dabei geht es in erster Linie um authentisches Schreiben und weniger um einen schriftstellerischen Anspruch. Auf Wunsch unterstützte ich einige Autorinnen bei der Entwicklung und Erstellung ihres Textes. Jedem Beitrag folgt die Vita der jeweiligen blinden Autorin. Diese Reihenfolge lässt zunächst die Texte und Fotografien selbstredend wirken. So wird ein unvoreingenommeneres Entdecken und Annähern möglich.
Natürlich sind auch Sehende in diesem Buch willkommene Gäste, sowohl als Autorinnen und Autoren, als auch als Leserinnen und Leser. Interessierte haben auf dem Weg durch dieses Gesamtwerk die Möglichkeit eine Imageberatung zu erleben, einen Gesichtsdiagnostiker zu besuchen, eine Klang- und Aromatherapeutin zu befragen und sich von einer Schmuckdesignerin individuelle Einzelstücke anfertigen zu lassen. Eine Kontaktaufnahme zu den im Buch vorgestellten Fachleuten bezüglich ihrer Angebote ist hier also absolut erwünscht. Am Ende des Buches bietet sich die Gelegenheit, der Journalistin und Autorin Alice schwarzer im Dialog zu begegnen. Ich möchte sie bewusst erst in zweiter Linie als Feministin ankündigen. Warum, wird sie im Interview selbst erklären.
Mir ist bewusst, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Schönheit nicht nur Frauen betrifft. So reagierten auf meine Ausschreibung zahlreiche blinde und erblindete Männer die mir berichteten, dass sie sehr darunter leiden, sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern zu können, dass sie auf der Suche nach Tricks und Kniffen sind, die ihnen eine symmetrische Rasur erlauben oder denen es sehr wichtig ist, das die Krawatte perfekt zum Jackett passt. Ich möchte die Herrenwelt sehr gern dazu ermutigen, sich ebenfalls an ein Buchprojekt zu wagen und dieses Tabuthema anzugehen. Ich wäre eine interessierte Leserin. Da ich selbst eine Frau bin und mich in meinen Büchern generell nur zu Themen äußere, von denen ich etwas verstehe, nehme ich mich diesbezüglich lieber zurück, trage ich doch seltener einen Vollbart. Meine generelle Männerfreundlichkeit möchte ich jedoch sehr gern auch in diesem Buch demonstrieren. Ich freue mich sehr, zwei Hähne im Korb zu wissen und ich hoffe, die beiden fühlen sich wohl zwischen all den schönen Frauen.
Und noch ein Wort in eigener Sache: Bereits in meinem 2008 veröffentlichten Taschenbuch "Verführung zu einem Blind Date" war es mein Anliegen, den Blindheitsbegriff zu modernisieren, ihm einen farbenfroheren Anstrich zu verleihen, ohne dabei alt Bewährtes zu verwerfen. Ich setzte mich sowohl autobiografisch, als auch sozialpädagogisch mit den am häufigsten gestellten Fragen rund um den Erblindungsprozess auseinander und nutzte dabei auch bewusst meine Weiblichkeit als gestalterisches Mittel. "Hinter Aphrodites Augen" versteht sich als Erweiterung dieser Idee. Diesmal war es mir wichtig, auch andere blinde Frauen zu Wort kommen zu lassen und ein auf allen Seiten inspirierendes Ganzes zu schaffen. Bei aller Melancholie darf Blindheit auch Spaß machen! Ja, blinde Ladys shoppen, werfen sich in Schale, flirten und definieren ihren ganz persönlichen "Blindstyle". Und nun wünsche Ich uns allen viel Spaß bei der Suche nach dem goldenen Apfel...
Jennifer Sonntag im September 2009